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Von gr

Ausgerechnet am 1. Mai beglückte Bundesinnenminister Thomas de Maizière die Nation mit tiefsinnigen Erkenntnissen über eine angebliche deutsche Leitkultur. „Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot. … Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.“1

Was Benimmregeln und Einschränkungen des Versammlungsrechts, wie das 1985 eingeführte Vermummungsverbot, mit Kultur zu tun haben sollen, verrät uns der Innenminister nicht. Ebenso wenig, wie er zu der dreisten Behauptung kommt, dass „kaum ein Land“ so von „Kultur und Philosophie geprägt“ sei wie Deutschland und dieses „großen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung der ganzen Welt genommen“ habe. An der Wiege der westlichen Kultur standen die Bewohner dieses Landstrichs, den man heute Deutschland nennt, auf jeden Fall nicht. Diese lag in dem Gebiet, aus dem viele der Menschen stammen, denen nun deutsche Leitkultur eingetrichtert werden soll: Irak und Syrien. Länder, die in Trümmer gehauen werden nicht nur von einem durch westliche Geheimdienste hochgezüchteten IS, sondern vor allem durch die Einmischung der Großmächte – Frankreich, Großbritannien, Deutschland, USA – in deren Angelegenheiten.

Was also soll diese unerträgliche Überheblichkeit anderes als durch die Blume zu verstehen zu geben, dass „wir Deutsche“ halt doch was Besseres sind?

Â… soll die Welt genesen

Doch mit Kultur hat diese Leitkulturdebatte sowieso nichts zu tun. Es geht darum „was uns im Innersten zusammenhält“, wie de Maizière es ausdrückt. Wenn das Säbelrasseln wieder lauter wird, die Militärbudgets erhöht werden und deutsche Soldaten mit der NATO schon wieder direkt an Russlands Grenzen stehen, dann sollen „wir deutsche Staatsbürger“ wieder zusammengeschweißt werden: Arbeiter, Bauern, Handwerker, Akademiker mit den Herren und Damen von Siemens, Quandt, Thyssen, Aldi und wie sie alle heißen.

[file-periodicals#198]Und weil sich die Herrschaften nie sicher sein können, ob das auch so klappt, sind die zehn Thesen des Innenministers nicht nur ein arroganter Abgrenzungskatalog gegenüber allen anderen Völkern. Sie sind auch eine unverschämte Bevormundung, wie „wir“ zu sein haben: Stets fleißig zum Wohle der deutschen Kapitalisten und ihrer permanenten Außenhandelsüberschüsse („Wir fordern Leistung. Leistung und Qualität bringen Wohlstand. Der Leistungsgedanke hat unser Land stark gemacht“). Immer kompromissbereit („Der Kompromiss ist konstitutiv (= grundlegend) für die Demokratie und unser Land“). Da haben schon Tarifkämpfe kaum einen Platz, geschweige denn politische Streiks gegen den permanenten Abbau unserer Rechte. Selbstverständlich sind „wir“ immer friedlich und überlassen die Gewalt der Staatsgewalt („Gewalt wird weder bei Demonstrationen noch an anderer Stelle gesellschaftlich akzeptiert“), auch wenn sie auf uns einprügelt.

Der gute deutsche Staatsbürger akzeptiert die Bündnispolitik der Herrschenden. Er ist der Meinung, dass „die NATO unsere Freiheit“ schützt, „deutsche Interessen oft am besten durch Europa zu vertreten und verwirklichen“ seien und Europa „ohne ein starkes Deutschland nicht gedeihen“ könne. „Wir“ sind auch wieder Patrioten, natürlich „aufgeklärte“ und haben damit keine Probleme mehr. Denn wir bekennen uns zu den „tiefsten Tiefen unserer Geschichte“, über die sich der Innenminister vorsichtshalber nicht näher äußert.

Wir sind also gute patriotische Untertanen und achten darauf, dass sich alle anderen unserer Leitkultur gefälligst unterordnen. Viel hat sich also nicht geändert in Köpfen
wie dem des Innenministers seit Kaiser Wilhelm II., der im Jahre 1907 erklärte: „In diesem Geist sollen alte und neue Landesteile, Bürger und Arbeiter sich zusammentun und einheitlich in gleicher Treue und Liebe zum Vaterlande zusammenwirken. Dann wird unser deutsches Volk der Granitblock sein, auf dem unser Herrgott seine Kulturwerke an der Welt aufbauen und vollenden kann. Dann wird auch das Dichterwort sich erfüllen, das da sagt: „An deutschem Wesen wird einmal noch die Welt genesen.“2

Sieben Jahre später erfuhr die Welt das erste Mal, was das bedeutet: Der erste Weltkrieg begann.


Aus: Auf Draht, 20.06.2017

Anmerkungen:
1 Dieses und alle folgenden Zitate: De Maizière, „Leitkultur für Deutschland – Was ist das eigentlich?“
Abrufbar unter www.bmi.bund.de
2 Zitiert nach:
http://www.lwl.org/westfaelischegeschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=1271&url_tabelle=tab_quelle



 
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  Kommentar zum Artikel von Wurst:
Dienstag, 20.06.2017 - 22:23

Guter Artikel, den ich auf Facebook gesehen und weiterverbreitet hab!


  Kommentar zum Artikel von Zendox:
Dienstag, 20.06.2017 - 15:04

Nochmal gut auf den Punkt gebracht, vielen Dank!