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Ungeachtet des Putschversuchs und der anhaltenden Unruhen in der Türkei setzt die Bundeswehr ihre Kooperation mit den türkischen Streitkräften zur Flüchtlingsabwehr und ihren Luftwaffeneinsatz von der türkischen Air Base Incirlik aus fort. Wie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ankündigt, sollen die deutschen Einsatzflüge am heutigen Montag wieder aufgenommen werden. Die Luftwaffenbasis Incirlik war laut Berichten in erheblichem Maß in den Putschversuch involviert. Dabei hat die Bundeswehr in jüngster Zeit auch ihre Kooperation mit den türkischen Streitkräften jenseits der Einsätze gegen Flüchtlinge und den "Islamischen Staat" (IS/Daesh) intensiviert. Das türkische Militär kann sich ohnehin in größerem Umfang auf deutsche Rüstungslieferungen stützen; zudem haben deutsche Rüstungskonzerne begonnen, ihre industrielle Kooperation mit türkischen Waffenschmieden auszuweiten. Deutsche Experten warnen, es sei nicht nur mit deutlich verstärkter Repression der türkischen Regierung zu rechnen; auch "ein weiterer Putschversuch" aus den Reihen der aus Deutschland hochgerüsteten sowie in gemeinsamen Übungen mit der Bundeswehr trainierten türkischen Streitkräfte sei "nicht ausgeschlossen".

Vor der Eskalation

Nach der Niederschlagung des Putschversuchs in der Nacht von Freitag auf Samstag und dem Beginn einer massiven Säuberungswelle durch die Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan warnen Beobachter vor einer Eskalation der Unruhen in der Türkei. Seit Samstag sind offiziellen Angaben zufolge rund 3.000 Militärs und mehr als 2.700 Richter und Staatsanwälte wegen tatsächlicher oder angeblicher Verwicklung in den Putschversuch festgenommen worden; Erdoğan hat eine rasche Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. Auch wenn der Putsch niedergeschlagen worden sei, bleibe "die Unzufriedenheit in weiten Teilen der Armee und der Gendarmerie", die "seit Monaten" zu verspüren gewesen sei, bestehen, heißt es in Berichten; sollten die Anführer des Putschs "in großen Prozessen zu langen Haftstrafen verurteilt werden" - genau dies steht zu erwarten -, dann werde das "ihre Einheiten nicht beruhigen". "Erste Stimmen werden daher in der Türkei laut, die fürchten, dass sich die Polarisierung des Landes, die die türkische Armee erreicht hat, in bürgerkriegsähnlichen Zuständen entladen könne", schreibt der Türkei- und Nahostfachmann Rainer Hermann.1 Auch Yasar Aydin, ein ehemaliger Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der inzwischen an der HafenCity Universität Hamburg lehrt, warnt: "Der Kreis der Unzufriedenen - vor allem innerhalb der Armee - könnte weiter wachsen." Selbst "ein weiterer Putschversuch" sei "nicht ausgeschlossen".2

Waffenlieferungen

Die türkischen Streitkräfte, die in den vergangenen Jahrzehnten dreimal erfolgreich geputscht (1960, 1971, 1980) und einmal erfolgreich mit Putsch gedroht (1997) haben, konnten sich stets auf Waffenlieferungen aus der Bundesrepublik verlassen. Dem stand nie entgegen, dass sie regelmäßig mit mörderischer Gewalt gegen rebellierende kurdischsprachige Bürger des Landes vorgingen. In jüngster Zeit sind die Operationen im Südosten der Türkei wieder aufgenommen worden; sie haben wegen ihrer exzessiven Brutalität zu internationalen Protesten geführt. Allein 2013 genehmigte die Bundesregierung der Türkei die Lieferung von Rüstungsgütern im Wert von 84 Millionen Euro, darunter Teile für Panzer und Panzerhaubitzen, Lastkraftwagen und Munition. 2014 folgten Genehmigungen für Kriegsgerät im Wert von 72 Millionen Euro, darunter Revolver und Maschinengewehre sowie erneut Lastkraftwagen und Munition. 2015 stimmte Berlin unter anderem dem Verkauf von 775 Sturmgewehren und 141 Granatwerfern sowie weiterem Gerät für einen Preis von 39 Millionen Euro zu. Ob die deutschen Waffen bei der Aufstandsbekämpfung im türkischen Südosten oder jetzt beim Putsch eingesetzt wurden, ist nicht bekannt.

Rüstungskooperation

Dabei unterstützen deutsche Waffenschmieden die Aufrüstung der türkischen Streitkräfte auch durch industrielle Kooperation. So arbeitet Airbus bei der Herstellung von Militärflugzeugen schon seit geraumer Zeit mit dem Unternehmen Turkish Aerospace Industries (TAI) zusammen, das unter anderem Kampfdrohnen produziert.3 Rheinmetall hat letztes Jahr angekündigt, ein Joint Venture mit der türkischen Rüstungsfirma MKEK zu gründen. Die beiden Unternehmen arbeiten seit geraumer Zeit zusammen; so basiert die 120-Millimeter-Glattrohrkanone des von MKEK mitproduzierten Panzers "Altay" auf Technologie von Rheinmetall. Mit dem neuen Joint Venture mit MKEK wolle man die Entwicklung von "neuen zukunftsweisenden Produkten auf dem Gebiet der Waffensysteme und Munition" vorantreiben, teilte Rheinmetall im Mai 2015 mit.4 In der vergangenen Woche haben Airbus und die türkische Rüstungsfirma Roketsan vereinbart, bei der Bewaffnung von Airbus C-295-Flugzeugen mit lasergesteuerten Raketen zu kooperieren.5 Bereits zuvor hatten die beiden Unternehmen sich geeinigt, Airbus-Kampfhubschrauber mit Roketsan-Lenkwaffen auszustatten.6 Roketsan nutzt die dabei gesammelten Erfahrungen, um systematisch Rüstungskäufe im Ausland durch türkische Eigenproduktion zu ersetzen.

