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•NEUER BEITRAG03.04.2022, 22:37 Uhr
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FPeregrin | |
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Weil man ja nicht weiß, was demnächst noch so alles von den Freunden der Informations- und Meinungsfreiheit abgestellt wird, stelle ich den Kassioun-Artikel hier mal als pdf ein. Der Text ist es allemal wert!
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The “Imperialist Spectre” of Russi...
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•NEUER BEITRAG15.04.2022, 19:47 Uhr
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arktika | |
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Einleuchtender Text, der mit
The fear being spread today from “Russia’s imperialist spectre”, is in-depth nothing but the fear of the spreaders from the “spectre of communism”, which is loaming back not only over Russia, or Europe, alone, rather over the entire world
endet.
The fear being spread today from “Russia’s imperialist spectre”, is in-depth nothing but the fear of the spreaders from the “spectre of communism”, which is loaming back not only over Russia, or Europe, alone, rather over the entire world
endet.
•NEUER BEITRAG17.06.2022, 21:07 Uhr
EDIT: FPeregrin
17.06.2022, 21:08 Uhr
17.06.2022, 21:08 Uhr
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FPeregrin | |
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Das andere Imperium
Ein kapitalistisches Land, aus dem zahlreich Kapitalisten fliehen. Der Nachfolgestaat der Sowjetunion unterscheidet sich erheblich vom klassischen Imperialismus. Rätselhaftes Russland (Teil 1)
Von Harald Projanski
In Russland seien »Oligarchen« an der Macht, das Land sei daher »imperialistisch«, so lautet eine Melodie, die aus bürgerlichen Medien ebenso erklingt wie aus den Mündern mancher Menschen, die sich als Marxisten verstehen. Doch wie sieht die Realität der russischen Macht aus, wie ist das Verhältnis zwischen Kapitaleigentümern und den Inhabern der Staatsmacht? Welche Triebkräfte bestimmen den Charakter der heutigen imperialen Politik Russlands? Und wo liegen die historischen Wurzeln für die Besonderheiten des russischen Systems, das zu enträtseln westlichen Beobachtern schwerfällt?
Um diesen Fragen nachzugehen, ist es sinnvoll, sich an einen Experten zu wenden, der doppelt kompetent ist – als marxistischer Theoretiker und als Gründer des Sowjetstaates: Wladimir I. Lenin. Er hat, während des Ersten Weltkriegs im Exil in Zürich, in seiner Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« die maßgeblichen Kriterien für diesen Entwicklungsschritt des Kapitalismus analysiert. An erster Stelle nannte er »die Konzentration der Produktion und des Kapitals«, welche »Monopole« schaffe, »die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen«. Als zweiten Punkt sah er die »Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital« und die »Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis des Finanzkapitals«. Als drittes Moment nannte er den »Kapitalexport«, der »besonders wichtige Bedeutung« gewinne. Als vierten Aspekt erwähnte er »internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen«. Lenin schloss mit einem fünften Punkt: »Die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.«
Ökonomische Abhängigkeit
Welche dieser Kriterien gelten heute für Russland? Eine Kapitalkonzentration mit Monopolen, überwiegend staatlichen im Energiesektor wie Gasprom und Rosneft, ist zweifellos vorhanden. Auch von einer Verschmelzung des Bankkapitals mit Industriekapital kann man sprechen. Doch einen Kapitalexport, wie er für entwickelte imperialistische Länder charakteristisch ist, betreibt Russland kaum. Die Sanktionen der westlichen Länder reduzieren zudem die ohnehin bescheidenen Investitionen russischer Unternehmen in der westlichen Welt auf nahe Null. Auch nehmen russische Kapitalisten nicht an »internationalen monopolistischen Kapitalistenverbänden« teil. Russlands Griff nach der Ukraine aber zeigt auf dramatische Weise, dass aus Sicht der russischen Führung die »territoriale Aufteilung der Erde« keineswegs beendet ist.
Das heutige russische politische und ökonomische System, auf den ersten Blick schlicht kapitalistisch, weist Besonderheiten auf, die in seiner Geschichte begründet liegen. Es ist ein anderes Imperium als das der traditionell kapitalistischen Länder des Westens. Schon das Zarenreich, das sich unter dem Druck britischer und französischer Kreditgeber in den Ersten Weltkrieg stürzte, war kapitalschwach. Sein Industriepotential entwickelte sich verglichen mit anderen Ländern zu spät und zu langsam. Das war auch eine Folge der bis 1861 geltenden Leibeigenschaft der Bauern, die den Zustrom von Arbeitskräften in die städtischen Zentren Russlands bremste.
Am Ersten Weltkrieg nahm Russland nicht aus ökonomischer Stärke teil, sondern aus Schwäche. Aus nach der Oktoberrevolution von der Sowjetmacht veröffentlichten Akten der zaristischen Diplomatie geht hervor, dass die Abhängigkeit vom Londoner und Pariser Bankkapital der wesentliche Faktor war, der Russland an der Seite der französischen und britischen Imperialisten in den Ersten Weltkrieg trieb. So telegrafierte der russische Außenminister Sergej Sasonow am 31. Juli 1914 an die russische Botschaft in Paris, der »drohenden Krieg« versetze die russischen Banken wegen Devisenmangels in eine »sehr schwere Lage«. Die Kreditabhängigkeit war auch ein wesentlicher Grund, warum die bürgerliche provisorische Regierung nach dem Sturz des Zaren 1917 den Krieg nicht beendete.
Das Schuldenproblem und damit auch die Abhängigkeit des Landes von westlichen Banken wurde in der Niedergangsphase der Sowjetunion und in den ersten Jahren der Russischen Föderation erneut zu einem schwerwiegenden Problem. Es erleichterte schließlich die Reintegration Russlands in den kapitalistischen Weltmarkt.
Aufstieg der Oligarchen
Die Wende zu kapitalistischen Verhältnissen, vollzogen vor allem in den Jahren 1991/92, schuf unter diesen Bedingungen ein spezifisches System. Es unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von dem der entwickelten kapitalistischen Länder. Die Ausgangslage: Es gab 74 Jahre nach der Oktoberrevolution keine russische Bourgeoisie mehr. Der Systemwandel hatte ein objektives Problem: Es sollten möglichst schnell kapitalistische Verhältnisse entstehen, aber es fehlten Kapitalisten und Bürgertum. Was geschah, folgte der Logik einer Mangelgesellschaft: Was es nicht gab, wurde substituiert. Wendige Funktionäre des kommunistischen Jugendverbandes, sogenannte rote Direktoren und andere, meist jüngere Amtsträger des sowjetischen Systems, werdende Gauner und überführte Lumpen drängten an die Schaltstellen der infolge von Privatisierung geplünderten Volkswirtschaft des größten Flächenlandes der Welt.
