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BERLIN/THESSALONIKI/ATHEN/NEW YORK (29.04.2015) - Auf dem ungewöhnlichen Weg über einen Medienbericht hat das griechische Staatsoberhaupt um Einladung nach Berlin gebeten und der Bundesregierung den Verzicht auf Zwangsmaßnahmen wegen deutscher Verbrechensschulden angeboten. Damit bestätigt der griechische Präsident auf höherem diplomatischem Niveau eine identische Festlegung von Regierungschef Tsipras bei dessen kürzlichem Besuch im Berliner Bundeskanzleramt. Laut Interview mit "Spiegel Online" ist Staatspräsident Prokopis Pavlopoulos jetzt zu noch weiter gehenden Zugeständnissen bereit, die er dem deutschen Bundespräsidenten vorstellen möchte. Demnach sei Griechenland "offen" für Gespräche über eine deutsche Behörde ("Stiftung"), die griechische NS-Opfer individuell "entschädigen" könne. Diese vom Auswärtigen Amt seit Monaten vorangetriebene Stiftungsidee zielt auf eine Umkehr der tatsächlichen Rechtslage und würde aus den griechischen Gläubigern Bittsteller bei den deutschen Staatsschuldnern machen. Unter dem steigenden Druck der von Berlin gesteuerten Finanzforderungen an Athen und angesichts mangelnder Unterstützung durch die deutsche Öffentlichkeit deuten die Äußerungen des griechischen Staatsoberhaupts den fortschreitenden Zusammenbruch der ursprünglichen Athener Positionen zur Frage der deutschen Verbrechensschulden an.

Mit Genugtuung sind die am 27. April veröffentlichten Einlassungen des griechischen Präsidenten im Auswärtigen Amt und im Bundespräsidialamt zur Kenntnis genommen worden1. Pavlopoulos hatte zur Frage von Pfändungen deutschen Staatseigentums in Griechenland betont, "dass kein vernünftiger Mensch" Zwangsmaßnahmen wegen der Verbrechensschulden erwäge. "Das ist Nonsens", unterstrich Pavlopoulos, der damit Pfändungsanordnungen italienischer Gerichte wegen unbezahlter NS-Schulden diskreditierte.

"Können Sie vergessen"
Ähnlich hatte sich Ministerpräsident Tsipras bereits bei einem Berlin-Besuch am 22. März geäußert. "Das können Sie vergessen"2, sagte der griechische Ministerpräsident bei einer Pressekonferenz in Gegenwart der deutschen Bundeskanzlerin, als er auf eine eventuelle Beschlagnahme des Athener Goethe-Instituts angesprochen wurde. Eine solche Beschlagnahme hatte zuvor der griechische Justizminister öffentlich in Erwägung gezogen, sollte Berlin eine Rückzahlung der Milliardenschulden weiter ablehnen.

Zivilisierte Länder
Die Anwendung legaler Zwangsmittel, die zum hoheitlichen Instrumentarium souveräner Staaten gehören, möchte Pavlopoulos bei seinem erhofften Staatsbesuch in Berlin durch "ein gemeinsames Forum" ersetzen, "um die Reparationsfrage zu verhandeln"3. Ein solches Forum könne der Internationale Gerichtshof in Den Haag sein, sagte Pavlopoulos laut "Spiegel Online" und unterstrich: "So klären zivilisierte Länder ihre Meinungsverschiedenheiten." Da sich Berlin den Reparationsforderungen prinzipiell widersetzt und bereits bisher sämtliche Rechtsmittel genutzt hat, wäre mit einem abschließenden Urteil gegen die Bundesrepublik entweder gar nicht oder in mehreren Jahrzehnten zu rechnen. Insgesamt 72 UN-Mitgliedsstaaten, die zu den von Pavlopoulos angesprochenen zivilisierten Ländern rechnen dürfen, meiden den Haager Gerichtshof, darunter die USA, Russland, Indien oder die Volksrepublik China.

