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Ein Tag in Deutschland, zwei Meldungen: »Asylbewerber tatverdächtig«, hieß es am Donnerstag in der rot hinterlegten, hektisch blinkenden Laufschrift der Newsticker auf den großen Nachrichtenseiten. Ein mutmaßlicher Mädchenmörder soll sich in den Irak abgesetzt haben, nach einem zweiten Verdächtigen wird gefahndet: »türkischer Staatsbürger«! Ein Türke also – mehr Anfangsverdacht braucht es nicht. Die andere Meldung säuft daneben beinahe ab: »Kein hinreichender Terrorverdacht gegen Soldat Franco A.«, titelte Spiegel Online am Donnerstag. Soldat Albrecht hatte Waffen gehortet, Munition in großem Stil gestohlen und Todeslisten mit Namen von Politikern in seinem Notizbuch gepflegt. Der Mann ist Deutscher, Offizier der Bundeswehr gar. Das wirft ein anderes Licht auf die Sache. Ein Hauptverfahren vor dem Staatsschutzsenat ist unnötig.

Seit die Ideologie eines Götz Kubitschek und seiner Initiative »Ein Prozent« in der BRD Staatsräson geworden ist, hat das Land eine Gruppe Pauschalverdächtige für alle Fälle: die Fremden. Der erwähnte türkische Staatsbürger, der tagelang öffentlich gejagt wurde, musste schließlich freigelassen werden. Er hat mit dem Mord überhaupt nichts zu tun, ihm wurde sein Türke- und Asylbewerber-Sein zum Verhängnis. Franco Albrecht hingegen haben Herkunft wie Beruf gerettet. Niemand bestreitet, dass es sich um einen völkisch denkenden Faschisten handelt. Auch die Munition war echt, und in seinem Todesbuch standen der damalige Bundespräsident und der Justizminister. Das Frankfurter Oberlandesgericht findet ebenfalls, dass es »überwiegend wahrscheinlich« sei, dass Albrecht sich »zwei Pistolen, zwei Gewehre und 51 Sprengkörper« beschafft habe. Es sei aber »nicht überwiegend wahrscheinlich«, dass er den »festen Entschluss« gehabt habe, »schwere staatsgefährdende Straftaten« zu begehen.

Auch die Tausenden Patronen, die bei einem seiner Komplizen gefunden wurden, legen keinen weiteren Verdacht nahe. Vermutlich haben sich die ganzen Sachen nur ungünstig in Albrechts Uniformjacke verheddert; er hat sie nicht stehlen wollen, alles war ein Versehen. Etwas ganz anderes wäre es natürlich, wenn der deutsche Offizier kein Deutscher und kein Offizier wäre. Für Springers Welt genügten vor einigen Wochen schon »zwei extra scharf geschliffene« Küchenmesser, die bei einem Araber gefunden wurden, um daraus eine wilde Geschichte über einen angeblich in letzter Minute verhinderten islamistischen Anschlag auf einen Berliner Marathonlauf zu stricken. Überflüssig zu erwähnen, dass diese Story von vorne bis hinten erfunden war.

Wir sind unter die Wölfe gefallen, doch die Wölfe stehen hier unter Naturschutz. Albrecht hat, wenn auch unter Umgehung der Hierarchie, die deutsche Staatsräson verinnerlicht und so etwas wie Eigeninitiative gezeigt. Dafür wird man in der BRD nicht gefeuert oder angeklagt. Man wird zum General befördert.


Aus: Tageszeitung junge Welt, 9. Juni 2018. Kauf am Kiosk!


 
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  Kommentar zum Artikel von Knoelius:
Samstag, 09.06.2018 - 23:12

Vielen Dank für diesen wichtigen Artikel. Es ist eine Pogromhetze im Gange hierzulande. Wann wachen die Leute auf?!


  Kommentar zum Artikel von retmarut:
Samstag, 09.06.2018 - 22:21

Kann mir mal jemand erklären, wie "überwiegend wahrscheinlich" im deutschen Strafrecht definiert ist?

Der gesunde Menschenverstand sagt jedenfalls: Entweder jemand hat sich illegal Waffen und Sprengkörper aneignen können oder nicht. Bei dem Rechtsextremen, dessen Gesinnung offenkundig ist, wurden derartige Waffen und Sprengkörper gefunden, zusammen mit entsprechenden Anschlagszielen.