Es waren vor allem drei Bereiche, in denen eine Symbiose von Staatsbeamten und frisch gebackenen Kapitalisten zur Entstehung des Phänomens führte, das man bald »die Oligarchen« nannte: der Rohstoffsektor (vor allem Öl und Gas), Banken und Massenmedien. Die Übergabe staatlicher Rohstoffreserven an private Eigner schuf blitzartig Monopole, ohne dass Unternehmen zuvor das Stadium der kapitalistischen Konkurrenz durchlaufen mussten. Diese Konstruktion machte die »Oligarchen« zugleich aber auch potentiell abhängiger von staatlichen Entscheidungen als in anderen kapitalistischen Ländern.
Großbanken entstanden schlagartig, indem staatliche Einrichtungen ihre Zahlungen mit ihrer Hilfe abwickelten. Private Massenmedien, von Privatfernsehen bis zu Hochglanzjournalen, waren oft defizitär. Sie dienten ihren Eignern vor allem als Instrument ideologischer Erziehung. Die neuen Ausbeuter sollten als Wohltäter dargestellt werden, die außenpolitische Unterwerfung des Landes unter die Hegemonie der USA als Ausdruck politischer Klugheit erscheinen.
Dabei tat sich besonders der Oligarch Wladimir Gussinski hervor. Unter anderem mit Krediten des Rohstoffgiganten Gasprom, der in staatlichen Händen geblieben war, baute er seit den frühen 1990er Jahren ein Medienimperium auf – die Media-Holding »Most« (Brücke). Wessen Brücke das war, ließ sich am Inhalt dieser Medien erkennen. Ob man den Fernsehsender NTW einschaltete, in der Tageszeitung Sewodnja blätterte oder den Radiosender Echo Moskwy hörte, überall erhielten die Russinnen und Russen eine klare Botschaft: Die linke Opposition in Russland um die Kommunisten sei »rotbraun« und brandgefährlich. Und außenpolitisch seien Russlands Freunde vor allem die USA und Israel. Der frühere Komsomolze Gussinski stand auf den Positionen des Zionismus. Seine Blätter und Sender lagen auf der Linie der US-amerikanischen und der israelischen Regierung.
Als Medienlenker versuchte sich mit jahrelangem Erfolg auch Boris Beresowski. Der frühere Mathematikprofessor erhielt bei einer intransparenten Privatisierung 1994/95 die Kontrolle über die große Ölgesellschaft »Sibneft«, über Banken sowie große Teile des Automobilhandels. Ein Jahr zuvor hatte er begonnen, sich Anteile am bislang staatlichen Ersten Fernsehkanal zu sichern, wo er schließlich 49 Prozent der Aktien hielt. Während er öffentlich Meinungsfreiheit predigte, errichtete er intern ein System der Einschüchterung. Noch im September 1999, Putin war bereits Premierminister, gelang es ihm, in der abendlichen Nachrichtensendung des Kanals seine eigene, rund zwanzigminütige Pressekonferenz auszustrahlen. Dabei polemisierte er gegen Russlands Sicherheitsorgane. Der mit Steuergeldern finanzierte zentrale russische TV-Sender war zum Oligarchenlautsprecher verkommen. Parallel dazu hielt sich Beresowski auch noch Printmedien, darunter drei Moskauer Tageszeitungen. 1996/97 war er stellvertretender Sekretär des Sicherheitsrates, der die Geheimdienste koordinierte.
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•NEUER BEITRAG17.06.2022, 21:10 Uhr
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»Semibankirschtschina«
Gussinki und Beresowski gehörten zu den »sieben Bankiers«, der »Semibankirschtschina«, wie diese Oligarchengruppe in den 1990er Jahren genannt wurde. Die ironisch gemeinte Bezeichnung knüpfte an den Begriff »Semibojarschtschina« an, der die »Zeit der Wirren« zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschreibt, als Russlands Staatlichkeit nach militärischen Niederlagen extrem geschwächt war. Bojaren waren einflussreiche Adlige.
Die »sieben Bankiers«, das waren außer Gussinski und Beresowski der Bankier und Ölmagnat Michail Chodorkowski und die Bankiers Michail Fridman (Alfa-Bank), Pjotr Awen (Alfa-Gruppe), Alexander Smolenski (Bank SBS-Agro) sowie Wladimir Potanin (Oneximbank). Um das System dieser Oligarchie und dessen Entwicklung zu verstehen, lohnt es sich, den weiteren Weg der sieben zu beleuchten: Smolenski, zu Sowjetzeiten ein kleiner Schwarzmarkthändler, gehörte zu jenem Moskauer Milieu, in dem infolge der Konterrevolution des Jahres 1991 aus mittleren Gaunern Dollar-Milliardäre wurden. In Moskauer und westlich-liberalen Medien schon mal als »Selfmademan« gerühmt, erlebte er in der Rubel-Krise im Herbst 1998 eine Bruchlandung. Der Geldjongleur Smolenski konnte Dollar-Schulden in Milliardenhöhe nicht bedienen und zog sich aus dem russischen Geschäftsleben zurück.
Fridman, Awen und Potanin hingegen spielen noch heute als Oligarchen in Moskau eine gewichtige Rolle. Der Staat hat sich mit ihnen arrangiert und sie sich mit ihm. Fridman ist seit März von EU-Sanktionen betroffen, wogegen er rechtlich vorgeht. Awen, mit Fridman geschäftlich und freundschaftlich verbunden, war von Februar bis Dezember 1992 Minister für Außenhandel unter Präsident Boris Jelzin. Potanin agierte in den Jahren 1996/97 als stellvertretender Regierungschef. Alle drei verkörpern die symbiotische Verbindung von »Oligarchen«, Staatsbürokratie und US-amerikanischem Finanzkapital, die charakteristisch war für die Ära Jelzin.
Signifikant für die Putin-Ära ist nun, dass Awen im Kreml durchaus wohlgelitten blieb. Der promovierte Ökonom vertrat in den 1990er Jahren die in der russischen Machtelite beliebte Grundlinie: Russlands Wirtschaft sollte möglichst eng mit dem Finanzkapital der USA verzahnt werden. So arbeitete die Alfa-Bank jahrelang mit US-Geldhäusern wie der Bank of New York zusammen. Parallel dazu vertrat Awen öffentlich bereits in den 1990er Jahren das Konzept eines autoritären Regimes nach lateinamerikanischem Vorbild. Widerstand im Inneren sollte mit einem repressiven, »patriotisch« drapierten Regime unterdrückt werden. Als Vorbild dafür nannte er den chilenischen Diktator Augusto Pinochet.
