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WESTERBORK/BERLIN/SOBIBÓR (19.04.2013) - Spannungen zwischen der Bundesregierung und mehreren Opferstaaten überschatten das Gedenken an die Massendeportationen und Mordverbrechen der "Aktion Reinhardt" vor siebzig Jahren. In deren Rahmen wurden 1942 und 1943 rund zwei Millionen Gefangene aus West- und Osteuropa in den Vernichtungslagern Treblinka, Chełmno, Majdanek, Bełżec und Sobibór umgebracht. In Sobibór erschoss und vergaste das NS-Terrorregime bis Juli 1943 allein über 34.000 niederländische Juden, darunter auch Emigranten aus Deutschland. An den Kosten für das in diesem Jahr geplante Sobibór-Gedenken der Niederlande, der Slowakei, Israels und Polens wollte sich Berlin bis Anfang Januar nicht beteiligen. Auch die Co-Finanzierung der übrigen "Reinhardt"-Gedenkstätten sieht die Bundesregierung nicht vor. Als Eigentümerin lässt es die Bundesregierung zu, dass die Erinnerung an die Sobibór-Opfer von der Deutschen Bahn AG mit Gebühren belegt wird. Weil eine Bürgerinitiative die Ermordeten entlang der früheren Deportationsstrecke im Mai und Juni ehren will, muss sie mit Kostennoten rechnen. Dieser finanzielle "Boykott" sei mit dem Bundesverkehrsministerium unter Minister Ramsauer (CSU) abgestimmt, heißt es in einer Pressemitteilung des "Zug der Erinnerung". Die Bürgerinitiative ruft zu Spenden auf, um die Sobibór-Opfer auf mehreren deutschen Bahnhöfen doch noch zu würdigen.
In einem mehrseitigen "Memorandum" hatten sich die Regierungen der Niederlande, der Slowakei, Polens und Israels im Februar 2011 verpflichtet, "zur Errichtung einer Museums- und Gedenkstätte in dem ehemaligen Nazi-Vernichtungslager Sobibór" finanziell beizutragen. Als der Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag (Bündnis 90/Die Grünen) im Oktober 2011 nachfragte, warum sich die Bundesregierung an dieser Ehrung nicht beteilige, antwortete das Auswärtige Amt (AA), dafür fehle jegliche Voraussetzung, weil es "keine Anfrage"1 aus dem Ausland gebe.

Nicht mehrheitsfähig

Auch als im Bundestag gefordert wurde, die Bundesregierung solle "sich nicht auf eine fehlende Problemanzeige (...) beziehen, sondern Polen ein Angebot zur Teilfinanzierung für die Umgestaltung des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibor als Gedenkort (...) unterbreiten und sich somit aktiv an der Erinnerungsarbeit (...) beteiligen"2, lehnte die Regierungsmehrheit den Antrag ab. Erst recht aussichtslos war ein überparteiliches Plenarvotum, das "Die Linke" einreichte. Sie wollte 2011 beschlossen wissen, dass der "Erhalt und die Unterhaltung der Gedenkstätten (...) wie Auschwitz-Birkenau, Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibor und Treblinka (...) nach Überzeugung des Bundestages zu den zentralen Aufgaben deutscher Erinnerungspolitik" gehörten - eine Überzeugung, die im Bundestag nicht mehrheitsfähig war.3

Zugesagt

Um wenigstens ein Signal zu setzen, schlugen mehrere Bundestagsabgeordnete eine Delegationsreise mit Vertretern sämtlicher Parlamentsparteien vor, um die Orte der "Reinhardt"-Verbrechen und andere Lager zu besichtigen. Cornelia Pieper (FDP), Parlamentarische Staatsministerin im AA, sagte zu und "erklärt(e), dass das Auswärtige Amt die Organisation einer solchen Reise übernehmen könne. Die deutsch-polnische Parlamentariergruppe sollte daran beteiligt werden".4