Gemeinsamer Einsatz

Daneben weiten die Streitkräfte der NATO-Partner Deutschland und Türkei ihre gemeinsame Übungstätigkeit sowie ihre gemeinsamen Einsätze aus. Erst vor kurzem nahmen Bundeswehrsoldaten des Fallschirmjägerregiments 31 an einem Manöver nahe der türkischen Stadt Izmir teil, bei dem unter anderem Luftlandeoperationen sowie die Infiltration feindlichen Territoriums geprobt wurden. Die Zusammenarbeit mit dem türkischen Militär sei, so hieß es, "sehr respektvoll und von gegenseitiger Akzeptanz geprägt" gewesen.7 Im Rahmen des NATO-Einsatzes zur Abwehr von Flüchtlingen in der Ägäis kooperieren deutsche und türkische Militärs ohnehin weiter: Die Operationen sind durch den Putsch bislang nicht beeinträchtigt worden. Die Bundesregierung hat erst kürzlich mit Bezug auf den Flüchtlingsabwehrpakt, den die EU auf ihr Betreiben hin mit Ankara geschlossen hat, bestätigt, dass die Türkei ihrer Auffassung nach "die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat ... erfüllt".8 Auch davon hat Berlin nach dem Putsch nicht Abstand genommen.


Langfristige Stationierung

Ebenfalls fortgesetzt werden sollen die Operationen der deutschen Luftwaffe gegen den "Islamischen Staat" (IS/Daesh), die vom NATO-Stützpunkt Incirlik nahe der südtürkischen Stadt Adana aus durchgeführt werden. Dort sind gegenwärtig rund 240 deutsche Soldaten stationiert, die mit "Tornado"-Kampfjets und mit einem Tankflugzeug Einsätze fliegen. Die deutsche Luftwaffe richtet sich offenbar für lange Zeit in Incirlik ein: Sie hat begonnen, die Behelfsunterkünfte für ihre Soldaten durch gemauerte Einrichtungen zu ersetzen und eine eigene Flugbetriebsfläche für die deutschen Kampfflugzeuge zu errichten. Außerdem soll ein rund 34 Millionen Euro teurer, voll ausgerüsteter Gefechtsstand für die deutsche Luftwaffe in Incirlik installiert werden.9 Ergänzend ist Berlin um den Abschluss eines langfristigen Stationierungsabkommens bemüht. Dies entspricht der Absicht Berlins, sich künftig stärker als bisher an den militärischen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten zu beteiligen (german-foreign-policy.com berichtete10). Incirlik gilt als für Operationen in der Region überaus günstig gelegener Luftwaffenstandort.

"Nur ein Stromausfall"

Berichten zufolge ist die Luftwaffenbasis Incirlik in erheblichem Maß in den Putsch involviert gewesen. Demnach sind die Putschisten von Incirlik aus mit Versorgungsflügen unterstützt worden.11 Gestern sind der Kommandeur der Luftwaffenbasis, General Bekir Ercan Van, und weitere dort stationierte Militärs wegen Beteiligung an dem Putsch festgenommen worden. Davon unabhängig hat Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen gestern angekündigt, die Bundeswehr werde ihre Einsatzflüge am heutigen Montag wieder aufnehmen: "In Incirlik ist am Wochenende schnell wieder Ruhe eingekehrt", erklärt von der Leyen: "Außer einem Stromausfall und Flugbewegungen auf der türkischen Seite der Luftwaffenbasis hatten die Unruhen der Nacht keine Auswirkungen."12 Ob sich die Behauptung aufrechterhalten lässt, sollte die Lage in der Türkei, wie Experten es befürchten, tatsächlich eskalieren, wird sich zeigen.


Anmerkungen:
1 Rainer Hermann: Warum der Putsch scheiterte. www.faz.net 16.07.2016.
2 Militärputsch in der Türkei: "Dieser Versuch war sehr dilettantisch". www.vorwaerts.de 16.07.2016.
3 S. dazu Waffenbrüder.
4 Gerhard Hegmann: Rheinmetall will Waffen in der Türkei bauen lassen. www.welt.de 07.05.2015.
5 Airbus Signs With Roketsan To Add Missiles, Bombs to C-295. www.defensenews.com 14.07.2016.
6 Türkische Roketsan rüstet Airbus-Kampfhubschrauber mit Cirit-Rakete aus. www.nachrichtenexpress.com 18.06.2016.
7 S. dazu Die Kriege der nächsten Jahre (V).
8 Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8542 vom 24.05.2016.
9 S. dazu Operationsstützpunkt Türkei.
10 S. dazu Die Europäische Kriegsunion.
11 Festnahmen auf NATO-Stützpunkt Incirlik. www.tagesschau.de 16.07.2016.
12 Türkei: Bundeswehr soll wieder Flugbetrieb in Incirlik aufnehmen. www.finanznachrichten.de 17.07.2016.


 
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