Als im Jahre 1999 Jelzins Umfragewerte ähnlich schlecht waren wie sein Gesundheitszustand, begann unter den Oligarchen die Suche nach einem verlässlichen Geldschrankwächter, der den breiten Massen als »starker Mann« empfohlen werden konnte. Den Zuschlag für die Jelzin-Nachfolge erhielt schließlich, mit anfänglicher Zustimmung der »sieben Bankiers«, Wladimir Putin, damals Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB und Sekretär des Sicherheitsrates.
Im Jahre 1999 litt die Russische Föderation an mehreren existentiellen Problemen: Im Herbst 1998 war das Land dank übermäßiger und extrem kurzfristiger Staatsverschuldung in eine der schwersten Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts gestürzt. Der Rubel verlor in wenigen Wochen mehr als zwei Drittel seines Wertes. In Tschetschenien im Nordkaukasus kontrollierten bewaffnete Separatisten und Islamisten ein Gebiet von der Größe Thüringens. Auch andere Subjekte der Russischen Föderation zeigten separatistische Tendenzen: Die Landesverfassung der Republik Tatarstan etwa ließ die Zugehörigkeit ihres »Staates« zu Russland bewusst offen.
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»Semibankirschtschina«
Gussinki und Beresowski gehörten zu den »sieben Bankiers«, der »Semibankirschtschina«, wie diese Oligarchengruppe in den 1990er Jahren genannt wurde. Die ironisch gemeinte Bezeichnung knüpfte an den Begriff »Semibojarschtschina« an, der die »Zeit der Wirren« zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschreibt, als Russlands Staatlichkeit nach militärischen Niederlagen extrem geschwächt war. Bojaren waren einflussreiche Adlige.
Die »sieben Bankiers«, das waren außer Gussinski und Beresowski der Bankier und Ölmagnat Michail Chodorkowski und die Bankiers Michail Fridman (Alfa-Bank), Pjotr Awen (Alfa-Gruppe), Alexander Smolenski (Bank SBS-Agro) sowie Wladimir Potanin (Oneximbank). Um das System dieser Oligarchie und dessen Entwicklung zu verstehen, lohnt es sich, den weiteren Weg der sieben zu beleuchten: Smolenski, zu Sowjetzeiten ein kleiner Schwarzmarkthändler, gehörte zu jenem Moskauer Milieu, in dem infolge der Konterrevolution des Jahres 1991 aus mittleren Gaunern Dollar-Milliardäre wurden. In Moskauer und westlich-liberalen Medien schon mal als »Selfmademan« gerühmt, erlebte er in der Rubel-Krise im Herbst 1998 eine Bruchlandung. Der Geldjongleur Smolenski konnte Dollar-Schulden in Milliardenhöhe nicht bedienen und zog sich aus dem russischen Geschäftsleben zurück.
Fridman, Awen und Potanin hingegen spielen noch heute als Oligarchen in Moskau eine gewichtige Rolle. Der Staat hat sich mit ihnen arrangiert und sie sich mit ihm. Fridman ist seit März von EU-Sanktionen betroffen, wogegen er rechtlich vorgeht. Awen, mit Fridman geschäftlich und freundschaftlich verbunden, war von Februar bis Dezember 1992 Minister für Außenhandel unter Präsident Boris Jelzin. Potanin agierte in den Jahren 1996/97 als stellvertretender Regierungschef. Alle drei verkörpern die symbiotische Verbindung von »Oligarchen«, Staatsbürokratie und US-amerikanischem Finanzkapital, die charakteristisch war für die Ära Jelzin.
Signifikant für die Putin-Ära ist nun, dass Awen im Kreml durchaus wohlgelitten blieb. Der promovierte Ökonom vertrat in den 1990er Jahren die in der russischen Machtelite beliebte Grundlinie: Russlands Wirtschaft sollte möglichst eng mit dem Finanzkapital der USA verzahnt werden. So arbeitete die Alfa-Bank jahrelang mit US-Geldhäusern wie der Bank of New York zusammen. Parallel dazu vertrat Awen öffentlich bereits in den 1990er Jahren das Konzept eines autoritären Regimes nach lateinamerikanischem Vorbild. Widerstand im Inneren sollte mit einem repressiven, »patriotisch« drapierten Regime unterdrückt werden. Als Vorbild dafür nannte er den chilenischen Diktator Augusto Pinochet.
Als im Jahre 1999 Jelzins Umfragewerte ähnlich schlecht waren wie sein Gesundheitszustand, begann unter den Oligarchen die Suche nach einem verlässlichen Geldschrankwächter, der den breiten Massen als »starker Mann« empfohlen werden konnte. Den Zuschlag für die Jelzin-Nachfolge erhielt schließlich, mit anfänglicher Zustimmung der »sieben Bankiers«, Wladimir Putin, damals Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB und Sekretär des Sicherheitsrates.
Im Jahre 1999 litt die Russische Föderation an mehreren existentiellen Problemen: Im Herbst 1998 war das Land dank übermäßiger und extrem kurzfristiger Staatsverschuldung in eine der schwersten Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts gestürzt. Der Rubel verlor in wenigen Wochen mehr als zwei Drittel seines Wertes. In Tschetschenien im Nordkaukasus kontrollierten bewaffnete Separatisten und Islamisten ein Gebiet von der Größe Thüringens. Auch andere Subjekte der Russischen Föderation zeigten separatistische Tendenzen: Die Landesverfassung der Republik Tatarstan etwa ließ die Zugehörigkeit ihres »Staates« zu Russland bewusst offen.
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•NEUER BEITRAG17.06.2022, 21:13 Uhr
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Putins Wende
Im Spätsommer 1999 starben in der russischen Teilrepublik Dagestan und in Moskau bei mutmaßlich von islamistischen Terroristen verübten Bombenanschlägen mehr als 300 Menschen. Kurz zuvor hatten Islamistengruppen aus Tschetschenien Dagestan überfallen. Dann kam die Wende. Sie betraf auch die Rolle der Oligarchen. Der am 9. August von Jelzin zum Premierminister ernannte Wladimir Putin organisierte einen Feldzug gegen die tschetschenischen Separatisten und ließ die Landeshauptstadt Grosny bis Februar 2000 erobern. Der militärische Erfolg trug maßgeblich dazu bei, dass Putin im März 2000 die Präsidentenwahlen mit 53 Prozent der Stimmen gegen den Kommunisten Gennadi Sjugaow gewann, der 29 Prozent erhielt.
