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BERLIN (17.08.2010) - Mit einiger Skepsis reagieren Beobachter im Ausland auf die jüngsten Erfolgsmeldungen der deutschen Wirtschaft. Im zweiten Jahresviertel sind die Ausfuhren deutscher Unternehmen sprunghaft angestiegen und haben der Bundesrepublik das stärkste Quartalswachstum seit 1990 eingebracht. Damit vertiefe sich die ökonomische Spaltung der Eurozone, urteilt mit Blick auf schlechte Quartalswerte in den südlichen Euroländern die britische Wirtschaftspresse. Spanische Medien teilen diese Einschätzung. Die wachsenden Ungleichgewichte im Währungsgebiet bedrohen auf Dauer den Bestand des Euro, erklären Kritiker mit Blick auf die deutsche Ausfuhroffensive, die das eigene Wachstum auf Kosten vor allem der südlichen Euroländer forciert. Der US-Investor George Soros warnt zudem seit einiger Zeit, das Berliner Spardiktat treibe die gesamte Eurozone in eine Deflationsspirale. Ernsten Unmut erregt schließlich auch die hartnäckige Arroganz, mit der die Bundesregierung ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen in der Eurozone durchzusetzen sucht. In der deutschen Kampagne gegen Griechenland während der Krise im Frühjahr sei "Wilhelminismus pur" zutage getreten, urteilt ein Experte aus dem Pariser Büro des Thinktanks European Council on Foreign Relations.

Rekordwachstum

Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2010 um 2,2 Prozent gegenüber dem ersten Quartal gewachsen. Das ist der höchste Wachstumswert pro Vierteljahr seit dem Zusammenschluss mit der DDR. Grundlage sind die sprunghaft gestiegenen deutschen Exporte. Allein im Juni 2010 führten deutsche Unternehmen Waren im Wert von 86,5 Milliarden Euro aus - ein Anstieg um 28,5 Prozent gegenüber Juni 2009. Damit ist das Volumen aus der Zeit unmittelbar zu Beginn der Krise fast wieder erreicht (Oktober 2008: 88,7 Milliarden Euro). Am stärksten legten die Exporte in Nicht-EU-Länder zu (plus 37,3 Prozent), vor allem nach China. Die Ausfuhren in die EU stiegen gegenüber dem Vorjahresmonat ebenfalls - um rund 23,5 Prozent. Die deutschen Wachstumszahlen sind mit Abstand die höchsten innerhalb der EU; sie vergrößern daher das ökonomische und politische Gewicht Berlins in der Union.

Eine Klasse für sich

Beobachter aus verschiedenen Staaten reagieren mit Skepsis auf die deutschen Erfolgsmeldungen. Anlass ist, wie die britische Wirtschaftspresse schreibt, die wachsende ökonomische Spaltung der Eurozone.1 Während das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 2,2 Prozent wuchs, nahm das französische BIP nur um 0,6 Prozent zu; Spanien blieb mit einem Anstieg von 0,2 Prozent deutlich unter dem erhofften Wert. Das BIP Griechenlands schrumpfte sogar um ganze 1,5 Prozent. Medien in Spanien sprechen inzwischen von einer Dreiteilung der Wirtschaft in Europa: Deutschland bilde "eine Klasse für sich", Frankreich und Italien versuchten den Anschluss nicht zu verlieren, Spanien und vor allem Griechenland hinkten abgeschlagen hinterher.2 Tatsächlich erreichten schon letztes Jahr die deutschen Ausfuhren einen Wert von mehr als 10.700 Euro pro Kopf der Bevölkerung; das ist deutlich mehr als der entsprechende Wert in Frankreich und doppelt so viel wie das italienische Äquivalent.

