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Mit umfassendem Beifall reagiert das Berliner Polit-Establishment auf die Forderung von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einer eigenständigen Machtpolitik der EU. "Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen", hatte Merkel am Sonntag verlangt. Es gebe eine spürbare "Veränderung im Kräfteverhältnis in der Welt", äußert nun Außenminister Sigmar Gabriel und spricht vom "Ausfall der Vereinigten Staaten als wichtige Nation". Aus der EU kommt Zustimmung. Die USA seien zwar weiterhin ein "wesentlicher Partner, aber nicht mehr der erste Verbündete in jeder Frage", urteilt der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament. Man werde nun die Verschmelzung der Streitkräfte in der EU energisch forcieren, kündigt - in voller Übereinstimmung mit Berlin - die französische Verteidigungsministerin an; der Unmut über Trumps Auftritte in Europa Ende vergangener Woche sei dazu "ein willkommener Antrieb". Das Vorhaben, über ein geeintes Europa "auf Augenhöhe" mit den Vereinigten Staaten zu gelangen, zählte schon vor rund 175 Jahren - und damit bereits lange vor der Gründung des Deutschen Reichs - zu den zentralen Zielen der deutschen Außenpolitik.

Auf Augenhöhe

Mit ihrer Forderung, die EU müsse in der Weltpolitik künftig als eigenständige Macht auftreten, ist Bundeskanzlerin Angela Merkel im deutschen Polit-Establishment auf umfasssenden Beifall gestoßen. Merkel hat den Schritt systematisch vorbereitet. Bereits am Tag nach den US-Wahlen hatte sie, den international verbreiteten Unmut über die chauvinistischen, rassistischen Äußerungen von Donald Trump im Wahlkampf nutzend, erklärt, sie "biete" dem künftigen US-Präsidenten "eine enge Zusammenarbeit an", allerdings "auf der Basis" bestimmter "Werte".1 Tatsächlich ist die Kanzlerin dafür weithin als "Anführerin des liberalen Westens" und als positives Gegenbild zum US-Präsidenten gefeiert worden.2 Jetzt hat Merkel, durch die groben handwerklichen Schnitzer der Trump'schen Außenpolitik und das ignorante Auftreten des US-Präsidenten begünstigt, begonnen, die EU offen zu einer eigenen Machtpolitik unabhängig vom transatlantischen Bündnis aufzurufen. Die Zeiten, "in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten", seien "ein Stück vorbei", äußerte Merkel am Sonntag: "Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen."3 Damit ist die in jüngster Zeit immer häufiger geäußerte Forderung, Deutschland und die EU müssten eigenständig "auf Augenhöhe" mit den Vereinigten Staaten gelangen, von der Bundeskanzlerin persönlich übernommen worden.

Kein Duckmäusertum mehr

Merkels Forderung wird im Grundsatz von führenden Politikern sämtlicher Parteien im Deutschen Bundestag geteilt. "Eine stärkere Kooperation der europäischen Staaten auf allen Ebenen ist die Antwort an Donald Trump", erklärt der SPD-Vorsitzende Martin Schulz.4 Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) diagnostiziert eine "Veränderung im Kräfteverhältnis in der Welt" und den "Ausfall der Vereinigten Staaten als wichtige Nation": "Der Westen wird gerade etwas kleiner."5 SPD-Generalsekretärin Katarina Barley plädiert dafür, die Auseinandersetzungen mit den Vereinigten Staaten noch stärker zu forcieren: Die Bundeskanzlerin knicke "im direkten Aufeinandertreffen" regelmäßig "vor Trump ein"; das dürfe nicht sein.6 Für Bündnis 90/Die Grünen verlangt der Außenpolitiker Jürgen Trittin eine scharfe Distanzierung von Washington: "Ein Nationalist kann kein Partner sein in einer Welt, die nach mehr und nicht nach weniger internationaler Kooperation verlangt." Katja Kipping, Vorsitzende der Linkspartei, fordert, nun endlich das "Duckmäusertum gegenüber den USA" zu beenden7.

