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BERLIN/WASHINGTON (05.01.2012) - Zum Jahresbeginn 2012 warnt ein langjähriger politischer Berater der Washingtoner Diplomatie Berlin vor einer Fortsetzung seiner Krisenpolitik. Der Bundesrepublik sei es in den letzten Jahren gelungen, ihr "inoffizielles Wirtschaftsimperium in Mitteleuropa wiederzubeleben". Damit habe sie eine herausragende Position erreicht. Das deutsche Bemühen jedoch, in der derzeitigen Eurokrise eine "politische Union" und damit die Unterordnung der anderen EU-Staaten zu erzwingen, werde scheitern, urteilt Tony Corn, einst Dozent am Foreign Service Institute der US-Regierung, einer zentralen Ausbildungsstätte des US-Außenministeriums: "Die deutschen Eliten" liefen Gefahr, ihre exzellente "Stellung zu verlieren", indem sie versuchten, "aus den siebenundzwanzig Mitgliedern der Europäischen Union ein modernes Gegenstück zu den siebenundzwanzig Bundesstaaten des Deutschen Kaiserreichs zu machen". Dies werde im Ausland durchaus als Versuch verstanden, einen "sanfteren, freundlicheren 'Anschluss'" zu erzwingen - und es werde entsprechend auf Widerstand stoßen. Die "politische Führung Deutschlands" zeige zur Zeit "denselben Mangel an Staatskunst wie am Vorabend des Ersten Weltkriegs".

Gegen die USA und China

Ein Element mit zentraler Bedeutung insbesondere auch für die aktuelle Eurokrise sieht Tony Corn im deutschen Streben nach einer globalen Führungsrolle. Berlin halte sich für das Kraftzentrum des europäischen Kontinents inklusive dessen östlicher Verlängerung nach Sibirien und Zentralasien ("Eurasien") und meine fähig zu sein, mit den Weltmächten USA im Westen und China im Osten zu konkurrieren. In der deutschen Hauptstadt stehe nur noch zur Debatte, ob man dazu allein oder aber im Verbund der EU antreten wolle. "Die deutschen Eliten scheinen zu glauben, es sei Deutschlands Bestimmung, zum 'Reich der Mitte' Eurasiens zu werden, und ihr Land sei stark genug, das entweder 'im Alleingang' zu schaffen oder den Europäern eine Föderation aufzuzwingen", schreibt Corn. Den Gedanken, es "im Alleingang" schaffen zu können, hält der US-Experte für "lächerlich"1: Wie knapp 82 Millionen Deutsche langfristig größere Macht bilden sollten als 1,3 Milliarden Chinesen, gestützt auf eine boomende Wirtschaft, sei ihm vollkommen unerfindlich. Den Versuch, eine europäische Föderation zu bilden, meint Corn hingegen hinter der aktuellen Krisenpolitik der Berliner Regierung erkannt zu haben.

Geoökonomie

Corn bezieht sich in seiner Analyse unter anderem auf den Außenpolitik-Experten Hans Kundnani vom European Council on Foreign Relations.2 Dieser hob im vergangenen Sommer die zentrale Rolle hervor, welche die Wirtschaft beim Ausbau der globalen Machtstellung Deutschlands spielt. Demnach verfolgt Berlin nicht nur mit aller Kraft seine ökonomischen Interessen, es nutzt seinen wirtschaftlichen Einfluss auch, um andere Staaten zur Unterordnung unter seine Vorstellungen zu zwingen. Kundnani spricht - in Anlehnung an den Begriff "Geopolitik" - im Fall Deutschlands von einem Konzept der "Geoökonomie". Ein Beispiel ist ihm zufolge das deutsche Vorgehen in der Eurokrise: Berlin verhindere, gestützt auf ökonomische Macht, alles, was wie Eurobonds oder der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB die Inflation fördern oder sich anderweitig negativ auf die deutschen Exporte auswirken könnte - und damit die Konkurrenzfähigkeit insbesondere gegenüber China schmälerte. Dafür nehme die Bundesregierung in Kauf, dass ihre harte Austeritätspolitik die Länder an der Europeripherie gravierend schädige und die EU an den Rand des Zusammenbruchs treibe. Berlin lässt demnach südeuropäische Staaten sich in den Ruin sparen, um auch in Zukunft ökonomisch mit China rivalisieren zu können - an der Spitze der Weltwirtschaft.