Wachsende Widersprüche

Experten halten das wachsende ökonomische Ungleichgewicht innerhalb der Eurozone für höchst problematisch. So müsse etwa die Europäische Zentralbank eine Überhitzung der deutschen Wirtschaft verhindern, ohne die stagnierende Ökonomie in den südlichen Euroländern abzuwürgen - nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. "Wäre die EZB die Bundesbank, würde sie die Zinsen sehr rasch erhöhen", urteilt der Londoner Chefökonom der UniCredit Group: "Aber Spanien, Griechenland, Italien - sie können sich dies nicht leisten."3 Bereits im Frühjahr hatten führende Politiker in mehreren EU-Staaten zudem moniert, dass Berlin mit seinen stetigen Exportoffensiven ökonomisch schwächere Euroländer in Handelsbilanzdefizite und Staatsverschuldung dränge (german-foreign-policy.com berichtete4); die Bundesrepublik trage deshalb eine Mitverantwortung an der griechischen Schuldenkrise sowie an möglicherweise bevorstehenden ähnlichen Entwicklungen in anderen Staaten wie Spanien oder Portugal. Der vermeintliche Ausweg, den die Bundesregierung der EU aufzwingt - ein hartes Spardiktat -, hat in Griechenland jetzt zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent geführt. Experten warnen vor einer Deflationsspirale. Der US-Investor George Soros etwa schreibt, die von Berlin durchgesetzte Verpflichtung aller Euroländer auf die Einhaltung der Maastricht-Kriterien sei in einer Krise völlig unangebracht; Deutschland zwinge Staaten wie Griechenland auf ein ökonomisches Prokrustesbett, das - ähnlich der Großen Depression der 1930er Jahre - zu einer lange anhaltenden Deflation führen werde.5

Hybris

Unmut erregt im europäischen Ausland wie in den USA nicht zuletzt die hartnäckige Arroganz, mit der Berlin der EU seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen aufzwingt. Deutschland entwickle zunehmend eine Identität "als ein Land, das ausländischen Bedürfnissen und Erläuterungen weniger duldsam" gegenüberstehe, urteilt die US-Presse. Obwohl die Bundesrepublik im eigenen Lande mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe, lege sie in immer größerem Maße "Begeisterung für ihr Wirtschaftssystem, ihre Kultur und ihre verbesserte Stellung in der Welt" an den Tag.6 Damit nähmen nicht zuletzt auch die Spannungen zwischen Berlin und Paris zu und stellten "die Zukunft des Projekts der europäischen Integration in Frage". Manche Kritiker wärfen Deutschland deshalb mittlerweile Hybris vor.

Gift

Zu diesen Kritikern gehört der Leiter des Pariser Büros des European Council on Foreign Relations, Thomas Klau. Über die rassistisch gefärbte deutsche Kampagne gegen Griechenland, die den Druck auf Athen während der Krise im Frühjahr begleitete7, schreibt Klau, sie habe "Attitüden hochgespült, von denen man vor kurzem noch hoffen durfte, sie seien in den Untiefen der deutschen Vergangenheit versunken".8 "Wie ist Politik im vereinten Deutschland auf den Hund gekommen", fragt Klau rhetorisch, dass diese Kampagne stattfinden konnte, "ohne auf den geharnischten Protest der politischen Klasse zu stoßen?" Über die Behauptung, Deutschland werde als "Zahlmeister" der EU ausgenutzt, schreibt er: "Die primitive, kurzsichtige, antieuropäische 'Zahlmeister'-Propaganda von heute ist das perfekte Echo der 'Platz an der Sonne'-Ideologie des zweiten Kaiser Wilhelms." Über die neue Berliner Machtpolitik - auch in Sachen europäische Wirtschaftspolitik - urteilt Klau, sie sei "Wilhelminismus pur" - "reaktionäres politisches Gift".


Anmerkungen:
1 Eurozone divided as Germany speeds on; Financial Times 13.08.2010
2 ¿Alemania? Bien, gracias; El País 15.08.2010
3 Trichet Faces "Headache" as Record German Growth Pulls Ahead of Periphery; www.bloomberg.com 13.08.2010
4 s. dazu Ein Tabubruch, Sparen für Deutschland und Unter ökonomischem Protektorat
5 George Soros: The Crisis and the Euro; www.nybooks.com 08.07.2010
6 Defying Others, Germany Finds Economic Success; The New York Times 13.08.2010
7 s. auch Bilanz der Nationalismus-Party
8 Thomas Klau: Wollen wir unseren alten Kaiser wiederhaben? Berliner Republik 2/2010



 
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