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Der ARD-Kommentator hat noch in der Nacht auf Sonntag das Volksbeleidigtsein ausgerufen: Serbien gewinnt den Eurovision Song Contest, der deutsche Roger Cicero schnarcht sich bloß auf den 19. Platz unter 24 Teilnehmern. So etwas kann freilich nicht mit rechten Dingen zugehen! Da bietet die ARD all ihre hippe Jugendlichkeit auf - und dann sind die Ost- und Südosteuropäer zu blöd, die Qualität hinter der lahmen Swingnummer aus dem Las Vegas der McCarthy-Ära zu erkennen. Dieses Ei hat sich die A- und BRD allerdings in mehrfacher Hinsicht selbst gelegt.

Die Balkan- und Sowjet-Connection kapert den Eurovision Song Contest -
und die westeuropäischen Verbrecherstaaten sind beleidigt


Für den selbst ziemlich dösigen ARD-Kommentator (dagegen war ja Ö3/ORF-Kratky direkt lustig) war klar, dass der Beurteilungsmodus geändert gehört: Demokratie ist nämlich Scheiße, wie man jetzt weiß. Ist ja klar, dass da ethnisch isolierte Nationalstaaten wie die BRD keine Chance haben, wenn die gesamte Balkan-Connection (Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien und, ja, Österreich) die Höchstpunkte bloß einander zuschanzen, ebenso die Sowjet-Connection (Russland, Weißrussland, Ukraine, Lettland, Litauen, Armenien, Georgien, mit Abstrichen auch die anderen Osteuropäer). Undankbares Gesindel? Da bringt man ihnen Freiheit, Demokratie, McDonald's und den Song Contest - und heraus kommt erst wieder ein antiwestlicher Ostblock? Sauerei!

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Dass unter gewissen Staatengruppen die Höchstpunkte (8, 10, 12) jedes Mal an "befreundete" Nationen gehen, ist allerdings nichts Neues. Seit Jahrzehnten gibt es die nordische Connection (Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark, Island), die Commonwealth-Connection (Großbritannien, Irland, Malta), die BeNeLux-Connection (eben diese drei, eventuell ergänzt durch Frankreich) und die Ostmittelmeer-Achse Griechenland-Zypern, origineller Weise oft inklusive Türkei. Die BRD aber, die hat einfach keine Freunde in Europa; die diesbezügliche Verweigerung aus Österreich und der Schweiz ist ja ebenso legendär wie berechtigt.

Natürlich hat Jugoslawien bereits 1989 mit der Nummer "Rock me, baby" den Song Contest gewonnen (kann ja passieren, schließlich waren auch die BRD und Österreich schon jeweils einmal siegreich). Jetzt aber machen sich die Slawen aller Länder (und die nichtslawischen Nachbarn) die Sache untereinander aus. Ergebnis 2007: 1. Serbien, 2. Ukraine, 3. Russland; weiters: 5. Bulgarien, 6. Weißrussland, 8. Armenien, 9. Ungarn, 10, Moldau, 11. Bosnien-Herzegowina, 12. Georgien, 13. Rumänien, 14. Mazedonien, 15. Slowenien, 16. Lettland. Unter diese ersten 16 schafften es als Länder ohne sozialistische Vergangenheit bloß die Türkei (4.) und Griechenland (7.). Die vier großen westeuropäischen Song Contest-Beitragszahler, die ja nur kraft ihrer Finanzen fix qualifiziert sind, nämlich die BRD (19.), Spanien (20.), Frankreich (22.) und Großbritannien (23., Vorletzter), durften ein Debakel verbuchen. Fast alle anderen westeuropäischen Staaten waren schon in der Vorrunde ausgeschieden.

Dahinter steht nun ein politisches Debakel mit mehreren Facetten. Eigentlich sollte es bis in die ost- und südosteuropäischen Länder durchgedrungen sein, nachdem die deutschen und österreichischen Medien permanent und somit wohl oft genug behaupten, dass die früher in ihre sozialistischen Vielvölkerstaaten gezwungenen, nun unabhängigen Nationen nicht gut auf die vormaligen Mehrheitsnationen zu sprechen sein sollten. Aber: dumm gelaufen! Keineswegs hassen die Litauer, Letten oder Armenier die Russen, ebenso wenig die Slowenen, Kroaten oder Montenegriner die Serben. Es ist dem westeuropäischen Imperialismus zwar gelungen, in diesen Staaten die Konterrevolution zu vollbringen und sie sodann in imperialistisch-zweckmäßige Einzelteile zu zerlegen, doch das von außen suggerierte Bewusstsein der Menschen im ehemaligen Jugoslawien und der UdSSR geht damit nicht einher. Die westlichen Staaten unternahmen und unternehmen alle Anstrengungen - nicht zuletzt mit Casting- Voting-Shows im Fernsehen -, um Egoismus, Konkurrenzdenken, Nationalismus und Misstrauen - eben bewährte kapitalistische Eigenschaften - in den ehemals sozialistischen Staaten zu sähen, doch die Menschen in diesen Ländern beharren frecher Weise zu einem guten Teil auf so überkommene Werte wie Gemeinschaftlichkeit, Gemeinwohl, Völkerfreundschaft und Solidarität. Die imperialistischen Staaten können sich in Ost- und Südosteuropa vielleicht Regierungen kaufen, nicht aber Herz und Hirn der einfachen Menschen, für die die Segnungen der kapitalistischen "Befreiung" soziale Erniedrigung und Krieg bedeuteten. Und niemand unter diesen Menschen wird die Hegemonie EU-Deutschlands anerkennen, das auch in den 1990er Jahren wieder europäischer Hauptkriegsverbrecher und Hauptnutznießer am Balkan war.