Über das Vorgehen im Nordkaukasus kam es schon Ende 1999 zu erheblichen Differenzen zwischen Putin auf der einen, Gussinski und Beresowski auf der anderen Seite. Beide betrachteten die Separatisten als politische Partner und als taktische Verbündete gegen Russlands Sicherheitskräfte, deren Gegnerschaft zu den Oligarchen offenkundig war. Es ging in diesem Konflikt um eine strategische Differenz. Gussinskis proamerikanischer Kurs schloss ein Interesse an einer nachhaltigen Schwächung Russlands durch den tschetschenischen Separatismus durchaus ein. Je schwächer Russland, so die Logik, von der auch die Clinton-Administration in Washington ausging, desto mehr werde Moskau genötigt sein, sich strategisch den USA unterzuordnen.
Nur wenige Wochen nach seiner Wahl zum Präsidenten im März 2000 begann Putin eine Kampagne gegen die Oligarchen. Den ersten Schlag führte der Inlandsgeheimdienst gegen Gussinski. Der kam im Mai 2000 wegen Betrugsvorwürfen in Haft, wenn auch nur für drei Tage. Danach ging es zu wie in dem Film »Der Pate« von Francis Ford Coppola: »Wir haben ihm ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte.« Gussinski gab seine Media-Holding auf und zog via Spanien nach Israel.
Bald darauf büßte Beresowski seine Anteile am führenden Fernsehkanal ein, der wieder voll in Staatshand kam. Er setzte sich nach Großbritannien ab, wo er 2013 unter ungeklärten Umständen starb. Der dritte Schlag gegen einen maßgeblichen Matador der »Semibankirschtschina« erfolgte im Oktober 2003. Da verhaftete der Inlandsgeheimdienst FSB den Oligarchen Michail Chodorkowski. Der hatte versucht, in der Staatsduma Abgeordnete zu korrumpieren. Selbst einige Deputierte der Kommunistischen Partei konnte er zeitweise in seinen Orbit ziehen. Chodorkowski hatte sich zudem bemüht, große Teile des Ölunternehmens Jukos-Sibneft an den US-Konzern Exxon Mobil zu verkaufen. Das hätte dem US-Kapital entscheidenden Einfluss auf die russische Ölproduktion verschafft.
In Strafverfahren wegen Veruntreuung von Staatsgeldern, Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung wurde Chodorkowski zu langer Lagerhaft verurteilt. Erst 2013 begnadigte Putin ihn mit einer Art Zarengeste. Die Ausschaltung Chodorkowskis führte zu beträchtlicher Unruhe unter Russlands Kapitalisten, von denen viele damals ebenso inständig wie vergeblich baten, bei Hofe vorgelassen zu werden. Doch Putin ließ sich auf ein Gespräch über sein Vorgehen nicht ein – auch nicht auf Druck einiger leitender Mitarbeitern seiner Administration, die mit dem Schlag gegen Chodorkowski ein Problem hatten. Denn einige von ihnen, darunter der langjährige Putin-Gehilfe Wladislaw Surkow, waren jahrelang geschäftlich mit Chodorkowski verbunden gewesen.
Primat der Politik
Beim Fall Chodorkowski ging es nicht nur um das Schicksal eines einzelnen Oligarchen, sondern um die Stellung des Oligarchats im politischen System. Der Kern des Konflikts war der Kampf um das Primat der Politik, den Putin für sich entschied: Den politischen Rahmen für die Kapitalverwertung und für das politische Agieren von Kapitalisten setzte fortan die Staatsführung. Dabei ging es Putin offensichtlich darum, die auf die USA ausgerichteten Teile der Kapitalelite lahmzulegen. Die Ausschaltung von Gussinki, Beresowski und Chodorkowski war ein Schlag des Staatskapitalismus gegen das Kompradorenkapital. Folgerichtig übernahm der Staatskonzern Rosneft Chodorkowskis Ölkonzern.
Charakteristisch für die von 2000 bis 2003 andauernde Schlacht gegen die Oligarchen war, dass Putin zunächst jene ins Visier nahm, die über relevante Medienkonzerne verfügten. Die Kontrolle über die Massenmedien erwies auch als ein maßgeblicher Hebel seiner Herrschaft, denn Putin mangelte es an einer schlagkräftigen Partei oder Jugendorganisation, die gesellschaftlich mobilisierungsfähig gewesen wäre.
Nach Verhaftung und Verurteilung Chodorkowskis verhielten sich Russlands große Kapitalisten gegenüber Putin wie aufmüpfige Schüler gegenüber einem Direktor, der gerade die frechsten von ihnen von der Schule geworfen hatte. Es wurde ruhiger in vielen Chefetagen. Grollen ging in leises Grummeln über. Russland war das einzige kapitalistische Land – zumindest in Europa –, in dem Milliardäre, die von politischen Parteien um Spenden gebeten wurden, antworteten, sie würden sich zunächst mal in der Administration des Präsidenten umhören, ob das erwünscht sei.
Die strukturelle Schwäche dieses politischen Systems, einer personalistischen und autoritären Staatsmacht, bei der das Machtinteresse einer aus Sicherheitskräften und Militär rekrutierten bürokratischen Führungsgruppe dominiert und die zwischen den Klassen und Schichten laviert, zeigt sich gerade in seinen vermeintlich starken Inszenierungen. Eine Szene, die im russischen Staatsfernsehen immer mal wieder gezeigt wird, spielte sich im Juni 2009 in der Industriestadt Pikaljowo, etwa 240 Kilometer östlich von Sankt Petersburg, ab. Werktätige dreier Fabriken hatten sich zu Protesten gegen Betriebsschließungen und ausbleibende Lohnzahlungen organisiert. Putin reiste an: als Retter der Enterbten in bescheidener grauer Jacke. Er hatte die Kapitalbesitzer, darunter den Milliardär Oleg Deripaska, zu einer Krisensitzung vor Ort eingeladen. Putin warf den Kapitalisten »Habgier« vor und zwang sie, sich per Unterschrift zur Weiterbeschäftigung der Arbeiter zu verpflichten. Zugleich wurde deutlich, dass in Russland Gewerkschaften und Arbeiterparteien schwach sind und die Hoffnung auf eine Begrenzung der Kapitalmacht unmittelbar an den Staatschef adressiert wird.
Der Milliardär Deripaska gehörte in den ersten Tagen des russischen Angriffs auf die Ukraine zu jenen Großkapitalisten, die sich mit Friedensparolen an die Regierung wandten. Zugleich artikulierte Deripaska dabei auch eigene bzw. Klasseninteressen: »Man muss die Wirtschaftspolitik ändern, man muss mit dem ganzen Staatskapitalismus Schluss machen.«
Aus keinem anderen kapitalistischen Land Europas haben sich je in so kurzer Zeit so viele Kapitalisten und Kapitalismusanhänger abgesetzt wie jetzt nach Beginn der Moskauer Militäroffensive in der Ukraine. Die unter Bruch bürgerlichen Rechts vom Westen verhängten Sanktionen auch gegen einzelne Oligarchen sind der Beweis, dass die westliche Bourgeoisie sie nicht als Klassenbrüder betrachtet.