Merkmale der Dominanz

Der US-Analytiker Corn verweist zusätzlich darauf, dass die Bundesregierung die Eurokrise nutzt, um die übrigen EU-Staaten weitreichender Berliner Kontrolle zu unterwerfen. Corn erinnert daran, dass sich führende deutsche Politiker in der Vergangenheit mehrfach für die Transformation der EU in eine Art Bundesstaat eingesetzt hätten. Vor allem Frankreich habe dies bisher verhindern können. In der Eurokrise verlange Berlin nun erneut eine "politische Union" und sei dabei, sie zu erzwingen - zunächst mit Hilfe von EU-Durchgriffsrechten auf nationale Etats. Widerstand werde wegen des Krisendrucks kaum noch geübt, obwohl die Kräfteverhältnisse die deutsche Dominanz deutlich erkennen ließen: "Demographisch ebenso wie ökonomisch ist Deutschland heute ein Drittel größer als sowohl Frankreich wie auch Großbritannien." Auch in den EU-Institutionen schlage sich Berlins größeres Gewicht quantitativ wie qualitativ nieder: Deutschland stelle die meisten Abgeordneten im EU-Parlament und profitiere am stärksten vom System der "doppelten Mehrheit" im Europäischen Rat; die Europäische Zentralbank (EZB) sei quasi "ein Clon der Bundesbank". Corn vergleicht die deutsche Dominanz mit der Vorherrschaft Preußens im Deutschen Reich von 1871: "Unterhalb von Preußen folgten drei Königreiche von geringerer Bedeutung (Bayern, Sachsen, Württemberg) - wie Frankreich, Großbritannien und Italien heute". Den kleineren Reichsgliedern entsprächen in der EU die kleineren Mitgliedstaaten. "Preußens Kontrolle über ein Drittel der Bundesratsstimmen gab ihm ein Vetorecht"; über ein solches verfügten Deutschland und seine engsten Verbündeten im heutigen EU-Zusammenschluss faktisch ebenfalls.3

Ein sanfter "Anschluss"

Corn verhehlt nicht, dass seine Sorge über die deutsche Dominanz in der EU auch daraus resultiert, dass Berlins enge außenpolitische Kooperation mit Moskau den US-Interessen widerspricht. Er hält jedoch den Fortbestand der EU unter den von der Bundesregierung verlangten Rahmenbedingungen für unmöglich, schon aus ökonomischen Gründen: So müsse zumindest die EZB "nach dem Vorbild der amerikanischen Notenbank umgestaltet werden"4, ein von Paris zur Rettung aus der aktuellen Krise befürworteter Schritt, dem Berlin sich bislang kompromisslos widersetzt. Corn verweist auch darauf, dass das deutsche Bestreben, ökonomisch nicht weiter hinter China zurückzufallen, faktisch aussichtslos und daher unsinnig erscheint: Man müsse sich der Tatsache stellen, "dass Chinas Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt (nach OECD-Angaben) den der Eurozone 2013 und den der siebenundzwanzig EU-Staaten 2015 überholen wird". In Berlin reagiere man darauf mit Hektik; das trage wiederum dazu bei, "dass die Beziehungen Deutschlands zu Europa weniger von Kooperation als von Zwang geprägt sind".5 Infolge dieses Zwangs ähnele die von Berlin forcierte "politische Union" in den Augen vieler Europäer "auf unheimliche Weise einem sanfteren, freundlicheren 'Anschluss'".6

Eine Botschaft

Corn wendet sich zum Jahresbeginn 2012 mit einer "Botschaft" ausdrücklich "an die deutschen Eliten". Anspielend auf Äußerungen deutscher Politiker wie etwa diejenige, dass "jetzt in Europa deutsch gesprochen" werde7, schreibt er in einem aktuellen Medienbeitrag, "das multinationale, von unterschiedlichen Geschwindigkeiten geprägte Habsburgerreich", in dem Nichtdeutsche nicht gezwungen worden seien, "sich als Deutsche neu zu erfinden", sei "das einzige Reich" gewesen, "das jemals den Geist Europas atmete".8 Anders habe es sich mit dem brutal germanisierenden deutschen Kaiserreich verhalten. "Wenn Sie Sehnsucht nach dem Kaiserreich haben, können Sie ja in Ihrem Land die Hohenzollernmonarchie wiederherstellen", schreibt Corn: "Aber Sie sollten sich ein für alle Mal von dem Gedanken verabschieden, aus der Europäischen Union ein größeres Kaiserreich zu machen."


Anmerkungen:
1 Tony Corn: Neue deutsche Illusionen; Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.01.2012
2 Hans Kundnani: Germany as a Geo-economic power; the Washington Quarterly, Summer 2011
3 Tony Corn: Toward a Gentler, Kinder German Reich? Small Wars Journal 29.11.2011
4, 5 Tony Corn: Neue deutsche Illusionen; Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.01.2012
6 Tony Corn: Toward a Gentler, Kinder German Reich? Small Wars Journal 29.11.2011
7 s. dazu Jetzt wird Deutsch gesprochen
8 Tony Corn: Neue deutsche Illusionen; Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.01.2012


 
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