Diametral entgegengesetzt

Der deutsche Machtanspruch wird im US-Establishment sorgfältig rezipiert und stößt in Teilen der EU auf Zustimmung. "Das scheint das Ende einer Ära zu sein, in der die Vereinigten Staaten führten und Europa folgte", wird Ivo H. Daalder, ein ehemaliger US-Botschafter bei der NATO, zitiert: "Heute bewegen sich die Vereinigten Staaten in zentralen Fragen in eine Richtung, die derjenigen, in die sich Europa bewegt, diametral entgegengesetzt zu sein scheint."8 Merkel ziehe nur die Konsequenzen aus den immer stärker divergierenden Machtansprüchen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker springt der deutschen Kanzlerin zur Seite: "Es geht genau darum sicherzustellen, dass Europa sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt", erklärt sein Sprecher. Die Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten und der Liberalen im Europaparlament, Gianni Pittella und Guy Verhofstadt, stärken Berlin ebenfalls den Rücken. "Wir Europäer müssen endlich erkennen, dass unsere Zukunft in unseren Händen liegt", erklärt Pittella: Die USA seien zwar weiterhin ein "wesentlicher Partner, aber nicht mehr der erste Verbündete in jeder Frage". Verhofstadt urteilt seinerseits, es sei "höchste Zeit, dass Europa sich neu erfindet und enger zusammenrückt".9

Krieg als Chance

Bereits am Wochenende hat in der medialen Öffentlichkeit die Debatte darüber begonnen, welche praktischen Folgen die offene Forderung, eine eigenständige Macht zu bilden, mit sich bringt. "Gute Chancen" auf erfolgreiche Eigenständigkeit gebe es beim Welthandel, heißt es etwa: Brüssel bereite zur Zeit Freihandelsabkommen mit zwanzig Staaten vor, die bei einem erfolgreichen Abschluss entsprechender Vereinbarungen enger mit der EU kooperieren und sich stärker von den USA absetzen würden.10 Schwieriger werde es auf militärischem Gebiet: "Bei der Verteidigung liegt vor Europa ein weiter Weg", heißt es; "aber immerhin" sei "dieser Weg ... eine Chance, den Kontinent zusammenzuschweißen".11 In der Tat hat Berlin längst begonnen, die Aufrüstung der EU energisch voranzutreiben12; ergänzend ist im deutschen Establishment zuletzt mehrfach die atomare Bewaffung der Bundesrepublik verlangt worden (german-foreign-policy.com berichtete13). Für diesen Donnerstag ist nun der Antrittsbesuch der französischen Verteidigungsministerin Sylvie Goulard in der deutschen Hauptstadt angekündigt. Berlin und Paris machen seit geraumer Zeit energisch Druck, die europäischen Streitkräfte enger zu verschmelzen; Goulard erklärt über den international verbreiteten Unmut über Trumps jüngste Auftritte in Europa: "In einer Zeit, in der wir für Europa und für seine Verteidigung ohnehin Schritte nach vorn unternehmen wollen, ist das ein willkommener Antrieb."14

