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Dossier: Das Spiel ist aus //
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SANAA/BERLIN (25.03.2011) - Erneut steht im arabischen Mittleren Osten ein Partnerregime Berlins und des Westens vor dem Sturz. Im Jemen spitzen sich die Proteste gegen den Präsidenten des Landes dramatisch zu: Seit einem Massaker der Repressionsapparate am vergangenen Freitag sagen sich wie in Libyen Politiker und Diplomaten von der Regierung los, die Armee ist gespalten, es kommt zu ersten Gefechten zwischen loyalen und rebellierenden Truppenteilen. Für den heutigen Freitag sind erneut Massenproteste angekündigt. Der Jemen besitzt für Berlin große geostrategische Bedeutung: Entlang seiner Küsten führen bedeutende Seehandelswege nach Ostasien sowie in den Persischen Golf. Auch ist er Schauplatz westlicher Gewaltmaßnahmen, die sich gegen islamistische Kräfte richten: Aus Afghanistan-Rückkehrern, die in den 1980er Jahren an der Seite des Westens am Hindukusch gegen die Sowjetunion kämpften, haben sich antiwestliche Kräfte entwickelt, die heute Ziel US-amerikanischer Raketen- und Drohnenattacken sind. Zur Stabilisierung des Regimes unterstützt die Bundesrepublik seit Jahrzehnten Polizei und Militär des Landes mit Ausrüstung und Trainingsmaßnahmen. Schon vor Jahren wurden auch Schusswaffen und Munition geliefert, die am heutigen Freitag in Sanaa zum Einsatz kommen können.

Eskalation

Die inneren Auseinandersetzungen im Jemen haben sich in den letzten Tagen dramatisch zugespitzt. Nach dem Massaker vom vergangenen Freitag, bei dem staatliche Repressionskräfte mehr als 50 Demonstranten erschossen, gewinnt die Opposition gegen den Staatspräsidenten an Kraft. Ähnlich wie zuvor in Libyen haben einflussreiche Diplomaten und Politiker, aber auch mächtige Stämme dem Regime die Gefolgschaft aufgekündigt. Die Armee ist gespalten; in der Hauptstadt Sanaa stehen Einheiten, die zur Opposition übergelaufen sind, der loyalen Elitetruppe "Republikanische Garde" gegenüber, die von einem Sohn des Staatspräsidenten befehligt wird. Am gestrigen Donnerstag kam es zu ersten Zusammenstößen zwischen verschiedenen Truppenteilen in Mukalla im Südosten des Landes. Für den heutigen Freitag sind weitere Protestdemonstrationen angekündigt. Weil mit blutigen Auseinandersetzungen zu rechnen ist, hat die Bundesregierung nun deutsche Entwicklungshelfer abgezogen und ihr Botschaftspersonal auf ein Kernteam reduziert. Beobachter schließen einen Bürgerkrieg und sogar den totalen Zerfall des jemenitischen Staates nicht aus.

"Strategisch extrem wichtig"

Für Berlin und den Westen wäre eine solche Entwicklung fatal. "Der Jemen ist strategisch extrem wichtig", erklärte Entwicklungsminister Dirk Niebel am gestrigen Donnerstag. Hintergrund ist die geostrategische Lage des Landes: An seinen Küsten führen die Seehandelswege aus Europa nach Asien und die Erdöl- und Erdgastransportrouten aus dem Persischen Golf in die EU entlang. Seit sich im zersplitterten Somalia Piraten festgesetzt haben, die den Seehandel bedrohen1, legt der Westen großen Wert darauf, einen Zerfall des Jemen unbedingt zu verhindern, denn sonst wären Schiffe auf dem Weg zwischen Indischem Ozean und Suezkanal von beiden Küsten aus - der somalischen und der jemenitischen - bedroht. Berlin zieht es jetzt sogar in Betracht, befreundete Golfdiktaturen im Jemen intervenieren zu lassen, um dessen Zerfall zu verhindern. Im Notfall müssten "regionale Mächte, allen voran Saudi-Arabien, ihren Einfluss geltend machen", erklärt Entwicklungsminister Niebel.2

