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Nachstehender Aufsatz wurde vor 40 Jahren anlässlich der westdeutschen Erstaufführung von Brechts „Die Tage der Commune“ für das Programmheft der Württembergischen Staatstheater Stuttgart 1970 geschrieben. Seine Argumentationsrichtung ist aktueller denn je, bemerkenswert auch, was damals in einer staatlichen Institution eines CDU-regierten Landes gesagt werden konnte.

Die Pariser Commune war die Antwort der Arbeiterklasse auf die Unfähigkeit der Bourgeoisie, Frankreich in der Krise zu regieren, es daus der Krise herauszuführen. Das Abenteuer des Bonapartismus, das die Klassenwidersprüche in der Zeit des Übergangs zum Hochkapitalismus durch Diktatur nach innen und durch eine expansive nationale Großmachtpolitik nach außen verdeckt hatte, war in den Niederlagen von Metz und Sedan zu Ende gegangen. Frankreichs Großbürgertum setzte auf die Spekulanten der 3. Republik und musste an die monarchistischen Traditionen der rückständigsten Agrarprovinzen appellieren, um sich eine Basis für seine Machtausübung zu verschaffen.

In der innerhalb von acht Tagen nach der Kapitulation vom 28. Januar 1871 zu wählenden Nationalversammlung dominierten die royalistischen Grundbesitzer - ein Beispiel perfekter Manipulation der Demokratie, auf das Karl Marx sogleich in seiner Analyse des Bürgerkriegs in Frankreich aufmerksam machte: „Damals war über ein Drittel des Landes in den Händen des Feindes, die Hauptstadt war von den Provinzen abgeschnitten, alle Verkehrsmittel waren in Unordnung. Es war unmöglich, unter solchen Umständen eine wirkliche Vertretung Frankreichs zu erwählen, wenn nicht volle Zeit zur Vorbereitung gegeben wurde. Gerade deshalb gelang die Kapitulation, dass eine Nationalversammlung innerhalb von acht Tagen zu wählen sei, so dass in manchen Teilen Frankreichs die Nachricht von der vorzunehmenden Wahl erst den Tag vorher ankam.“
[file-periodicals#125]Thiers, als Repräsentant der Finanz- und Industriekreise republikanischer Ministerpräsident geworden, stützte sich nun auf ein ausgewogenes Gegeneinander und Zusammenspiel der bourbonistischen Agrarier und der bonapartistischen Militärs, denen durch die von Bismarck gewährte vorzeitige Entlassung der Kriegsgefangenen ein einsatzfähiges Instrument zurückgegeben war. Im Augenblick des Zusammenbruchs der napoleonischen Herrschaft hatten die Arbeiter und Kleinbürger von Paris, organisiert und bewaffnet in der Miliztruppe der Nationalgarden, am 4. September 1870 die Republik ausgerufen und den Widerstand gegen die preußischen Armeen als einen Volkskrieg fortgesetzt. Die provisorische Regierung, die sich als Kabinett der nationalen Verteidigung ausgab, aber insgeheim bereits auf die Kapitulation hinarbeitete, wurde von ihnen akzeptiert, bis der Ministerpräsident, gestützt auf das Scheinparlament, durch einen nächtlichen Handstreich die Nationalgarden zu entwaffnen versuchte. Der Überfall wurde zurückgewiesen, und die empörten Citoyens von Paris proklamierten die Commune als die erste nach den Prinzipien der Selbstverwaltung organisierte Gesellschaft. Im Manifest des Zentralkomitees der Nationalgarden vom 18. März 1871 heißt es: „Die Proletarier von Paris, inmitten der Niederlagen und des Verrats der herrschenden Klassen, haben begriffen, dass die Stunde geschlagen hat, wo sie die Lage retten müssen, dadurch, dass sie die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in ihre eigenen Hände nehmen.“ Marx kommentiert: „Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen.“

Das heißt: der nationale Abwehrkampf gegen den äußeren Feind war in einen Klassenkampf im Lande selbst umgeschlagen. Wollte das Volk die Selbstbestimmung verwirklichen, dann musste die Struktur des bourgeoisen Staats, des Herrschaftsapparats der Besitzenden, zerschlagen werden. Primär gefordert waren die Transparenz der Verwaltung und die Beseitigung der Korruption. Darum wurde die Entlohnung für jede Art öffentlichen Dienstes dem Arbeiterlohn angeglichen und die in den Bezirken nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Stadträte der direkten Verantwortung gegenüber ihren Wählern unterstellt, von denen sie jederzeit abgesetzt werden konnten. Die Commune „war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte. Die politische Herrschaft des Produzenten kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Commune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht“ (Marx).
Die Herstellung der unmittelbaren politischen Demokratie musste einhergehen mit der Aufhebung der wirtschaftlichen Macht, die jede politische Entscheidung würde präjudizieren können.