Seit 175 Jahren

Das Bestreben, "auf Augenhöhe" mit den Vereinigten Staaten zu gelangen, gehört zu den ältesten Vorhaben der expandierenden deutschen Außenpolitik. Es ist bereits von frühen Strategen wie etwa Friedrich List, dem "Vater der deutschen Nationalökonomie", geäußert worden, der bereits in den 1840er Jahren - lange vor der Gründung des Deutschen Reichs - für die Zukunft die erbitterte Rivalität zwischen einer europäischen "Continentalallianz" und den USA heraufziehen sah (german-foreign-policy.com berichtete15). Eine "mitteleuropäische Zollunion" müsse "Europa" in die Lage versetzen, mit den Vereinigten Staaten zu konkurrieren, hieß es 1903 im Aufruf zur Gründung des schon bald recht einflussreichen "Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins"16. Lediglich "ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Sofia" könne "Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zur Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf" - nicht zuletzt zur Behauptung gegen die USA, erklärte der IG Farben-Vorsitzende Carl Duisberg in einer Rede vor deutschen Wirtschaftsbossen im März 193117. Der NS-Ökonom Werner Daitz schrieb im Mai 1940, nur eine "kontinentaleuropäische Großraumwirtschaft" könne Deutschland in die Lage versetzen, "den gewaltigen Wirtschaftsblöcken Nord- und Südamerikas, dem Yen-Block und dem vielleicht verbleibenden restlichen Pfundblock erfolgreich die Stirn zu bieten"18.

Der nächste Rivale

Wohl noch nie seit 1945 war Deutschland dem Ziel, "Augenhöhe" mit den USA zu erreichen, so nah wie heute. Beim G20-Gipfel in Hamburg werde Kanzlerin Merkel, "ob sie es will oder nicht, als zentrale Gegenspielerin Trumps wahrgenommen werden", heißt es in der Presse19. Doch den "Europäern" sei "klar", heißt es weiter, "dass ein amerikanisches Vakuum den Aufstieg Chinas zur globalen Führungsmacht nur beschleunigen wird". Damit zeichnet sich schon der nächste Rivale, von dem sich das deutsch-europäische Weltmachtstreben eingeschränkt fühlt, deutlich ab.


Anmerkungen:
1 S. dazu Ein wesentlicher Teil des Westens.
2 S. dazu Make Europe Great Again.
3 Majid Sattar: Da waren es nur noch sechs. Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.05.2017.
4 Martin Schulz wirft Trump politische Erpressung vor. www.zeit.de 29.05.2017.
5 "Der Westen ist ein Stück kleiner geworden". www.zeit.de 29.05.2017.
6, 7 "Es ist keine Kunst im Bierzelt über Trump zu schimpfen". www.handelsblatt.com 29.05.2017.
8 Alison Smale, Steven Erlanger: Merkel, After Discordant G-7 Meeting, Is Looking Past Trump. www.nytimes.com 28.05.2017.
9 Daniel Brössler, Robert Roßmann: EU stützt Merkel gegen Trump. www.sueddeutsche.de 29.05.2017.
10 Christoph B. Schiltz: Wo ein Europa ohne die USA wirklich funktionieren kann. www.welt.de 29.05.2017.
11 Thomas Gutschker: Trump, der Fremde. www.faz.net 27.05.2017.
12 S. dazu Unter deutschem Kommando und Auf dem Weg zum Hauptquartier.
13 S. dazu Der Schock als Chance und Griff nach der Bombe.
14 French minister says Trump speech 'spur' to European defence. www.brecorder.com 29.05.2017.
15 Friedrich List: Das nationale System der Politischen Ökonomie. Stuttgart 1841. Zitiert nach: Reinhard Opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945. Bonn 1994. S. 50-58. S. dazu Europas Fahnenträger.
16 Julius Wolf: Materialien betreffend einen mitteleuropäischen Wirtschaftsverein. Zitiert nach: Reinhard Opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945. Bonn 1994. S. 137-146.
17 Carl Duisberg: Gegenwarts- und Zukunftsprobleme der deutschen Industrie. Rede auf der Tagung "Wirtschaft in Not" des Bayerischen Industriellen-Verbandes am 24. März 1931. Zitiert nach: Reinhard Opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945. Bonn 1994. S. 581f.
18 Werner Daitz: Denkschrift: Errichtung eines Reichskommissariat für Grossraumwirtschaft. Zitiert nach: Reinhard Opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945. Bonn 1994. S. 668-670.
19 Majid Sattar: Da waren es nur noch sechs. Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.05.2017.



 
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