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Von secarts

Ein wichtiges Buch ist neu erschienen. Mit der Neuauflage von Kurt Gossweilers „Kapital, Reichswehr und NSDAP - Zur Frühgeschichte des deutschen Faschismus 1929 bis 1924“ ist eines der wesentlichen Quellenwerke zur marxistischen Faschismusanalyse, speziell zur Analyse seiner deutschen Spielart des NS-Faschismus, wieder verfügbar. Nötig ist dies aus zwei Gründen: Einerseits, um die Entwicklung des deutschen Faschismus, der weder aus luftleerem Raum noch aus den Hirnen einzelner Verbrecher oder Verrückter entsprang, begreifen zu können – jenseits Knopp’scher Geschichtsneudeutungen und Totalitarismus-theoretischer Verharmlosungen. Andererseits, um der überfälligen Debatte um Parallelen und Unterschiede zweier Krisenzeiten – der „großen Krise“ ab 1929/30 sowie der aktuellen Krise ab 2008 – das notwendige wissenschaftliche Fundament zu verleihen. Zu beiden Fragestellungen, einer historischen und einer politischen, kann Gossweilers Werk und die ihm zugrundeliegende Arbeitsmethode wichtige Zugänge leisten.

Faschismus als modifizierte bürgerliche Herrschaft

Gossweilers Ausgangspunkt ist das Jahr 1918: Europa liegt in Trümmern, der Weltkrieg hat Millionen Leben verschlungen. Unter den imperialistischen Mächten, die das Völkergemetzel entfachten, haben sich nach vier Jahren Krieg die Kräfteverhältnisse grundlegend verschoben. Das kaiserliche Deutschland, das den Krieg zu ungezügelten Expansionszwecken entfesselte, ist geschlagen, verkleinert und dem Versailler Vertrag unterworfen. Als Republik steht die gestutzte Großmacht auf tönernen Füßen; die durch die Novemberrevolution an die Macht gebrachten Reformsozialisten, die deutschen Mehrheitssozialdemokraten, zaudern und zögern vor jedem Schritt gegen die Mächte des untergegangenen Kaiserreiches.
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© by PapyRossa Großbildansicht gossweiler_kapital.jpg (9.8 KB)
ISBN: 978-3-89438-455-5
Als Katalysator kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten hat der Weltkrieg obendrein Millionen Kleinbürger verarmen, Millionen Arbeiter verelenden lassen. Der „alte Mittelstand“ aus Händlern, Handwerksmeistern und Gewerbetreibenden, die zuverlässige soziale Stütze des alten Kaiserreiches, muss einen Niedergang, der unter „friedlichen Zeiten“ Jahrzehnte gedauert hätte, im Zeitraffer weniger Jahre erleben. Die Arbeiterklasse ist am Ende dieses Blutbades zu guten Teilen pazifistisch und internationalistisch gesinnt – revolutionäre Hoffnungen und Bestrebungen treten an die Oberfläche. Erst fünf weitere Jahre später kann das Menetekel der sozialen Revolution, dank tatkräftiger Schützenhilfe der SPD, endgültig gebannt werden. Die deutsche Monopolbourgeoisie, die größte Hoffnungen in den Waffengang gesetzt hatte, sieht sich nicht nur um sämtliche kühnen Pläne zur Hegemonie gebracht, sondern weit hinter ihre Ausgangsbasis des Jahres 1914 zurückgeworfen. Der erste Anlauf zur deutschen Weltherrschaft ist in einem Desaster geendet.

Unter diesen Bedingungen entstehen in Deutschland und Italien gänzlich neue politische Organisationen: faschistische Gruppierungen und Parteien. Die Herrschenden beider Länder eint, wiewohl im Krieg gegeneinander aufgestellt, der Revanchegedanke: in Deutschland für die Niederlage, in Italien für den als „geprellt“ empfundenen Sieg. Eine starke und in Teilen revolutionäre Arbeiterbewegung zwingt die herrschenden Klassen beider Länder, eine neue Massenbasis für ihren Machterhalt zu generieren – die alten sozialen Stützen der Vorkriegsordnung mit ihren nationalistischen und monarchistischen Parteien sind im Krieg ökonomisch abgestürzt und politisch diskreditiert worden. Für zweiten Versuch, die Welt doch noch neu aufzuteilen (und dazu zunächst die verlorene Ausgangsbasis des Jahres 1914 wieder herzustellen), bieten sich neue Kräfte an: die millionenfach ohne Arbeit und Orientierung aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten, die keinen Anschluss an den Frieden finden, verkrachte Existenzen aus Kleinbürgertum und Intelligenz.

Was nützt uns Gossweilers Ansatz heute?

