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In einem früheren Artikel untersuchten wir die Forderung nach einem „fairen“ oder „gerechten Lohn“ mit dem Ergebnis, „daß der gerechteste Tagelohn unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen unvermeidlich gleichbedeutend ist mit der allerungerechtesten Teilung des vom Arbeiter geschaffenen Produkts, da der größere Teil dieses Produkts in die Tasche des Kapitalisten fließt, während der Arbeiter gerade mit soviel vorliebnehmen muß, wie er benötigt, sich arbeitsfähig zu erhalten und sein Geschlecht fortzupflanzen“ (Friedrich Engels, Das Lohnsystem, MEW 19, S.251). Dennoch ist unter Gewerkschaftern diese Forderung sehr populär – warum?

Wir wissen aus der Naturwissenschaft: die Erde dreht sich um die Sonne, nicht umgekehrt. Doch der Augenschein zeigt uns jeden Tag das Gegenteil: „Sonnenaufgang“ und „Sonnenuntergang“. Auch die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital erscheinen im Alltag „auf den Kopf gestellt“, bis hin zur Sprache: „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“...

Unser Einkommen (Lohn/Gehalt/Entgelt) erscheint auf den ersten Blick als Preis oder „Wert der Arbeit“:
  • Wir erhalten es erst nach geleisteter Arbeit.

  • Unsere Arbeit wird bewertet nach Kriterien wie Qualifikation, Belastung, Verantwortung und Umwelteinflüssen und in einer Lohn- oder Gehalts- bzw. Entgeltgruppe „eingruppiert“.

  • Die Höhe unseres Einkommens richtet sich neben dieser „qualitativen“ Bewertung entweder nach unserer Arbeitszeit (Zeitlohn) oder nach der von uns erbrachten Arbeitsleistung (Stücklohn, Akkordlohn, Leistungslohn bzw. -entgelt). Diese beiden „Entgeltgrundsätze“ bezeichnet schon Marx im „Kapital“ als die „Grundformen“ des Arbeitslohns.


Heute bilden z.B. in den Entgeltrahmentarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie ein von der Qualifikation abhängiges „Grundentgelt“ plus entweder eine persönliche Leistungszulage (im „Zeitentgelt“) oder ein von der irgendwie gemessenen Menge der geleisteten Arbeit abhängiger Leistungsbestandteil (im „Leistungsentgelt“) das Monatsentgelt. In jedem Fall hängt unser Einkommen von der Menge der geleisteten Arbeit ab. Die Vorstellung vom Arbeitslohn als „Wert der Arbeit“ drängt sich so spontan sowohl Arbeitern wie Kapitalisten auf.

Doch was ist eigentlich der „Wert“? Ausgehend von der „klassischen“ politischen Ökonomie kam Marx zum Ergebnis: die (Tausch-)Werte aller Waren sind jenseits aller Schwankungen der Marktpreise nach Angebot und Nachfrage letztlich bestimmt durch die in ihnen steckende gesellschaftlich notwendige Arbeit als jeweiliger Anteil der gesellschaftlich notwendigen Gesamtarbeit. Wie lässt sich dann also der „Wert der Arbeit“ bestimmen?
Nehmen wir an, ein Metallarbeiter verarbeitet an einem siebenstündigen Arbeitstage Rohmaterial und Hilfsstoffe im Werte von 240 Euro. Dazu nutzt er Werkzeug, Maschinen, Gebäude usw., deren tägliche Abschreibung ebenfalls 240 € beträgt. Er erhält für seine tägliche Arbeit 120 €, und die Tagesproduktion wird für 720 € verkauft. Wie hoch ist nun der Wert dieser Tagesarbeit?
Nach dem Abzug des übertragenen Wertes der Produktionsmittel (480 €) beträgt der durch siebenstündige Arbeit geschaffene Neuwert 240 €. Doch halt: unser Metallarbeiter erhielt doch nur 120 € – also den Wert, der in dreieinhalb Stunden geschaffen wurde! Hat die Arbeit nun zwei Werte – oder ist 120 gleich 240 und dreieinhalb gleich sieben???