Schwächen und Widersprüche
Dabei hat Putin zu keinem Zeitpunkt den Verdacht geweckt, er wolle zum Sozialismus zurückkehren. Dennoch ist er gezwungen, das positive Bild vieler Millionen Russen von der Sowjetunion zu berücksichtigen. Russland ist mental nach wie vor ein »antikapitalistisches Land«, so der Moskauer Historiker Andrej Fursow. Was vielen russischen Kapitalisten und ihrem kleinbürgerlichen Anhang in der Intelligenz nicht gefällt: Das Primat der Politik über die Wirtschaft ist unter Putin gekoppelt mit einer außenpolitischen Frontstellung gegen den US-Imperialismus. Diese Konstellation macht Russland zum strategischen Verbündeten des größten Staates der Welt, der von einer Kommunistischen Partei beherrscht wird, der Volksrepublik China, und auch zum verlässlichen Verbündeten Kubas.
Von diesem beiden Staaten jedoch unterscheidet sich die Russische Föderation in einem wesentlichen Punkt. Die Führung des Staats liegt nicht bei einer kollektiv handelnden, ideologisch gefestigten Partei, sondern in den Händen eines Mannes, der sich auf eine Elite aus Sicherheitsdiensten und Armee stützt. Die weltanschaulichen und machtpolitischen Schwächen dieses Systems können auf Dauer kaum militärisch kompensiert werden.
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Putins Wende
Im Spätsommer 1999 starben in der russischen Teilrepublik Dagestan und in Moskau bei mutmaßlich von islamistischen Terroristen verübten Bombenanschlägen mehr als 300 Menschen. Kurz zuvor hatten Islamistengruppen aus Tschetschenien Dagestan überfallen. Dann kam die Wende. Sie betraf auch die Rolle der Oligarchen. Der am 9. August von Jelzin zum Premierminister ernannte Wladimir Putin organisierte einen Feldzug gegen die tschetschenischen Separatisten und ließ die Landeshauptstadt Grosny bis Februar 2000 erobern. Der militärische Erfolg trug maßgeblich dazu bei, dass Putin im März 2000 die Präsidentenwahlen mit 53 Prozent der Stimmen gegen den Kommunisten Gennadi Sjugaow gewann, der 29 Prozent erhielt.
Über das Vorgehen im Nordkaukasus kam es schon Ende 1999 zu erheblichen Differenzen zwischen Putin auf der einen, Gussinski und Beresowski auf der anderen Seite. Beide betrachteten die Separatisten als politische Partner und als taktische Verbündete gegen Russlands Sicherheitskräfte, deren Gegnerschaft zu den Oligarchen offenkundig war. Es ging in diesem Konflikt um eine strategische Differenz. Gussinskis proamerikanischer Kurs schloss ein Interesse an einer nachhaltigen Schwächung Russlands durch den tschetschenischen Separatismus durchaus ein. Je schwächer Russland, so die Logik, von der auch die Clinton-Administration in Washington ausging, desto mehr werde Moskau genötigt sein, sich strategisch den USA unterzuordnen.
Nur wenige Wochen nach seiner Wahl zum Präsidenten im März 2000 begann Putin eine Kampagne gegen die Oligarchen. Den ersten Schlag führte der Inlandsgeheimdienst gegen Gussinski. Der kam im Mai 2000 wegen Betrugsvorwürfen in Haft, wenn auch nur für drei Tage. Danach ging es zu wie in dem Film »Der Pate« von Francis Ford Coppola: »Wir haben ihm ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte.« Gussinski gab seine Media-Holding auf und zog via Spanien nach Israel.
Bald darauf büßte Beresowski seine Anteile am führenden Fernsehkanal ein, der wieder voll in Staatshand kam. Er setzte sich nach Großbritannien ab, wo er 2013 unter ungeklärten Umständen starb. Der dritte Schlag gegen einen maßgeblichen Matador der »Semibankirschtschina« erfolgte im Oktober 2003. Da verhaftete der Inlandsgeheimdienst FSB den Oligarchen Michail Chodorkowski. Der hatte versucht, in der Staatsduma Abgeordnete zu korrumpieren. Selbst einige Deputierte der Kommunistischen Partei konnte er zeitweise in seinen Orbit ziehen. Chodorkowski hatte sich zudem bemüht, große Teile des Ölunternehmens Jukos-Sibneft an den US-Konzern Exxon Mobil zu verkaufen. Das hätte dem US-Kapital entscheidenden Einfluss auf die russische Ölproduktion verschafft.
In Strafverfahren wegen Veruntreuung von Staatsgeldern, Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung wurde Chodorkowski zu langer Lagerhaft verurteilt. Erst 2013 begnadigte Putin ihn mit einer Art Zarengeste. Die Ausschaltung Chodorkowskis führte zu beträchtlicher Unruhe unter Russlands Kapitalisten, von denen viele damals ebenso inständig wie vergeblich baten, bei Hofe vorgelassen zu werden. Doch Putin ließ sich auf ein Gespräch über sein Vorgehen nicht ein – auch nicht auf Druck einiger leitender Mitarbeitern seiner Administration, die mit dem Schlag gegen Chodorkowski ein Problem hatten. Denn einige von ihnen, darunter der langjährige Putin-Gehilfe Wladislaw Surkow, waren jahrelang geschäftlich mit Chodorkowski verbunden gewesen.
Primat der Politik
Beim Fall Chodorkowski ging es nicht nur um das Schicksal eines einzelnen Oligarchen, sondern um die Stellung des Oligarchats im politischen System. Der Kern des Konflikts war der Kampf um das Primat der Politik, den Putin für sich entschied: Den politischen Rahmen für die Kapitalverwertung und für das politische Agieren von Kapitalisten setzte fortan die Staatsführung. Dabei ging es Putin offensichtlich darum, die auf die USA ausgerichteten Teile der Kapitalelite lahmzulegen. Die Ausschaltung von Gussinki, Beresowski und Chodorkowski war ein Schlag des Staatskapitalismus gegen das Kompradorenkapital. Folgerichtig übernahm der Staatskonzern Rosneft Chodorkowskis Ölkonzern.
Charakteristisch für die von 2000 bis 2003 andauernde Schlacht gegen die Oligarchen war, dass Putin zunächst jene ins Visier nahm, die über relevante Medienkonzerne verfügten. Die Kontrolle über die Massenmedien erwies auch als ein maßgeblicher Hebel seiner Herrschaft, denn Putin mangelte es an einer schlagkräftigen Partei oder Jugendorganisation, die gesellschaftlich mobilisierungsfähig gewesen wäre.