Abgesagt

Diese Zusage war vorschnell und berücksichtigte eventuelle Einreden des Bundesministers der Finanzen nicht. In der dortigen Abteilung für "Kriegsfolgeschäden" werden die materiellen Konsequenzen deutscher "Erinnerungspolitik" überwacht. Am 19. November 2012 sagte Pieper die Reise ab.5 Die Sprecherin für Kulturpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, Agnes Krumwiede, protestierte - wieder vergeblich. Nach Recherchen ihrer Fraktion "hat überhaupt noch keine offizielle Delegation einer deutschen Bundesregierung oder des deutschen Bundestages das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek besucht"6 - eine der hauptsächlichen Mordstätten im NS-"Generalgouvernement".

Vierzigtausend Euro

Etwa zeitgleich mit der Absage ermöglichte die Bundesregierung eine weitere Operation, die der Erinnerung schaden sollte: Endgültiger Entzug von Spendengeldern, die mehrere hunderttausend Besucher dem "Zug der Erinnerung" zur Verfügung gestellt hatten. Aus diesen Spenden musste die Bürgerinitiative bis Ende 2012 über vierzigtausend Euro ("Trassen- und Bahnhofsgebühren") an die Deutsche Bahn (DB) AG zahlen. Nach jahrelangen Protesten und mehreren Petitionen im Deutschen Bundestag hoffte die Bürgerinitiative auf eine Verwendung für ihre Sobibór-Aktivitäten im kommenden Mai und Juni.

Abgelehnt

Aber statt dem "Zug der Erinnerung" das Sobibór-Gedenken zu ermöglichen, wurde im Bundesverkehrsministerium vereinbart, die vierzigtausend Euro zu neutralisieren und an eine Bundesstiftung unter der Kontrolle des Bundesministers der Finanzen weiterzureichen (Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"). Dort, so hieß es in Berlin, könne der "Zug der Erinnerung" ja Anträge stellen. Als die Bürgerinitiative im Februar einen solchen Antrag einreichte, um die Sobibór-Opfer entlang der deutschen Deportationsstrecke zu ehren, schnappte die Falle zu. Der Antrag wurde abgelehnt.7

Plus zehntausend Euro

Sollte der "Zug der Erinnerung" dennoch für die Sobibór-Opfer fahren, stünden DB-Gebühren von weiteren zehntausend Euro an, hat die Bürgerinitiative errechnet.8 Sie hofft auf die Unterstützung der deutschen Öffentlichkeit und will ab dem 26. Mai auf zehn Bahnhöfen an die Kinder und Jugendlichen erinnern, die in den "Reichsbahn"-Zügen nach Sobibór saßen.

Sechsundvierzig Waggons

Am 8. Juni soll der Zug in Berlin stehen.9 An diesem Tag vor 70 Jahren rollten 46 verplombte "Reichsbahn"-Waggons mit 1.296 Kindern und Jugendlichen durch Deutschland und erreichten nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin am 11. Juni Sobibór. Binnen weniger Stunden wurden die eintausendzweihundertundsechsundneunzig Kinder und Jugendlichen erschossen oder vergast.


Anmerkungen:
1 Schreiben AA (Staatssekretärin Emily Haber) vom 03.11.2011
2 Ausschuss Kultur und Medien; Ausschussdrucksache 17 (22) 70a
3 Erhalt der Gedenkstätten nationalsozialistischer Vernichtungslager sicherstellen; Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7028
4 Ergebnisse des Berichterstattergespräch zur aktuellen Situation in Sobibór am 7. März 2012 (im Deutschen Bundestag)
5 Schreiben AA vom 19.11.2012
6 Die vergessenen Vernichtungslager; Pressemitteilung vom 24. 01.2013
7 Pressemitteilung vom 17.04.2013
8 Gedenken trotz Boykott; www.zug-der-erinnerung.eu 18.04.2013
9 Für die Kinder von Westerbork - Für die Hoffnung von Sobibór. Flyer; www.zug-der-erinnerung.eu


 
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