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BERLIN (05.11.2013) - Berliner Regierungsberater sprechen sich für die Etablierung neuer Integrations-Instrumente zur Schwächung künftiger Widerstände gegen die deutsche EU-Dominanz aus. In Europa finde derzeit "eine größere Machtumverteilung" statt, in deren Rahmen Frankreich und Großbritannien klar hinter Deutschland zurückfielen, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Schon heute komme es in Südeuropa zu heftigen Massenprotesten gegen die Diktate der Bundesregierung. Zwar hätten diese noch keine größeren Konsequenzen, doch solle man rechtzeitig einer möglichen Bildung von "Gegenmacht" vorbeugen. Die SWP-Vorschläge dazu begleiten diverse Vorstöße aus dem Berliner Establishment, die auf eine Festigung der deutschen Dominanz über die EU und auf eine offensivere Weltpolitik seitens der nächsten Bundesregierung dringen. So hat erst kürzlich der Bundespräsident zum diesjährigen Nationalfeiertag ein offensiveres deutsches Auftreten in der Weltpolitik angemahnt; die SWP plädiert energisch für eine stärkere "Führung" Berlins. Während die deutsche Dominanz über die EU heute als gegeben gilt, deuten sich Verschiebungen im Verhältnis zu einem wichtigen globalen Konkurrenten an - den Vereinigten Staaten.

Eine größere Machtumverteilung

Wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer aktuellen Stellungnahme bekräftigt, "findet in der EU gegenwärtig eine größere Machtumverteilung statt". Demnach erstarkt Berlin: "Das relative Gewicht Deutschlands nimmt zu." Zugleich fallen die europäischen Rivalen der Bundesrepublik zurück: "Frankreich und die Staaten des Südens sind stärker von der Schuldenkrise betroffen und verlieren dadurch an Einfluss." Nicht nur Paris, auch London wird der SWP zufolge strukturell schwächer: "Durch die Ausdifferenzierung der EU in einen Eurozonenkern und eine Unionsperipherie nimmt gleichzeitig die Bedeutung Großbritanniens ab, das sich letzterer zurechnet."1 Damit schließt der SWP-Autor sich dem inzwischen gängigen Urteil über die wirklichen Machtverhältnisse in der EU an.2

Eine weltpolitische Offensive

Vor dem Amtsantritt der nächsten Bundesregierung, die aller Voraussicht nach eine erdrückende Mehrheit im Bundestag wie auch in der Bevölkerung hinter sich haben wird, dringen starke Kräfte in der deutschen Hauptstadt nun auf eine neue weltpolitische Offensive. "Innerhalb und außerhalb unseres Landes" mehrten sich "Stimmen, (...) die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik" verlangten, behauptete Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede zum diesjährigen Nationalfeiertag.3 Deutschland habe heute "mehr Macht und Einfluss" als "jedes demokratische Deutschland" zuvor, heißt es in einem neuen Strategiepapier der SWP, das unter Mitwirkung hochrangiger Politiker und Ministerialbeamter, darunter der Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, verfasst wurde und derzeit offensiv zur Debatte gestellt wird. "Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen", erklären die Autoren.4 Auch wichtige Teilforderungen, die ein stärkeres globales Ausgreifen der Bundesrepublik ermöglichen sollen, werden gegenwärtig mit Nachdruck formuliert. So verlangt ein einflussreicher Mitarbeiter des Auswärtigen Amts, in der neuen Legislaturperiode müsse die Zustimmungspflicht des Bundestages bei Einsätzen deutscher Militärs eingeschränkt werden.5 Dieser Forderung haben sich inzwischen bekannte CDU-Politiker angeschlossen, darunter Verteidigungsminister Thomas de Maizière.

Ein "guter Hegemon"

Die SWP weist nun in einer aktuellen Stellungnahme darauf hin, dass die europäische Machtbasis Berlins noch nicht als zuverlässig konsolidiert gelten kann. So werde etwa "seit über drei Jahren in den Krisenländern der Eurozone gegen austeritätspolitische Maßnahmen demonstriert". Dabei gingen die Demonstranten offenbar davon aus, "dass die wichtigen Entscheidungen nicht in Athen oder Lissabon, sondern allenfalls noch in Brüssel, vor allem aber in Berlin getroffen werden". Oftmals werde dabei "an deutsche Aggressionen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts" erinnert: Es werde "die Botschaft" vermittelt, "dass die Deutschen heute mit ökonomischen Mitteln nachholen, was ihnen damals militärisch nicht gelungen ist: die Dominanz über Europa zu erringen". Bislang hätten die Proteste noch keine gravierenden Folgen hervorgebracht; Deutschland werde - diese Einschätzung bezieht sich offenbar auf Leitmedien und auf führende Politiker - "nach wie vor als vergleichsweise 'guter Hegemon' wahrgenommen".6 Doch sei dieser Zustand keineswegs stabil.