Nach Verhaftung und Verurteilung Chodorkowskis verhielten sich Russlands große Kapitalisten gegenüber Putin wie aufmüpfige Schüler gegenüber einem Direktor, der gerade die frechsten von ihnen von der Schule geworfen hatte. Es wurde ruhiger in vielen Chefetagen. Grollen ging in leises Grummeln über. Russland war das einzige kapitalistische Land – zumindest in Europa –, in dem Milliardäre, die von politischen Parteien um Spenden gebeten wurden, antworteten, sie würden sich zunächst mal in der Administration des Präsidenten umhören, ob das erwünscht sei.
Die strukturelle Schwäche dieses politischen Systems, einer personalistischen und autoritären Staatsmacht, bei der das Machtinteresse einer aus Sicherheitskräften und Militär rekrutierten bürokratischen Führungsgruppe dominiert und die zwischen den Klassen und Schichten laviert, zeigt sich gerade in seinen vermeintlich starken Inszenierungen. Eine Szene, die im russischen Staatsfernsehen immer mal wieder gezeigt wird, spielte sich im Juni 2009 in der Industriestadt Pikaljowo, etwa 240 Kilometer östlich von Sankt Petersburg, ab. Werktätige dreier Fabriken hatten sich zu Protesten gegen Betriebsschließungen und ausbleibende Lohnzahlungen organisiert. Putin reiste an: als Retter der Enterbten in bescheidener grauer Jacke. Er hatte die Kapitalbesitzer, darunter den Milliardär Oleg Deripaska, zu einer Krisensitzung vor Ort eingeladen. Putin warf den Kapitalisten »Habgier« vor und zwang sie, sich per Unterschrift zur Weiterbeschäftigung der Arbeiter zu verpflichten. Zugleich wurde deutlich, dass in Russland Gewerkschaften und Arbeiterparteien schwach sind und die Hoffnung auf eine Begrenzung der Kapitalmacht unmittelbar an den Staatschef adressiert wird.
Der Milliardär Deripaska gehörte in den ersten Tagen des russischen Angriffs auf die Ukraine zu jenen Großkapitalisten, die sich mit Friedensparolen an die Regierung wandten. Zugleich artikulierte Deripaska dabei auch eigene bzw. Klasseninteressen: »Man muss die Wirtschaftspolitik ändern, man muss mit dem ganzen Staatskapitalismus Schluss machen.«
Aus keinem anderen kapitalistischen Land Europas haben sich je in so kurzer Zeit so viele Kapitalisten und Kapitalismusanhänger abgesetzt wie jetzt nach Beginn der Moskauer Militäroffensive in der Ukraine. Die unter Bruch bürgerlichen Rechts vom Westen verhängten Sanktionen auch gegen einzelne Oligarchen sind der Beweis, dass die westliche Bourgeoisie sie nicht als Klassenbrüder betrachtet.
Schwächen und Widersprüche
Dabei hat Putin zu keinem Zeitpunkt den Verdacht geweckt, er wolle zum Sozialismus zurückkehren. Dennoch ist er gezwungen, das positive Bild vieler Millionen Russen von der Sowjetunion zu berücksichtigen. Russland ist mental nach wie vor ein »antikapitalistisches Land«, so der Moskauer Historiker Andrej Fursow. Was vielen russischen Kapitalisten und ihrem kleinbürgerlichen Anhang in der Intelligenz nicht gefällt: Das Primat der Politik über die Wirtschaft ist unter Putin gekoppelt mit einer außenpolitischen Frontstellung gegen den US-Imperialismus. Diese Konstellation macht Russland zum strategischen Verbündeten des größten Staates der Welt, der von einer Kommunistischen Partei beherrscht wird, der Volksrepublik China, und auch zum verlässlichen Verbündeten Kubas.
Von diesem beiden Staaten jedoch unterscheidet sich die Russische Föderation in einem wesentlichen Punkt. Die Führung des Staats liegt nicht bei einer kollektiv handelnden, ideologisch gefestigten Partei, sondern in den Händen eines Mannes, der sich auf eine Elite aus Sicherheitsdiensten und Armee stützt. Die weltanschaulichen und machtpolitischen Schwächen dieses Systems können auf Dauer kaum militärisch kompensiert werden.
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Spezielle »Spezialoperation«
Der Angriff Russlands auf die Ukraine wirft Fragen auf. Welchen Charakter hat der Krieg, gegen wen und warum wird er geführt? Rätselhaftes Russland (Teil 2 und Schluss)
Von Harald Projanski
Was ist das für ein Krieg, der in der Ukraine tobt? Aus Sicht der bürgerlichen Presse ist die Lage eindeutig. Es handelt sich um »Putins Vernichtungskrieg« (Spiegel), um den Feldzug eines »faschistischen Regimes«, so der US-Historiker Timothy Snyder. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wird gleichzeitig vorgeworfen, er betreibe die »Rückabwicklung des Zerfalls der Sowjetunion« und versuche, »das Rad der Geschichte zurückzudrehen und das zerfallene russische Imperium wieder herzustellen« (so der Politologe Peter Graf Kielmannsegg in der FAZ). Die von den USA angeführten De-facto-Kriegsparteien gegen Russland versuchen sich mit ihren Propagandisten und Hilfstruppen in den BRD-Medien als Neuauflage der Antihitlerkoalition zu präsentieren. Es ist unübersehbar, dass sie damit in erheblichen Teilen der Bevölkerung und der Intelligenz bis in linke Kreise hinein Erfolg haben.
Die Haltung vieler Linker zum militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine brachte Aicha Jamal vom Roten Aufbau Hamburg am 23./24. April in der jungen Welt auf den Punkt: »Wir haben es mit zwei imperialistischen Mächten zu tun, die aufeinandertreffen.« Es handele sich um einen jener »Kriege der Bourgeoisie«, bei denen »die ›normalen Menschen‹ nur verlieren können«.
Position der KPRF
Doch so klar sich darin die Ablehnung imperialistischer Kriege ausdrückt, ist das schon die ganze Wahrheit? Eines fällt ins Auge, aber kaum jemandem auf: Die Position der größten linken politischen Kraft in Russland und der größten Oppositionspartei, der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), wird hierzulande kaum wahrgenommen. Gennadi Sjuganow, Vorsitzender der KPRF, hat am 19. April grundsätzlich zu dem Krieg »in den Weiten der brüderlichen Ukraine« Stellung genommen. Dort entscheide sich, so Sjuganow, »ob die Welt weiterhin monopolar sein wird«. Folgende Frage stehe im Raum: »Wird uns Amerika auch weiterhin an die Gurgel fassen, oder befreien wir uns aus der amerikanischen Kruste?«
Sjuganow sagte: »Heute entscheiden wir in der Ukraine die Hauptaufgabe der Entnazifizierung. Die Frage ist offen: Kann der Faschismus in Europa wieder auferstehen?« Daher, so der KPRF-Vorsitzende, »wünschen wir unseren Soldaten und Offizieren, die mutig und tapfer gegen die Bandera-Leute und den Nazismus kämpfen, neue Erfolge und Siege«.
