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Von secarts

Meine Tibetreise ist zu Ende, ich befinde mich derzeit wieder in Guangzhou. Bevor ich jedoch, nach zwei Wochen Tibet, wieder hier angekommen bin, haben wir noch einen zweitaegigen Abstecher nach Shaoshan, in der Provinz Hunan, unternommen: hier liegt der Geburtsort Mao Zedongs, des Gruenders der Volksrepublik China...

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laendliches Shaoshan: hier wird sich seit Maos Jugend wenig veraendert haben...
Per Flugzeug haben wir Lhasa am 3.10. verlassen und sind ueber Chongqing (die groesste Stadt der Welt) nach Changsha geflogen; Changsha ist ebenfalls eine Millionenstadt und zugleich die Hauptstadt der bevoelkerungsreichen Provinz Hunan. Von dort aus sind wir nach einer Uebernachtung per ganz normalem Bummelzug weiter nach Shaoshan gefahren - drei Stunden Fahrt, die mir sowohl wegen der extremen Hitze irgendwo jenseits der 40 Grad Celsius als auch wegen des Gedraenges im Zug in langer Erinnerung bleiben werden. Doch Shaoshan lag auf unserem Rueckweg nach Guangzhou, und da das direkte Flugticket von Lhasa aus viel zu teuer gewesen waere, hat dieser Abstecher trotz aller Strapatzen Sinn gemacht - Shaoshan gehoert zum kollektiven Geschichtsgedaechtnis Chinas und ist, nicht als kleines Bauernnest irgendwo in Hunan, sondern als Chiffre auf die Probleme und Loesungsmoeglichkeiten des alten China, relevant und definitiv einen Besuch wert.

Mao Zedong, spaeterer Mitbegruender der Kommunistischen Partei Chinas, ihr Anfuehrer waehrend der vielen Kriege und Buergerkriege, gegen die Japaner und Chiang Kai-Chek, Gruender der VR China, langjaehriger Praesident des Neuen China, erblickte hier im Jahre 1893 als Sohn einfacher Bauern das Licht der Welt. Maos Vater hatte sich vom Tageloehner durch Fleiss, Verschlagenheit und Geschick zu einigem Wohlstand hervorgearbeitet und verdiente, gemessen an den Kleinbauern, durch Saatgutverleih nicht uebel. Maos Mutter, eine glaeubige Buddhistin und herzensgute Frau, hielt den Haushalt zusammen: neben Mao und seinen Eltern waren noch zwei weitere Soehne im Haus. Mao, frueh durch gute Ergebnisse in der (ebenfalls zu besichtigenden) Dorfschule aufgefallen, diente dem Vater schon in fruehen Jahren als Buchhalter; der tuechtige Geschaeftsmann war, wie so viele andere Chinesen seiner Generation, Analphabet. Zum Zusammenhalten seiner Aussenstaende musste der Sohn die Kladde fuehren. Mao widerte diese Taetigkeit und das Gewinnstreben des Vaters an: durch das Elend der umliegenden Kleinbauern und das soziale Gewissen seiner geliebten Mutter kam er frueh zu Ueberlegungen, was sich in China aendern muesse: die entsetzliche Armut, die Unwissenheit und mangelnde Bildung - und die Dominanz der fremden Okkupanten, die China zerstueckelten und den lokalen Warlords und Grossgrundbesitzern erst ihre schmarotzende Existenz auf dem Ruecken der Arbeitenden ermoeglichten. In Shaoshan wurden die Wurzeln fuer Maos zukuenftiges Weltbild gelegt.

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das Geburtshaus Maos
Shaoshan kann helfen, das Dilemma Chinas nach der Jahrhundertwende zu verstehen. Warum es keiner der auslandserfahrenen, weltgereisten Grossstadtchinesen mit fuenf Sprachen und besten Kontakten zur Kommunistischen Internationale in Moskau im Gepaeck geschafft hat, mit woertlich kopierten revolutionaeren Konzepten aus Westeuropa das Land zu veraendern. Warum die Aufstaende in den grossen Staedten Chinas, die zumindest ueber ein Proletariat im Embryonalstadium verfuegten, blutig erstickt wurden und keine Resonanz auf die Mehrheitsbevoelkerung, die in Doerfern wie Shaoshan lebte und aus den Staedten nichts mitbekam, ausuebten. Und warum ein einfacher Bauernsohn aus der tiefsten Provinz nicht nur die Revolution zum Erfolg fuehren und China auf immer veraendern sollte, sondern mit seinen Ideen Weltgeschichte schreiben und viele andere Revolutionaere, von Cuba bis Vietnam, erfolgreich inspirieren sollte. Shaoshan ist nur ein kleines Dorf gewesen, als Mao dort geboren wurde. Doch Doerfer wie Shaoshan, das war (und ist immer noch, vielerorts) China. Die Veraenderungen mussten von hier, der Basis des Landes, ausgehen, um erfolgreich zu sein. Mao hat das verstanden und in vielen Kaempfen, gegen mancherlei chinesischen wie auslaendischen Widerstand, durchgesetzt - erfolgreich, letztendlich.