Diesen Widerspruch löste Marx durch die Entdeckung: es ist nicht die Arbeit, die der Arbeiter verkauft, sondern seine Arbeitskraft. Deren Wert allerdings ist bestimmbar - nämlich durch die Lebensmittel im weitesten Sinne, die zu ihrer Produktion und Reproduktion erforderlich sind. Der Kapitalist mag dafür einen „fairen“ oder „gerechten“ Lohn bezahlen - ihm bleibt die Differenz zwischen diesem Wert der Arbeitskraft und dem durch ihren Gebrauch, nämlich die Arbeit, geschaffenen Neuwert. Diese Differenz, den „Mehrwert“, eignet er sich an als Quelle seines Profits.
So besteht auch beim „fairsten“ Entgelt ein Teil des Arbeitstages aus unbezahlter Mehrarbeit, deren Ergebnis als Mehrwert oder Profit dem Kapitalbesitzer zufließt. Diese Teilung des vom Arbeiter geschaffenen Neuwerts in Lohn und Profit und seines Arbeitstages in bezahlte und unbezahlte Arbeit wird aber unsichtbar hinter dem Schein des Arbeitslohnes als Preis oder „Wert der Arbeit“.

„Dieser täuschende Schein ist das unterscheidende Merkmal der Lohnarbeit gegenüber andern historischen Formen der Arbeit. Auf Basis des Lohnsystems erscheint auch die unbezahlte Arbeit als bezahlt. Beim Sklaven umgekehrt erscheint auch der bezahlte Teil seiner Arbeit als unbezahlt... Nehmt andrerseits den Fronbauern... Dieser Bauer arbeitete z.B. 3 Tage für sich auf seinem eignen oder dem ihm zugewiesnen Felde, und die drei folgenden Tage verrichtete er zwangsweise Gratisarbeit auf dem herrschaftlichen Gut. Hier waren also der bezahlte und der unbezahlte Teil der Arbeit sichtbar getrennt, zeitlich und räumlich getrennt...“ (Marx, Lohn, Preis und Profit, Kapitel 9.).

In vielen Werkshallen zeigt eine Sirene Arbeitsbeginn, Feierabend und Pausen an – aber keine Sirene sagt uns, wie lange wir für unseren eigenen Lohn arbeiten und wie lange für den Profit unserer Kapitalisten. So erscheint dieser Profit als Frucht des Kapitals („Geld arbeitet“), als Vergütung der ungeheuren Arbeitsleistung unserer Unternehmer oder aber als Prämie für ihre „Verantwortung“ und Risikobereitschaft. Und die große Mehrheit der Beschäftigten, welche die marxistische Ökonomie nicht kennen und so den Mechanismus der Mehrwertproduktion nicht durchschauen können, verstehen unter „Ausbeutung“ nicht diese ganz „normale“, tägliche Aneignung ihrer unbezahlten Arbeit durch den Kapitalisten, sondern z.B. unbezahlte Überstunden, ungleichen (weniger) Lohn für gleiche Arbeit (z.B. bei Leiharbeit), überlange Arbeitszeiten und schlechte Arbeitsbedingungen, also „in erster Linie die Ausnützung fremder Arbeitskraft ohne angemessenes Entgelt...“ (aus einem „Handbuch sozialdemokratischer Politik“, zitiert in: Heinz Wachowitz/Achim Dippe, Einführung in Marx Schriften „Lohnarbeit und Kapital“ und „Lohn, Preis und Profit“).


Literatur: Friedrich Engels, Einleitung (1891) zu „Lohnarbeit und Kapital“, Karl Marx, „Lohn, Preis und Profit“, Kapitel 6. – 10.; „Das Kapital“, Sechster Abschnitt: Der Arbeitslohn


 
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