Auf einer Tagung des Zentrums für politische Studien des ZK der KPRF sprach Sjuganow über die Aufgaben der Kommunisten in diesem Krieg und über die Perspektiven der Ukraine: »Wir sollten alles tun, um die uns verwandte Ukraine von Neofaschisten zu befreien.« Über die Zukunft der Ukraine sagte er: »Ihre echte Unabhängigkeit ist nur gemeinsam mit Russland möglich. Das hat die Geschichte bestätigt. Die am stärksten blühende Ukraine gab es im Bestand der Sowjetunion.«
Der Krieg in der Ukraine, den die KPRF, der offiziellen Moskauer Sprachregelung folgend, als »Spezialoperation« bezeichnet, hat aus Sicht der Kommunisten eine doppelte Bedeutung: als antifaschistischer Krieg und als geopolitischer Kampf gegen die US-amerikanische Hegemonie. Aus Sicht der KPRF, die in diesem Punkt mit der Haltung der russischen Staatsführung übereinstimmt, geht es darum, die Verwandlung der Ukraine in einen militärischen Vorposten und Stoßkeil der USA gegen Russland zu verhindern. Stolz verweisen die Kommunisten in öffentlichen Debatten darauf, dass es ihre Fraktion war, die im Januar in der Staatsduma beantragt hatte, die Donezker und Lugansker Volksrepubliken als Staaten anzuerkennen und unter russischen Schutz zu stellen.
Eine öffentliche kontroverse Debatte darüber, ob die am 24. Februar begonnene großangelegte Militäroperation in der Ukraine die klügste und den größten Erfolg versprechende Variante zum Schutz der Donbassrepubliken war, wird in der KPRF kaum geführt. Die seit Kriegsbeginn geltenden Beschränkungen für öffentliche Meinungsäußerungen erleichtern eine solche Debatte auch nicht gerade. Der stellvertretende KPRF-Vorsitzende Dmitri Nowikow vermeidet daher eine solche Diskussion. Er verweist auf die westliche Konfrontationspolitik insbesondere der USA und Großbritanniens, auf deren Entsendung von Waffen und Söldnern. Die jetzt vom Obersten Gericht der Donezker »Volksrepublik« zum Tode verurteilten britischen Söldner, so Nowikow, seien Verbrecher, aber auch »Opfer der Propaganda« – das lässt sich als Plädoyer lesen, sie aus humanitären Gründen nicht hinzurichten.
In einer Stellungnahme vom 9. Juni plädierte Nowikow für eine diplomatische Lösung des Konfliktes. Der Historiker konstatierte darin einen »Niedergang der Weltdiplomatie« und betonte die Notwendigkeit, mit den westlichen Staaten im Gespräch zu bleiben. Zugleich gibt es vor allem in einigen regionalen Organisationen der KPRF Positionen für einen Waffenstillstand so bald wie möglich. Doch Kritik am Kurs der Staatsführung birgt derzeit mehr als früher auch für die Kommunisten die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung. Sjuganow hat am 31. Mai auf einer allrussischen Parteiaktivtagung der KPRF darüber gesprochen. Der KPRF-Vorsitzende wandte sich an Putin mit der Aufforderung, Repression gegen Mitglieder der KPRF zu verhindern. Eine öffentliche Reaktion des Präsidenten blieb aus.
Nationale Einheitsfront
Die Kommunistische Partei bietet der russischen Staatsführung im Krieg gegen das von der NATO unterstützte Kiewer Regime eine Art nationale Einheitsfront an. Dabei berücksichtigen die russischen Kommunisten auch die Möglichkeit, dass dieser Krieg durch weitere ukrainische Militärschläge vor allem gegen russisches Gebiet eskalieren könnte, was einen nationalen Verteidigungskrieg nach sich ziehen könnte. Sjuganow sagte auf der Parteiaktivtagung vom 31. Mai, die »militärisch-politische Operation in der Ukraine« habe »historischen Charakter«. Er wies darauf hin, dass die Kommunisten den Widerstandskampf der Bevölkerung des Donbass gegen die Kiewer Macht schon seit acht Jahren unterstützen. In dieser Zeit haben die Kommunisten 15.000 Tonnen an humanitärer Hilfe in die Donbass-»Volksrepubliken« geschafft.
Sjuganow wies auch darauf hin, dass der Kampf in der Ukraine »um die Erhaltung und Festigung der russischen Welt« geführt werde. Es gehe auch um die Verteidigung der russischen Musik, Literatur und Geschichte. Zugleich betonte Sjuganow die internationalistische Ausrichtung der Partei. Er unterstrich die Unterstützung der russischen Kommunisten für die Volksrepublik Chinas gegen die von den USA militärisch unterstützten Separatisten in der chinesischen Provinz Taiwan.
Für die Innenpolitik forderte Sjuganow, in der Wirtschaft »die Rolle des Staates zu stärken und soziale Programme umzusetzen«. Außenpolitisch müssten »die Tore nach Osten« geöffnet werden – zu China. Er kritisierte die Folgen von rund 30 Jahren kapitalistischer Entwicklung: die »Spaltung der Gesellschaft«, die »technologische Rückständigkeit«, und er warnte vor den Folgen der Ausreise »einer halben Million junger Spezialisten, die gezwungen wurden, das Land zu verlassen«. Gemeint sind vor allem IT-Spezialisten und andere Fachleute, die auch wegen des Sanktionsdrucks Russland den Rücken gekehrt haben. Sjuganow erinnerte an das Potential der Sowjetunion, deren Gründung sich im Dezember zum einhundertsten Male jährt. Auf der Tagung sprach der KPRF-Vizevorsitzende Dmitri Nowikow offen aus, was eine Zusammenarbeit von Kommunisten und Regierung behindert: »In prinzipiellen Fragen vertritt der Kreml konsequent Positionen des Antikommunismus und Antisowjetismus.«
Die Kommunisten verweisen darauf, dass sie nicht nur erfolgreich den Widerstand gegen die damals modernste Militärmacht der Welt, das nazistische Deutschland, organisiert haben. Sie können auch damit argumentieren, dass schon Lenin erfolgreich den Kampf gegen ausländische Interventen und ihre Handlanger organisiert hatte, nämlich im russischen Bürgerkrieg ab 1918. Lenins Aufruf »Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr«, veröffentlicht am 22. Februar 1918 in der bolschewistischen Prawda, war ein Meisterstück politischer Dialektik. Lenin hatte damals dafür plädiert, das »erschöpfte geplagte Land vor neuen Kriegsprüfungen zu retten«, und warb für die in der Partei umstrittene Annahme des harten Friedens von Brest-Litowsk.