Auch Shaoshan selbst hat sich veraendert. Ich war erstaunt zu hoeren, dass das verschlafene Nest aus den Erzaehlungen von und Biographien ueber Mao unterdessen runde 100.000 Einwohner zaehlt. Und noch erstaunter war ich, als wir beim Eintreffen von Touristen beinahe ueberrannt wurden...

Man haette es ahnen koennen, denn wir reisten selbst in der Woche nach dem 1. Oktober, in der die allermeisten Chinesen frei haben und unterwegs sind. Dass ausgerechnet Shaoshan ein innerchinesischer Touristenmagnet geworden ist, wussten wir nicht. So schoben, draengten und drueckten wir uns mit tausenden chinesischen Schaulustigen (und vielleicht zwei oder drei anderen Auslaendern) durch Maos ehemaliges Schulzimmer, Geburtshaus und Schlafzimmer der Eltern; standen Schlange vor dem Museum, das sein Leben erzaehlt und genossen nur in der Gedaechtnisbiliothek, die als Aussenstelle einer Universitaet in Shaoshan das schriftliche Vermaechtnis Maos archiviert und herausgibt etwas Ruhe: die Buecher waren zumindest nicht der Hauptattraktionspunkt fuer die meisten Reisenden...

Zwischen kluger didaktischer Aufarbeitung, erfreulicher Originalbelassenheit mancher Orte und Kitsch und Kommerz schwankten unsere Erfahrungen: die obligatorischen Restaurants, die alle mit "Maos Lieblingsessen" werben, kannten wir bereits aus Yen'an; die ueblichen Troedelstaende mit Maos-Buesten, Mao-Schluesselanhaengern, Mao-Feuerzeugen und Mao-Gluecksbringern waren auch nicht neu fuer uns, nur noch nie in solcher Dichte gesehen. Und dass manche Chinesen wohl tatsaechlich annehmen, eine Mao-Plakette im Auto koenne Unfaelle verhindern, mag lustig klingen. Mao haette selbst allerdings am wenigsten darueber lachen koennen.

Erfreulich ist, fuer wie viele Chinesen, die freiwillige und unter einigem Reiseaufwand nach Shaoshan kommen, die historische Figur Mao Zedong immer noch (und wohl wieder deutlich staerker) eine grosse Rolle spielt: Mao ist praesent; weniger in Form von Statuen, Plakaten und Slogans, dafuer mehr im kollektiven Bewusstsein der Menschen. Verwunderlich ist, welche Formen die Verehrung vieler Menschen fuer Mao mancherorts annimmt: das Gedraenge im Laden, der Faksimilies mit dem von Mao kalligraphierten Schriftzeichen fuer "Glueck" anbietet; die Gluecksbringer und Amulette. Maos Buecher waeren, so die manchmal einsetzende Ueberlegung, sicher bessere Investitionsobjekte. Festzuhalten bleibt: keine Agitpropabteilung, kein herrischer Kooperativenvborsitzender und kein Schulmeister treibt seine Arbeiter, Angestellten oder Schueler nach Shaoshan, Yen'an oder die anderen Revolutionsdenkmaeler. Die Menschen kommen aus freien Stuecken, geben Geld dafuer aus und lassen Freizeit - weil es ihnen ein Beduerfnis ist, sich mit dem Leben des Mannes und der Geschichte der Bewegung, die China veraendert hat, zu befassen. Und wenn nur jeder Zehnte nach einem Shaoshan-Besuch einen (erneuten) Blick in Maos Werke tut, so hat es sich immer noch gelohnt. Denn das haette Mao gewollt - festhalten an der Methode, aus den Realitaeten ihre Gesetzmaessigkeiten und die Hebel zu ihrer Veraenderung zu ziehen.



Anmerkung: ich bediene mich sowohl auf der Karte als auch in den Artikeln der offiziellen chinesischen Pinyin-Umschrift, die vielfach von der hierzulande bekannten, allerdings überholten Umschrift abweicht. "Guangzhou" ist gleichbedeutend mit "Canton", "Beijing" mit "Peking" und so weiter. Wenn einmal ein Wort nicht verständlich ist, bitte gleich in den Kommentaren nachfragen!


 
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