Der zweite debakulöse Bereich betrifft den "Europa-Gedanken", der für die "befreiten" Nationen des Ostens und Südostens nicht und nicht greifbar wird. Wie soll man im ehemaligen Jugoslawien auch verstehen, dass es in Europa heute angeblich um ein Integrationsprojekt, um das "Zusammenwachsen" gehen soll, wenn man gerade erst ihre gemeinsamen Staaten filetiert hat? Der Imperialismus der Gegenwart bedeutet eben nun mal nicht die Überwindung von Nationalstaaten in Richtung eines größeren, gemeinsamen Ganzen, sondern das Gegenteil: ein wesentliches Herrschafts- und Ausbeutungsmittel des Imperialismus ist schon seit bald zwanzig Jahren das Aufbrechen und Zerstören von Staaten, sei es am Balkan, in der ehemaligen UdSSR oder schon bald im Mittleren Osten, planmäßig wohl auch in Südamerika.

Dass diese neuen Staaten (oder zumindest deren Bevölkerungen) nun allerdings ein widerständiges Eigenleben entwickeln, so war die Rechnung nicht gedacht. Wenn sich dieses Eigenleben beim Song Contest äußert, so ist dies noch harmlos, denn ein bissel eine Kränkung der bundesdeutschen Kulturbarbarei ist ohnedies wünschenswert. Aber den Mächtigen in Berlin, Brüssel, Paris etc. möge dies zu denken geben. Wer sagt, dass sich die unterdrückten und ausgebeuteten Nationen der ost- und südosteuropäischen sowie transkaukasischen (Semi-)Peripherie nicht auch eines Tages politisch und ökonomisch von ihren angeblichen "Befreiern" emanzipieren?

Bleibt drittens die kulturelle Frage. Eigentlich sollte der Song Contest ja ein Mittel des westeuropäischen Kulturimperialismus sein - genau deshalb "dürfen" alle Teilnehmer ja seit einigen Jahren wieder in jeder beliebigen Sprache (in der Regel also in der englischen) singen. Doch genau das geht auch nach hinten los. Einerseits beherrschen den belanglosen 08/15-Pop (man könnte auch sagen: die Monotonie dieses "Yeah, yeah, yeah" - und wie das alles heißt...) mittlerweile die z.B. russischen Schmiedeln besser als etwa die britischen Urheber, die heuer durch beispiellose Peinlichkeit glänzten. Andererseits siegte die serbische Sängerin mit einem Titel in ihrer Muttersprache, während die zweitplatzierten Ukrainer mit ihrer Nonsens-Nummer gerade auch sprachlich eine köstliche Persiflage auf die westliche, insbesondere bundesdeutsche Unkultur ablieferten.

Die serbische Siegerin freilich, Marija Serifovic, war überhaupt die Antithese zum vorgedachten Westpop-Stil, nicht nur der Sprache wegen. Klein, etwas pummelig, bebrillt, selten lächelnd und mit Bubi-Frisur (und mit erwachsener Stimme trotz erst 22 Lenzen) passte sie optisch nicht so recht ins Mädi-Konzept zwischen Spice Girls und Britney Spears. Deswegen stellte ihr das serbische Fernsehen RTS, das offenbar Angst um seinen Anpassungsgrad hatte, gegen ihren ausdrücklichen Willen auch vier Background-"Sängerinnen" und "Tänzerinnen" (natürlich blondlockig, groß, "Idealfigur") zur Seite. Diese vier allerdings hatten dann am Ende der Show, als der Siegertitel nochmals gesungen wurde, doch ihren positiven Auftritt. Hier hielten sie sich nämlich angenehm wirklich im Hintergrund der Bühne auf und schunkelten hinter einer serbischen Fahne. Diese war übrigens weniger Nationalismus als bildungspolitische Notwendigkeit. Denn auf der offiziellen Homepage des Eurovision Song Contests prangt bei der Liste der Teilnehmerländer neben dem Namen "Serbia" - die Fahne der Slowakei.

 
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