Unentbehrliche deutsche "Führung"

Tatsächlich liefern Politiker und Leitmedien aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten zur Zeit noch zuverlässig Treuebekenntnisse zur deutschen Führung ab. So hieß es kürzlich beispielsweise in der "Irish Times", die künftige Bundesregierung werde bei den Entscheidungen in der EU über mehr Macht als ihre Vorgängerin verfügen. Dies liege an Deutschlands geballter Stärke, aber auch an der Schwäche der anderen großen EU-Staaten. Das krisengeschüttelte Frankreich falle zurück. Italien müsse bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main um Hilfe betteln und habe daher in Europa "weniger Einfluss denn je". Großbritannien gehöre der Eurozone nicht an und sei mit einer Debatte über den EU-Austritt beschäftigt - der Grund dafür, dass seine Stimme in der EU "niemals weniger gehört worden sei" als heute. Deutsche "Führung" sei damit "unentbehrlich" geworden. Allerdings habe Kanzlerin Merkel bislang nicht die nötige "Führung" gezeigt; man müsse "hoffen", dass die künftige Berliner Regierungskoalition energischer durchgreife.7 Der Meinungsbeitrag wurde in dem renommierten irischen Blatt am 1. September 2013 publiziert.

Gegenmacht ist möglich

Der Autor der aktuellen SWP-Stellungnahme warnt demgegenüber, die Lage könne sich jederzeit ändern. So werde "der Widerstand gegen die wachsende deutsche Macht" wohl "zunehmen, wenn sich der Eindruck verfestigt, Berlin treffe immer mehr 'einsame' Entscheidungen für den Rest der EU". Der Autor warnt, wachsender Widerstand könne sich durchaus zu einer Art "Gegenmacht" verfestigen: "Um der Bildung von Gegenmacht vorzubeugen, sollten daher Möglichkeiten erkundet werden, wie dem Eindruck größerer Fremdbestimmung in den Partnerländern entgegengewirkt werden kann". Derlei "Bedenken vor einer deutschen Hegemonie" könne man aushebeln, indem man neue Möglichkeiten für "grenzüberschreitende Partizipation" eröffne. Der Autor spricht sich für nicht näher definierte "transnationale politische Verfahren" aus, die "auf grenzüberschreitende Beteiligung zielen" sollen: politisch wohl folgenlose Einbindungstaktiken, die geeignet sind, etwa den südlichen Eurostaaten die Illusion von Mitsprache zu vermitteln und auf diese Weise künftige Widerstände zu spalten. Damit sei es langfristig möglich, rät der Autor, "einer gegen Deutschland gerichteten Blockbildung zuvorzukommen".8

Das Verhältnis zu den USA

Offen bleibt die Frage, wie sich das weltpolitisch erstarkende Deutschland gegenüber den USA positionieren soll. In der SWP-Stellungnahme heißt es dazu lediglich, die Vereinigten Staaten gäben "ihre Stabilisierungs- und Ausgleichsrolle" in Europa jetzt wohl "auf, um sich Asien zuzuwenden".9 An ihre Stelle tritt auf dem europäischen Kontinent demnach offenbar Deutschland, für dessen Herrschafts-Konsolidierung der Autor der SWP-Stellungnahme konkrete Vorschläge macht. Dazu, wie sich das Verhältnis zwischen Berlin und Washington künftig gestalten wird, bezieht er hingegen nicht Position. german-foreign-policy.com berichtet über aktuelle Entwicklungen in dieser Hinsicht am morgigen Mittwoch.


Anmerkungen:
1 Lars Brozus: Machtverschiebungen in der EU: wie Deutschland ein "guter Hegemon" bleibt; www.swp-berlin.org 31.10.2013
2 s. dazu Die Kanzlerin Europas und Schlafende Dämonen
3 s. dazu Schlafende Dämonen
4 s. dazu Die Neuvermessung der deutschen Weltpolitik
5 s. dazu Mehr NATO, weniger Parlament
6 Lars Brozus: Machtverschiebungen in der EU: wie Deutschland ein "guter Hegemon" bleibt; www.swp-berlin.org 31.10.2013
7 German leadership is indispensable for a properly functioning Europe; www.irishtimes.com 01.09.2013
8, 9 Lars Brozus: Machtverschiebungen in der EU: wie Deutschland ein "guter Hegemon" bleibt; www.swp-berlin.org 31.10.2013



 
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