Aus diesem Gemengelage, das vielfach völkische Grüppchen und antisemitische Sekten gebar, sollte später die NSDAP als führende, zuletzt einzige Kraft hervorgehen. Gossweiler zeigt quellensatt und akribisch auf, wie dies funktionierte. „Übereinstimmung herrscht darüber, dass dieses Bild [von der Genese und Herrschaft des deutschen Faschismus, S. C.], soll es historisch wahr sein, die Hitler und Konsorten weder zu klein, etwa nur als Marionetten, die an den Drähten der Monopolbourgeoisie zappelten, noch zu groß, z. B. als ‚Herrscher über Reiche und Arme’, zeichnen darf“, schreibt der Autor im Vorwort. Das ist die große Stärke des Buches – mit zwei grundsätzlich falschen Vorstellungen über historische Abläufe aufzuräumen: Hitlers Machtantritt war ebenso wenig konsequenter, also „unabwendbarer“ Schlusspunkt einer Verschwörung geheimer Vorstandsetagen, wie er ein Erfolg der faschistischen Psychologie und Propaganda, des „Genies des Führers“ oder der „Dämonie des Bösen“ war.
Dimitroff und die Schwierigkeiten einer marxistischen Faschismusdefinition

„Auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935 wurde im Referat Georgi Dimitroffs und in der Diskussion zu diesem eine umfassende, tiefgründige Analyse des Faschismus gegeben, in deren Mittelpunkt die Kennzeichnung der Klassennatur des Faschismus an der Macht als »offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« stand. Diese Wesensbestimmung des Faschismus hat allen Prüfungen durch die Geschichte standgehalten.

Das bedeutet jedoch nicht, daß mit ihr alle Fragen der Faschismusproblematik ein für allemal gelöst wurden. Gegen eine solche dogmatische Auffassung wandte sich Georgi Dimitroff ausdrücklich in seinem Schlußwort zur Diskussion über sein Referat, indem er folgenden wichtigen Hinweis für das richtige Herangehen an die konkrete Analyse des Faschismus gab: Keinerlei allgemeine Charakteristik des Faschismus, so sagte er, sie möge an sich noch so richtig sein, enthebe die Kommunisten der Pflicht, »die Eigenart der Entwicklung des Faschismus und der verschiedenen Formen der faschistischen Diktatur in einzelnen Ländern und in verschiedenen Etappen konkret zu studieren und zu berücksichtigen«.“

Kurt Gossweiler
Aus dem buntscheckigen reaktionär-alldeutschen, völkisch-antisemitischen Milieu, das bereits im Kaiserreich existierte, wuchs sich – durch die individuelle Verrohung, die der Weltkrieg mit sich brachte, und durch verschlechterte soziale Bedingungen – ein neuer Typus faschistischer Massenorganisationen aus. Durch „Versuch und Irrtum“ setzten sich dabei diejenigen Parteien und Politiker, die am Ehesten zur Schaffung einer Massenbasis über Klassenschranken hinweg in der Lage waren, durch. Das Monopolkapital ließ sich diese - beinahe „marktwirtschaftliche“ - Ermittlung geeigneter faschistischer Parteien einiges kosten. Unter all den Testballons trat die NSDAP nur wenige Jahre nach ihrer Gründung als Sieger im Ringen um die Gunst des Monopolkapitals hervor.

Gossweiler nimmt eine essentielle Unterscheidung vor, zwischen faschistischer Bewegung und Faschismus an der Macht. Ließe sich nur eine Schlussfolgerung aus dem Aufstieg der NSDAP zur Massenpartei ziehen, dann diese: die einzige Ideologie des Faschismus ist der Pragmatismus. All das Ornament an völkischen Phantasien und landes- wie zeittypischen Erscheinungsformen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Faschisten nicht dank ihrer Talente oder Ideen die politische Herrschaft überantwortet wird – ausschließlich ihre Fähigkeit, eine möglichst große Massenbasis in den Dienst der herrschenden Klasse zu stellen, ist für die Gunst der Bourgeoisie entscheidend. Wie das in den zwanziger Jahren vonstatten ging, zeigt Gossweilers Buch in aller nötigen Tiefenschärfe. Heute, in einer akuten kapitalistischen Wirtschaftskrise, lassen sich in ganz Europa „moderne“ Versuche, rückwärtsgewandte militante Massenbewegungen zu generieren, beobachten. Nicht deren Nähe zu und Anleihen an vergangene faschistische Regimes ist entscheidend für ihren Erfolg (das Gegenteil kann der Fall sein), sondern ihre potentielle Eignung als Massenbasis bürgerlicher Herrschaft, wenn der Parlamentarismus zur Disposition gestellt werden sollte. Wir haben uns aktuell weniger mit dem Faschismus als Herrschaftsprinzip zu beschäftigen, sondern mit der Entstehung faschistischer Bewegungen. Und diese Etappe ist vergleichbar: wie schon in den zwanziger Jahren steigen Testballons in Hülle und Fülle auf – mit antisemitischen, antiarabischen und antiamerikanischen Ansätzen, mit „antikapitalistischer“ ebenso wie mit pseudorevolutionärer Tünche, in schwarz-weiß-rot wie schwarz-rot-gold. Noch ist der Parlamentarismus Herrschaftsform der Wahl. Doch die bürgerlichen Abwickler der Demokratie stehen in den Startlöchern.


Kurt Gossweiler:

Kapital, Reichswehr und NSDAP.
Zur Frühgeschichte des deutschen Faschismus 1929 bis 1924


PapyRossa Verlag, Köln 2011
ISBN 978-3-89438-455-5
471 Seiten, 28 Euro. » Bezug über den Verlag



Dieser Artikel ist erschienen im "Berliner Anstoß", Zeitung der DKP Berlin, Februar 2012.