In höchster Not
Der in Aussicht stehende Triumph der deutschen Außenpolitik über die als gefährlich geltenden Reparationsforderungen ist das Ergebnis ständig neuer Berliner Ultimaten an Athen. Dabei spielen Bundeskanzleramt und Bundesfinanzministerium mit Zuckerbrot und Peitsche. Was den griechischen EU-Unterhändlern im Umgang mit dem deutschen Finanzminister nicht gelingt, hofft der griechische Ministerpräsident in vertraulichen Gesprächen und Eiltelefonaten mit der deutschen Kanzlerin zu retten. Beide Seiten setzen die Reparationsfrage ein, um den Gegner zu Zugeständnissen zu veranlassen. Obwohl in der südeuropäischen wie auch in der deutschen Öffentlichkeit Sympathiebekundungen für die Athener Reparationsforderungen lauter geworden sind, bleibt entschiedener Widerstand gegen Berlin aus. Vor diesem Hintergrund ist die griechische Bereitschaft zu sehen, nun auch individualrechtliche Ansprüche wegen deutscher NS-Massaker einer "Stiftungs"-Lösung zu opfern4. Einer solchen Lösung, die einen "Zukunftsfonds" nach dem Vorbild der Bundesbehörde EVZ favorisiert, ohne die Vergangenheit vollständig abzugelten5, stimmen praktisch sämtliche Bundestagsparteien zu. Sie sind in der Bundesbehörde EVZ gemeinschaftlich vertreten und betreiben die von dem griechischen Staatsoberhaupt dargebotene, in höchster Not erwähnte "Stiftungs"-Lösung seit über zehn Jahren.

Massakerschulden
Außerhalb der von Pavlopoulos und Tsipras angedeuteten Konzessionen bewegen sich zahlreiche deutsche Bürgerinitiativen, die eine sofortige Rückzahlung der Massakerschulden ohne Umwege fordern. Dazu gehören die Unterstützer der Distomo-Opfer6. In Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde von Thessaloniki verlangt der "Zug der Erinnerung" die vollständige und direkte Begleichung der erpressten Fahrtkosten für die antisemitischen Deportationen von 58.000 Griechen nach Auschwitz. Schuldner ist der größte deutsche Staatskonzern, die Deutsche Bahn (DB AG). Wie es in einer Expertise heißt, verschleiere die DB Milliardenschulden aus dem kriminellen Erbe ihres Konzernunternehmens DB Schenker (The Schenker Papers - Teil I auf secarts.org). german-foreign-policy.com bringt heute den zweiten Teil der Expertise, die den tatsächlichen Umfang der deutschen Verbrechensschulden ahnen lässt.

2. Teil

Plünderung

Die Schulden von "Schenker", des Vorläufers von DB Schenker, sind immens. Während des gesamten Krieges plünderte "Schenker" die besetzten Länder systematisch aus. So gingen ab 1941 "zahlreiche Lastwagentransporte von und nach Griechenland"7: auf dem Hinweg mit militärischem Gerät zur Unterdrückung der griechischen Bevölkerung, auf dem Rückweg mit zivilem und staatlichem Beutegut, darunter unzählige religiöse Kultgegenstände. Diesen Weg gingen auch die Hinterlassenschaften der 48.000 in Thessaloniki verschleppten und in Auschwitz ermordeten Menschen. "Schenker"-Athen war daran beteiligt.
In einem einzigen Monat, im September 1943, rechnete "Schenker"-Paris Transporte im Umfang von 237.476 Tonnen ab8, wobei zwischen dem zivil-militärischem Warenaustausch und Raubgeschäften aufgrund ungleicher Verträge kaum zu unterscheiden ist. Der Gewinn wurde an die deutsche Bahn überwiesen. Besonders produktiv war "Schenker"-Paris beim Plündern französischer Museen, privater Galerien und familiärer Hausstände.

Kunstraub
Der frühere Repräsentant der deutschen Bahn in Paris, Karl Streibel, ließ "3 Lastwagenladungen mit Möbeln, Teppichen etc." mitgehen, "offensichtlich geplündert und transportiert von Schenker und Co., Paris", berichtete der US-Nachrichtendienst OSS bei Kriegsende9. Aufgrund von Hinweisen in den Pariser Schenker-Büros ("The Schenker Papers") wird der Umfang der in Frankreich getätigten Diebstähle und Plünderungen auf "mehr als 20 000 Gemälde, Skulpturen und Graphiken"9geschätzt. In einer OSS-Expertise heißt es über "Schenker", man habe es mit "dem bedeutendsten deutschen Unternehmen auf dem Gebiet des Transports von Kunstraub"10 in den besetzten Ländern zu tun. Schenker wurde auf die schwarze Liste der Alliierten gesetzt.