Erst Partner, dann Gegner

Dabei sind Berlin und der Westen tief in die Entstehung der instabilen Lage im Jemen involviert. Diese ist nicht zuletzt das Ergebnis des sogenannten Anti-Terror-Krieges, der in den letzten Jahren in zunehmendem Maße auch Sanaa erfasst hat. Gegner sind dabei islamistische Strukturen, die der Westen mit aufgebaut hat: In den 1980er Jahren warben westliche Staaten und ihre Partner auch im Jemen Söldner für ihren antisowjetischen Untergrundkrieg in Afghanistan; von diesen kehrten ab 1988 einige Tausend zurück - religiös fanatisiert und kampferprobt. Aus dem Milieu jemenitischer Afghanistan-Rückkehrer bildeten sich Ende der 1990er Jahre antiwestliche Gruppierungen heraus (german-foreign-policy.com berichtete3), die im "Anti-Terror-Krieg" dann zu Gegnern wurden.4 Seit 2009 verschärft vor allem Washington seine Interventionen im Jemen, unter anderem mit Raketen- und Drohnenattacken, denen regelmäßig Zivilisten zum Opfer fielen.5 Das Regime in Sanaa steht unter äußerstem Druck aus dem Westen und deckt die mörderischen Angriffe, die die eigene Bevölkerung treffen. Dies ruft seit Jahren massiven Unmut im Jemen hervor und hat den Staatspräsidenten empfindlich geschwächt.

Schusswaffen und Munition

An den westlichen Maßnahmen, die das Regime in Sanaa stabilisieren sollen - zum einen als geostrategisch wichtigen Staat, zum anderen als Partner im "Anti-Terror-Krieg" -, beteiligt sich die Bundesrepublik seit Jahrzehnten. Seit den 1970er Jahren unterstützt sie das Militär des Landes mit Ausrüstung und Trainingsmaßnahmen. Seit 1992 unterhält die Bundeswehr eine "Beratergruppe" vor Ort, die Kontakt zur militärischen und zur zivilen Führung hat. Im Jahr 2005 begann die am Horn von Afrika patrouillierende deutsche Kriegsmarine, jemenitische Küstenwachschiffe in ihre Manöver einzubeziehen; man wolle "einen verlässlichen und starken Partner im Kampf gegen den Terrorismus" gewinnen, hieß es dazu bei der Bundeswehr.6 Zudem werden Rüstungsgüter geliefert: In den Jahren 2000 und 2001 genehmigte Berlin den Verkauf von Schusswaffen, Munition und Fallschirmen im Wert von rund 3,5 Millionen Euro; von 2004 bis 2008 folgten Genehmigungen für die Ausfuhr von Fallschirmen, Geländewagen und Panzertransportern im Wert von neun Millionen Euro. Überdies werden zur Zei 19 jemenitische Militärs an Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr trainiert.

Einsatztaktiken

Auch die jemenitische Polizei erhält Unterstützung aus der Bundesrepublik. Bereits vor Jahren tauschten sich die SPD-Politiker Otto Schily und Rolf Mützenich bei einem Besuch in Sanaa mit dem dortigen Innenminister über "die bisherige gute Zusammenarbeit beider Polizeidienste" aus.7 Seit 2005 wurden jemenitische Polizisten in ganz unterschiedlichen Bereichen durch deutsche Polizeikräfte geschult; es ging unter anderem um Personenschutz, um "Verhandlungen in Fällen von Geiselnahmen und Entführungen", aber auch um "polizeiliche Einsatztaktiken und Methoden".8 Die Repressionsapparate wurden zudem mit diversen "Einsatz- und Kommunikationsmitteln" aus Deutschland versorgt.

Mit Gewalt

Angesichts der Eskalation verlangt der deutsche Außenminister nun Maßnahmen, auf denen in den letzten Jahrzehnten keine bundesdeutsche Regierung bestanden hat - "friedlichen gesellschaftlichen Dialog und mutige Reformen".9 Dazu gehöre "auch die Organisation eines geordneten politischen Übergangs". Für diesen könnte es inzwischen zu spät sein - nicht zuletzt dank der deutschen Jemen-Politik, welche die innere Destabilisierung des Landes im sogenannten Anti-Terror-Krieg durch die Aufrüstung der Repressionsapparate aufzufangen suchte und damit zur Unterdrückung sozialer Differenzen beitrug, die nun mit Gewalt an die Oberfläche drängen.


Anmerkungen:
1 s. dazu Unverzüglich versenken
2 Heftige Kämpfe im Jemen; www.faz.net 24.03.2011
3 s. dazu Die neue Front (II)
4 Guido Steinberg: Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus, München 2005
5 s. dazu Die neue Front und Die neue Front (II)
6 Deutsche Fregatte besucht Aden; www.einsatz.bundeswehr.de 24.01.2006
7 Bundestagsabgeordnete Schily und Mützenich zu Besuch in Sana'a; www.sanaa.diplo.de
8 Deutscher Bundestag Drucksache 17/5007 vom 09.03.2011
9 Bundesminister Westerwelle tief besorgt über Zuspitzung im Jemen; Pressemitteilung des Auswärtigen Amts 24.03.2011



 
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