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Dossier: Hände weg von China! // Die VR China und die Einflußversuche des dt. Imperialismus
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BERLIN/BEIJING (11.10.2010) - Einhellig bejubelt Berlin die Vergabe des diesjährigen Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo. Bundeskanzlerin Merkel habe sich in der Vergangenheit bereits für die Freilassung des chinesischen "Dissidenten" eingesetzt und werde dies weiterhin tun, erklärt ein Regierungssprecher. Liu habe den Preis für seinen "Kampf für fundamentale Menschenrechte in China" erhalten, schreibt das Auswärtige Amt. Tatsächlich laufen Lius Forderungen auf nicht weniger denn den Umsturz der Volksrepublik China hinaus. Die von ihm mitverfasste "Charter 08" ist im Unterschied zu den Petitionen anderer chinesischer "Dissidenten" keine Menschenrechtsresolution, sondern vielmehr ein umfassendes politisches Programm, das eine grundsätzliche Umgestaltung Chinas verlangt, darunter den Aufbau eines föderativen Bundesstaates nach dem Modell der Bundesrepublik Deutschland, der vollständig mit jahrtausendealten chinesischen Staatstraditionen bricht. Zudem sollen die seit Gründung der Volksrepublik vollzogenen Nationalisierungsmaßnahmen rückgängig gemacht werden; dies beinhaltet die Landreform, der Kleinbauern bis heute ihre Existenz verdanken, und erfüllt Forderungen nach China expandierender westlicher Konzerne.

Sturz ins Chaos

Kern der von Berlin bejubelten "Charter 08", die im Jahr 2008 veröffentlicht wurde und deren Name der 1977 verfassten "Charta 77" tschechoslowakischer Oppositioneller nachempfunden ist, ist die vollständige Umgestaltung der Volksrepublik China nach westlichem Modell. Dass es diesen Versuch, China durch Adaption westlicher Systeme zu "modernisieren", tatsächlich schon einmal gab, wird in der "Charter 08" nicht weiter thematisiert. Ebenso wenig wird eine Aussage darüber getroffen, wie ein erneutes Scheitern einer solchen Umgestaltung verhindert werden könnte. 1911 stürzten bürgerliche Revolutionäre unter der Führung Sun Yat-sens die letzte Kaiserdynastie Chinas und versuchten, dem Land eine westliche Verfassung zu geben. Das Modell funktionierte nicht, China versank in Bürgerkrieg und Chaos. Die damalige Regierungspartei Guomindang ("nationale/nationalistische Volkspartei") konnte die territoriale Integrität des Landes nicht sicherstellen und griff spätestens seit Ende der 1920er Jahre immer offener zu einer unverhüllt diktatorischen Regierungsform, die sich letztlich zur Guomindang-Einparteiendiktatur auswuchs. Der Angriff Japans auf die schutzlos gewordene Republik China im Jahr 1937 legte die Schwächen dieses Systems offen; es folgte schließlich die Revolution, die zur Gründung der Volksrepublik China führte.

Ausverkauf

Besonders radikal nehmen sich die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der "Charter 08" aus. Das Papier fordert eine umfassende Privatisierung und die Zerschlagung der Staatsbetriebe.1 In der Volksrepublik China besteht ein Recht auf privates Eigentum; tatsächlich ist der private Bereich in den letzten 25 Jahren immer stärker gewachsen und nimmt - nach den Betrieben in Staatsbesitz - den zweiten Rang unter den Besitzformen ein. Inwieweit die Forderung, die Staatsbetriebe zu zerschlagen, die den weitaus größten Teil des "Gemeineigentums" bilden, in China auf Sympathie stößt, muss zumindest bezweifelt werden: Tatsächlich breitet sich in der Volksrepublik wachsender Unmut über die Privatisierungen der letzten Jahrzehnte aus; immer häufiger werden Forderungen nach "mehr Gleichheit" bzw. nach - begrenzter - Rückkehr zur Planwirtschaft laut. Die "Charter 08" geht hierbei einen vollkommen entgegengesetzten Weg und fordert eine Komplettprivatisierung - in einer Weltwirtschaftskrise, die der öffentlichen Zustimmung zu neoklassischen ("neoliberalen") Wirtschaftsmodellen international Abbruch tat. Die Autoren der "Charter 08" entsprechen mit dieser Forderung den Wünschen westlicher Konzerne, die in China expandieren - bei diesen wurden immer wieder Plädoyers für die Abschaffung der Beschränkungen insbesondere ausländischen Privatbesitzes laut.

Kleinbauern vertreiben?