Grausamkeiten
Es genügte "Schenker" nicht, den Krieg für Zwecke wirtschaftlicher Beherrschung Europas zu nutzen und dabei über den Kontinent zu marodieren. Das Tochterunternehmen der staatlichen Bahn und seine arisierte Belegschaft ermunterten die deutsche Front, möglichst viele Gegner möglichst tödlich zu beseitigen.
"Schenker" übernahm die "Patenschaft" für "U 94", ein Boot der 7. deutschen Untersee-Flottille mit Stützpunkt im französischen St. Nazaire, wo U 94 zu zehn "Feindfahrten" auslief.11 Die "Schenker"-Patenschaft galt der Tötung von 455 Seeleuten, die auf britischen, norwegischen, schwedischen und griechischen Dampfern Dienst taten. Allein 36 Tote gab es durch Artilleriebeschuss des portugiesischen Segelschiffes "Maria da Gloria" Es war erkennbar auf Fischfang.
Dass der Name "Schenker" mit solchen Grausamkeiten in Verbindung steht und den heutigen Auftraggebern von DB Schenker schaden könnte, solange Berlin sich weder entschuldigt noch seine materiellen Verpflichtungen als Erbe von "Schenker" erfüllt, wird von den deutschen Verantwortlichen offensichtlich hingenommen.

Erträge
Als der Krieg zu Ende ging, hatte "Schenker" ein stolzes Ergebnis vorzuweisen: Gläubigerbetrug, antisemitische Rassenhetze, Agitation für militärisches Barbarentum, Spionage, Raub, Plünderung und Beihilfe zum Massenmord schienen sich gelohnt zu haben.
Die "Schenker"-Kassen wiesen im Januar 1945, drei Monate vor der deutschen Kapitulation, liquide Mittel in Höhe von 26 Millionen Reichsmark (RM) aus - "überaus hoch"12, heißt es in der Fachliteratur. An einsehbaren Bankguthaben wurden in Deutschland 16,8 Millionen RM gezählt. Addiert werden müssen einheimische Liegenschaften im Wert von 10 Millionen RM. Allein diese Posten ergeben einen Bestand von mindestens 343 Millionen Euro heutigen Werts. Die Zahl führt jedoch in die Irre.

Blutgeld
Hinzuzurechnen sind die im Ausland bestandenen Bankguthaben und die dortigen Liegenschaften. Zum Bilanzierungszeitpunkt waren sie nicht verfügbar, aber wurden von "Schenker" unmittelbar nach Kriegsende eingefordert oder sogar in Anspruch genommen. Vor allem aber fehlen den 343 Millionen Euro die Gewinnabgaben, die Schenker dem Mutterunternehmen und seinem eigentlichen Eigentümer, dem deutschen Staat, als Steuerzahlungen zwischen 1938 und 1945 überwies.
Allein 1943 lieferte "Schenker" an Steuern "nicht weniger als 14 Millionen RM ab"13. 1942 waren der deutschen Bahn 1,5 Millionen RM und 1943 noch einmal 2,4 Millionen RM aus den Bilanzgewinnen ausgezahlt worden. Darüber hinaus bezog die deutsche Bahn von "Schenker" eine Dividende zwischen 4 und 6 Prozent. Legt man ein Mittel dieser Zahlen für die gesamte Kriegszeit zugrunde, ergibt sich ein Ertrag in Höhe von mindestens einer Milliarde Euro, der zu den 343 Millionen addiert werden muss. Diese toten Ziffern stehen für einen unbekannten Anteil an Blutgeld.

