Am 13. Juni mussten die Belgier wählen gehen. Die vorige Regierung scheiterte an einer der schwierigsten und - nicht nur für Außenstehende - unbegreiflichsten Fragen: Brüssel-Halle-Vilvoorde. Das ist ein Wahlbezirk, der aus der zweisprachigen (Niederländisch/Französisch) Hauptstadt Brüssel und dem sie umgebenden niederländischsprachigen Gebiet Halle - Vilvoorde besteht. Und diese Kombination - alle anderen belgischen Wahlbezirke sind fein säuberlich entlang der Sprachgrenzen aufgeteilt - zeigt die ganze Kompliziertheit des Landes.
Die Flamen (niederländischsprachig) fürchten eine Französierung der Brüsseler Randgemeinden durch frankophone Stadtflüchtlinge. Sechs dieser Randgemeinden haben als "Fazilitäten-Gemeinden" bestimmte behördliche Dienstleistungen in französischer Sprache. Aus flämischer Sicht sollten diese Spracherleichterungen aber nur zeitlich begrenzt sein. Die Wallonen nutzten sie jetzt aus, um diese Gemeinden in den Bannstrahl von Brüssel zu ziehen. Außerdem ist es nur den Wallonen im Westen der Provinz Flämisch-Brabant (BHV) möglich, über Brüssel wallonische Parteien zu wählen. Die Flamen, die umgekehrt in der Provinz Wallonisch-Brabant (südlich von Brüssel) wohnen, fühlen sich benachteiligt: Ihnen ist es verwehrt, über Brüssel flämische Listen zu wählen. Die flämischen Nationalisten fordern daher eine strikte Trennung des Wahlbezirks BHV nach Sprachgrenzen.
Die Haltung der meisten wallonischen Parteien ist entgegengesetzt. Sie sind für den Erhalt des Wahlbezirks oder eine Erweiterung des Brüsseler Gebietes mit einem Teil oder allen Gemeinden der Region Halle-Vilvoorde (BHV). Die meisten frankophonen Politiker sehen eine Trennung von BHV als Bedrohung der erworbenen Sprachrechte für die Frankophonen in der Region Halle-Vilvoorde und betrachten das Hinzuziehen dieser Gemeinden zum Brüsseler Gebiet als bleibende Verankerung dieser Sprachrechte. Außerdem fürchten die Wallonen, dass bei einer - nicht vollkommen unwahrscheinlichen - Abspaltung Flanderns Brüssel zur Enklave im flämischen Gebiet werden könnte und letztendlich für Wallonien verloren gehen könnte. Ein Grund mehr für die Wallonen, sich für den Erhalt des Status quo, also des Staates Belgien, zu engagieren. Aber der "Sprachenstreit" ist nicht nur ein solcher, sondern hat auch handfeste wirtschaftliche Hintergründe. Den Wirtschaftsbossen käme eine Trennung des Landes auch nicht völlig ungelegen, da es auch eine Spaltung der Organisationen der bisher ziemlich kampfbereiten Arbeiterklasse bedeuten würde. Das "rote", aber ziemlich verarmte Wallonien könnte vom konservativ-nationalistischen und auch wirtschaftlich prosperierenden Flandern abgetrennt werden. Die Wallonie hat an der Deindustrialisierung weiter Gebiete zu knabbern, während Flandern inzwischen so in seinen nationalistischen Separationsträumen gefangen ist, dass die offen separatistische "Nieuw-Vlaamse Alliantie" von Bert De Wever am 13. Juni stärkste Partei wurde.
Diese N-VA ist derzeit eines der stärksten Hemmnisse für das Zustandekommen einer neuen Regierung in Belgien. Sie hat die Hauptstadtregion Brüssel zu ihrem derzeitigen Schwerpunkt gemacht, um den Staat Belgien aus den Angeln zu heben. Die N-VA verweigert weitere Zahlungen Flanderns an die dauernd defizitäre Hauptstadt. Eine dem deutschen Länderfinanzausgleich vergleichbare Regelung kann in Belgien bei nur drei Bundesländern nicht existieren.
Ein weiterer Versuch, Brüssel zu reflamisieren, ist die Trennung der Sozialsysteme in ein flämisches und ein wallonisches. Die Brüsseler müssten sich dann entscheiden, und die flämischen Separatisten gehen davon aus, dass die meisten Brüsseler sich dann für das bessere, weil mit mehr Mitteln ausgestattete, flämische System entscheiden würden. Mit der Wahl des flämischen Sozialsystems würden sie sich dann zum Flamentum bekennen - und das "Problem" Brüssel wäre aus Sicht der N-VA gelöst. Auf der Strecke bleiben würden dann die vielen Armen und auch die meist frankophonen Migranten in der Stadt, die sich das bessere, aber auch teurere flämische System noch leisten könnten. Aber das kann den separatistischen Kräften, die trotz einiger "sozialen" Forderungen weder mit Armen noch mit Migranten etwas am Hut haben, nur recht sein.
Auf linker Seite ist der Widerstand gegen die Aufteilung des Landes groß. Regelmäßig finden in Brüssel Demonstrationen für die Einheit, für die Solidarität statt. Auch die "ManiFiesta", das Pressefest der belgischen Partei der Arbeit, das am 25. September in Bredene an der Nordseeküste stattfand, stand ganz im Zeichen dieser Solidarität.