Mit der Einführung der Kommunalverfassung in Paris war darum der Klassenkampf in ein revolutionäres Stadium eingetreten. Niemand erkannte das besser als die bisherigen Inhaber der wirtschaftlichen Macht. Thiers als ihr Sprecher und Exekutor hatte schon seit der Ausrufung der Republik im September 1870 nicht mehr die deutsche Invasion, sondern die eigenen Arbeiter als den Hauptfeind betrachtet. Vom 18. März 1871 an war sein ganzes Streben auf die Niederwerfung der Communarden gerichtet. Die Bitte um die vorzeitige Entlassung der Kriegsgefangenen, zuvor schon das von Bismarck abgeschlagene Ersuchen um den Einsatz preußischer Truppen gegen die Nationalgarden, die sich streng an die Waffenstillstandsbedingungen hielten, hatten die gewaltsame Beseitigung der Commune zum Ziel.

Dass die herrschenden Klassen jeden Umsturz mit brutaler Gewalt bekämpfen, ist eine historische Erfahrung, die den französischen Arbeitern noch von der blutigen Unterdrückung der Junirevolution 1848 hätte gegenwärtig sein sollen. Der Handstreich gegen die Nationalgarde hätte sie über den wahren Charakter der Regierung Thiers belehren müssen. Wer die Machtverhältnisse im Staate verändern will, muss auch bereit sein, Macht anzuwenden; er darf nicht warten, bis der Gegner seine Kräfte wieder gesammelt hat, um sie aufs Neue ins Feld zu führen. Die Communarden ließen Thiers vor den Toren von Paris in Versailles residieren, ließen ihm einen Monat Zeit, Truppen zusammenzuziehen und die Stadt einzukesseln.
Sie versäumten es, den Ring zu durchbrechen und die Revolution ins Land zu tragen, sie versäumten, gleich in der ersten Stunde Thiers in Versailles auszuheben und so die Reaktion ihrer Spitze zu berauben. Sie ließen in der Stadt ihre Gegner ungeschoren, Brüderlichkeit stellten sie über Wachsamkeit; als ihr Zorn, durch die Gräueltaten der Belagerer entfacht, in Gewalt umschlug, war es zu spät. Mit Recht tadelte Lenin den fehlenden Realismus der Communarden: „Zwei Fehler machten jedoch die Früchte des glänzenden Sieges zunichte. Das Proletariat blieb auf halbem Wege stehen: statt zur Expropriation der Expropriateure zu schreiten, gab es sich Träumen darüber hin, dass sich in dem durch die gesamtnationale Aufgabe geeinigten Lande die höchste Gerechtigkeit niederlassen werde. Solche Einrichtungen wie zum Beispiel die Bank wurden nicht in Besitz genommen, unter den Sozialisten herrschten noch die proudhonistischen Theorien des gerechten Austauschs usw. Der zweite Fehler war die übermäßige Großmut des Proletariats: es hätte seine Feinde vernichten müssen, statt dessen aber bemühte es sich, sie moralisch zu beeinflussen; es ließ die Bedeutung rein militärischer Aktionen im Bürgerkrieg außer Acht, und statt seinen Pariser Sieg durch einen entschlossenen Angriff auf Versailles zu krönen, zögerte es und gab der Versailler Regierung Zeit, die finsteren Mächte zu sammeln und zur blutigen Maiwoche zu rüsten.“ Wer Gewaltanwendung gewärtigen muss, kommt nicht umhin, sich auch der Gewalt zu bedienen.“

Die reine Moral der Gewaltlosigkeit ist die Schutzideologie des Bürgers, der den Umsturz fürchtet; er vergisst sie rasch genug, wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen gegen andere, um die Verteidigung seines Besitzes geht. 30.000 Männer, Frauen und Kinder wurden von den Soldaten Mac- Mahons bei der Niederwerfung der Commune niedergemetzelt — Opfer eben jener Bürger, die die Gewalt zu verdammen pflegen. Solange der Mensch des Menschen Wolf ist, bedeutet der Verzicht auf Gewalt zugleich Unterwerfung.

Die Pariser Commune war der erste Versuch, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, in der der Mensch des Menschen Genosse ist. Doch die Vermenschlichung des Menschen ist kein bloß moralischer, sondern primär ein politischer Prozess, der der machtvollen Organisation bedarf, um die Widerstände des Bestehenden zu überwinden, um sich gegen die Feinde behaupten zu können; selbst auf die Gefahr hin, dass in der Organisation die Reinheit des Wollens und der Mittel nicht ungetrübt erhalten bleiben kann. Die Freiheit wird nicht aus unbefleckter Empfängnis geboren.

 
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