Fragen
Davon hat DB Schenker bis heute nicht einen einzigen Cent zurückgezahlt, jedenfalls ist davon nichts bekannt. Das Mutterunternehmen, die Deutsche Bahn AG und damit der deutsche Staat, weigern sich nicht nur, ihre Schuldenpflicht in vollem Umfang anzuerkennen und bereitzustellen - sie verheimlichen diese Pflichten sogar vor ihren oft ahnungslosen Gläubigern, die DB Schenker für ein unbelastetes, seriöses Unternehmen halten. Heute verfügt DB Schenker an den Stätten des kriminellen Wirkens seines fast namensgleichen Vorgängers über gut florierende Niederlassungen - etwa in Athen und Thessaloniki.
Hat der Eigentümer von DB Schenker, der deutsche Staat, die hier geschilderte "Schenker"-Beihilfe zum Massenmord an den jüdischen Gemeinden Griechenlands je eingestanden? Hat DB Schenker die "Schenker"-Beteiligung an den Menschheitsverbrechen in hunderten griechischen Gemeinden je aufgedeckt? Ähnliche Fragen ließen sich auch in Warschau, Amsterdam, Paris, London oder New York stellen. Die Antworten wären stets dieselben.

Kontinuität
Das Schweigen über "Schenker" dauerts jetzt seit 70 Jahren. Auch unmittelbar nach Kriegsende und trotz der noch frischen Wunden, die Deutschland den europäischen Nationen geschlagen hatte, sahen die Erben des Staatsunternehmen keinen Anlass zur Reue. Im Gegenteil. Die Nachkriegsfirma Schenker und ihre griechischen Kollaborateure trafen sich 1947 in Wien als wäre nichts geschehen. Man war "bereits in vollem Umfang tätig"14, Athen meldete Kontinuität.
1947 reaktivierte Schenker-USA seine Geschäfte. Für Schulden vor dem Kapitulationsdatum im Mai 1945 hatten die Westalliierten eine Zahlungssperre verfügt. Als ausländische Gläubiger ihre Forderungen zumindest auf einem Sperrkonto in Deutschland abgesichert sehen wollten, wurden sie zurückgewiesen. "Schenker"-Mann Veesenmayer, wegen seiner Mordverbrechen ursprünglich zu 20 Jahren Haft verurteilt, kam 1951 wieder frei. Der Kalte Krieg war im Gange. Das Londoner Schuldenabkommen von 1953 vertagte die deutschen Verpflichtungen, auch die von Schenker. Anlässlich eines Friedensvertrages mit Deutschland sollten sie irgendwann später verhandelt werden.

Milliardenschwer und führend
Seinen Frieden hat Deutschland inzwischen gefunden, aber DB Schenker hält seine geerbten Schulden vor den Opferfamilien noch immer versteckt. DB Schenker ist ein geschätztes, milliardenschweres deutsches Staatsunternehmen mit Niederlassungen und Repräsentanzen in der ganzen Welt. In Griechenland, in Israel und in den USA ist es führend.

(C): Train of Commemoration. Reg. Civil Org. All rights reserved 2015.

Bitte lesen Sie auch Dringender Appell. Der Appell kann hier gezeichnet werden.

Anmerkungen:
1 Gespräch mit Prokopis Pavlopoulos. Griechenlands Präsident verspricht Rückzahlung aller Schulden. www.spiegel.de 27.04.2015.
2 "Weder sind die Griechen Faulenzer, noch sind die Deutschen schuld". www.faz.net 23.03.2015.
3 Gespräch mit Prokopis Pavlopoulos. Griechenlands Präsident verspricht Rückzahlung aller Schulden. www.spiegel.de 27.04.2015.
4, 5 S. Dazu Dringender Appell.
6 AK-Distomo. http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ak-distomo/ .
7, 8 Zit. Nach: Herbert Matis, Dieter Stiefel: "Grenzenlos". Die Geschichte der internationalen Spedition Schenker 1931 bis 1990, Wien 2002. S. 40 f., S. 56, S. 59.
9 Safehaven report on Karl Streibel. National Archives. Holocaust-Era Assets. Military Agency Records. Records of the Office of Strategic Studies. RG 226/12516.
10 Zit. nach: Herbert Matis, Dieter Stiefel: "Grenzenlos". S .60.
11 Erich Gröner: U-Boote, Hilfskreuzer, Minenschiffe, Netzleger, Sperrbrecher. Die deutschen Kriegsschiffe 1815-1945. Koblenz 1985.
12, 13 Diese und die folgenden Zahlen sowie zahlreiche Details zum Wirken von Schenker verdanken wir dem verdienstvollen Werk von Herbert Matis, Dieter Stiefel: "Grenzenlos", das auch in englischer Ãœbersetzung erschienen ist. Hier: S.77, S. 62.
14 Ebd., S. 80.

 
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