Weit über diese Forderungen hinausgehend verlangt die "Charter 08", die Bodenreform rückgängig zu machen und Grund und Boden wieder zu privatisieren.2 Die Bodenreform, die seit 1950 in mehreren Phasen stattfand, enteignete zunächst die Großgrundbesitzer und Kriegsverbrecher und verteilte deren vormaligen Besitz auf kleine und mittlere Bauern. Die seit Mitte der 1950er Jahre durchgeführte Kollektivierung - die Zusammenfassung der Bauern in Genossenschaften und Volkskommunen - ist seit Ende der 1970er Jahre wieder weitgehend rückgängig gemacht worden; heute ist es den chinesischen Bauern freigestellt, ob sie in privater Form oder in Kooperativen und Genossenschaften wirtschaften wollen. Zur bis heute gültigen Nationalisierung des Bodens, des am weitesten gehenden Schrittes der Bodenreform, kam es erst ab Ende der 1950er Jahre; seitdem wird sämtlicher Grund und damit auch der Boden, den die Bauern bebauen, auf Lebenszeit - und mit besonderer Erbbegünstigung der Nachkommen - vom Staat verpachtet. Die in Berlin gelobte "Charter 08" fordert ausdrücklich die Reprivatisierung des Bodens; in welcher juristischen und praktischen Form die Verteilung des Landes an arme und mittlere Bauern nun nach 60 Jahren rückgängig gemacht werden soll, wird nicht ausdrücklich beschrieben.

Totaler Bruch

Die Forderungen nach einer Revision der Verfassung und nach Gründung einer 'Bundesrepublik China' laufen auf die Zerschlagung der Volksrepublik China hinaus. Die wesentlichen Revisionen betreffen dabei weniger die "Meinungsfreiheit" oder "Demokratie", sondern die politisch-ökonomische Ordnung. Entgegen aller chinesischen Tradition wird dem politischen Zentralismus eine Absage erteilt; gemeinsam mit Hongkong und Macao, deren politische Systeme bewahrt werden müssten, soll eine föderativ verfasste "Bundesrepublik China" errichtet werden.3 China ist seit Jahrtausenden ein zentralistisch ausgerichteter Staat. Bereits in der Qin-Dynastie fand vor rund 2.500 Jahren eine Vereinheitlichung der Maße, der Gewichte und der Währung sowie die Etablierung eines strikt zentralistisch auf Hauptstadt und Kaiser ausgerichteten Systems statt. Seitdem haben sämtliche politischen Systeme von den verschiedenen Kaiserdynastien über die national-bürgerliche "Republik China" von 1911 bis zur Volksrepublik an der Vorstellung festgehalten, das riesige Land mit Dutzenden Nationalitäten und Provinzen zentralistisch verwalten zu wollen. Die Forderung nach Föderalismus bezieht sich, ohne dass dieses Vorbild ausdrücklich genannt wird, auf das System unter anderem der Bundesrepublik Deutschland. Die Frage, wie ein Land mit 1,44 Milliarden Einwohnern und einer riesigen territorialen Ausdehnung föderativ verwaltet und zugleich als Nationalstaat intakt gehalten werden könne, findet in der "Charter 08" keine Antwort.

Freiheit für den Umsturz Chinas

Im Einklang mit sämtlichen westlichen Regierungschefs setzt sich auch die Bundeskanzlerin für Liu Xiaobo ein, der wegen der Forderung nach einem Umsturz der Volksrepublik eine Haftstrafe absitzen muss. Berlin, das nicht dafür bekannt ist, etwaigen Umsturzplanungen im eigenen Land mit Sympathie gegenüberzustehen, verlangt seine Freilassung.4 Die "Charter 08" wird, seit Lius Nominierung für den Friedensnobelpreis bekanntgegeben wurde, in der Bundesrepublik zunehmend rezipiert und ins Deutsche übersetzt.5 Breite Aufmerksamkeit in den Leitmedien ist dem Dokument sicher. Damit hat - über das Bemühen, den politischen Rivalen China zu schwächen, hinaus - die antichinesische Agitation in Deutschland ein neues Element, das in Zukunft bei Kampagnen gegen Beijing, wie sie im Westen zuletzt vor der Olympiade 2008 stattfanden 6, genutzt werden kann.


Anmerkungen:
1, 2, 3 China's Charter 08; www.nybooks.com/articles/archives/2009/jan/15/chinas-charter-08/. S. auch Deutschland gegen China (III)
4 Chinas Herrscher stemmen sich gegen den Westen; www.spiegel.de 08.10.2010
5 s. etwa www.oai.de/de/publikationen/oai-blog/42-kaleidoskop/155-liu-x
6 s. dazu Die Fackellauf-Kampagne




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