Doch zugleich rief er dazu auf, »alle Kräfte und Mittel des Landes« unmittelbar und »restlos in den Dienst der revolutionären Verteidigung« zu stellen. Und er machte es »allen Sowjets und revolutionären Organisationen« zur Pflicht, »jede Stellung bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen«. Der Appell endete mit den Losungen: »Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr! Es lebe das sozialistische Vaterland! Es lebe die internationale sozialistische Revolution!« Einen Tag später veröffentlichte er in der Prawda einen Artikel mit dem Titel »Frieden oder Krieg«, in dem er zum Aufbau einer »ernstzunehmenden, vom ganzen Volk getragenen mächtigen Armee« aufrief. Damit legte er den Grundstein für den Sieg der revolutionären Kräfte, der schließlich viereinhalb Jahre später in der Formierung der multinationalen Sowjetunion gipfelte.
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Spezielle »Spezialoperation«
Der Angriff Russlands auf die Ukraine wirft Fragen auf. Welchen Charakter hat der Krieg, gegen wen und warum wird er geführt? Rätselhaftes Russland (Teil 2 und Schluss)
Von Harald Projanski
Was ist das für ein Krieg, der in der Ukraine tobt? Aus Sicht der bürgerlichen Presse ist die Lage eindeutig. Es handelt sich um »Putins Vernichtungskrieg« (Spiegel), um den Feldzug eines »faschistischen Regimes«, so der US-Historiker Timothy Snyder. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wird gleichzeitig vorgeworfen, er betreibe die »Rückabwicklung des Zerfalls der Sowjetunion« und versuche, »das Rad der Geschichte zurückzudrehen und das zerfallene russische Imperium wieder herzustellen« (so der Politologe Peter Graf Kielmannsegg in der FAZ). Die von den USA angeführten De-facto-Kriegsparteien gegen Russland versuchen sich mit ihren Propagandisten und Hilfstruppen in den BRD-Medien als Neuauflage der Antihitlerkoalition zu präsentieren. Es ist unübersehbar, dass sie damit in erheblichen Teilen der Bevölkerung und der Intelligenz bis in linke Kreise hinein Erfolg haben.
Die Haltung vieler Linker zum militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine brachte Aicha Jamal vom Roten Aufbau Hamburg am 23./24. April in der jungen Welt auf den Punkt: »Wir haben es mit zwei imperialistischen Mächten zu tun, die aufeinandertreffen.« Es handele sich um einen jener »Kriege der Bourgeoisie«, bei denen »die ›normalen Menschen‹ nur verlieren können«.
Position der KPRF
Doch so klar sich darin die Ablehnung imperialistischer Kriege ausdrückt, ist das schon die ganze Wahrheit? Eines fällt ins Auge, aber kaum jemandem auf: Die Position der größten linken politischen Kraft in Russland und der größten Oppositionspartei, der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), wird hierzulande kaum wahrgenommen. Gennadi Sjuganow, Vorsitzender der KPRF, hat am 19. April grundsätzlich zu dem Krieg »in den Weiten der brüderlichen Ukraine« Stellung genommen. Dort entscheide sich, so Sjuganow, »ob die Welt weiterhin monopolar sein wird«. Folgende Frage stehe im Raum: »Wird uns Amerika auch weiterhin an die Gurgel fassen, oder befreien wir uns aus der amerikanischen Kruste?«
Sjuganow sagte: »Heute entscheiden wir in der Ukraine die Hauptaufgabe der Entnazifizierung. Die Frage ist offen: Kann der Faschismus in Europa wieder auferstehen?« Daher, so der KPRF-Vorsitzende, »wünschen wir unseren Soldaten und Offizieren, die mutig und tapfer gegen die Bandera-Leute und den Nazismus kämpfen, neue Erfolge und Siege«.
Auf einer Tagung des Zentrums für politische Studien des ZK der KPRF sprach Sjuganow über die Aufgaben der Kommunisten in diesem Krieg und über die Perspektiven der Ukraine: »Wir sollten alles tun, um die uns verwandte Ukraine von Neofaschisten zu befreien.« Über die Zukunft der Ukraine sagte er: »Ihre echte Unabhängigkeit ist nur gemeinsam mit Russland möglich. Das hat die Geschichte bestätigt. Die am stärksten blühende Ukraine gab es im Bestand der Sowjetunion.«
Der Krieg in der Ukraine, den die KPRF, der offiziellen Moskauer Sprachregelung folgend, als »Spezialoperation« bezeichnet, hat aus Sicht der Kommunisten eine doppelte Bedeutung: als antifaschistischer Krieg und als geopolitischer Kampf gegen die US-amerikanische Hegemonie. Aus Sicht der KPRF, die in diesem Punkt mit der Haltung der russischen Staatsführung übereinstimmt, geht es darum, die Verwandlung der Ukraine in einen militärischen Vorposten und Stoßkeil der USA gegen Russland zu verhindern. Stolz verweisen die Kommunisten in öffentlichen Debatten darauf, dass es ihre Fraktion war, die im Januar in der Staatsduma beantragt hatte, die Donezker und Lugansker Volksrepubliken als Staaten anzuerkennen und unter russischen Schutz zu stellen.
Eine öffentliche kontroverse Debatte darüber, ob die am 24. Februar begonnene großangelegte Militäroperation in der Ukraine die klügste und den größten Erfolg versprechende Variante zum Schutz der Donbassrepubliken war, wird in der KPRF kaum geführt. Die seit Kriegsbeginn geltenden Beschränkungen für öffentliche Meinungsäußerungen erleichtern eine solche Debatte auch nicht gerade. Der stellvertretende KPRF-Vorsitzende Dmitri Nowikow vermeidet daher eine solche Diskussion. Er verweist auf die westliche Konfrontationspolitik insbesondere der USA und Großbritanniens, auf deren Entsendung von Waffen und Söldnern. Die jetzt vom Obersten Gericht der Donezker »Volksrepublik« zum Tode verurteilten britischen Söldner, so Nowikow, seien Verbrecher, aber auch »Opfer der Propaganda« – das lässt sich als Plädoyer lesen, sie aus humanitären Gründen nicht hinzurichten.
In einer Stellungnahme vom 9. Juni plädierte Nowikow für eine diplomatische Lösung des Konfliktes. Der Historiker konstatierte darin einen »Niedergang der Weltdiplomatie« und betonte die Notwendigkeit, mit den westlichen Staaten im Gespräch zu bleiben. Zugleich gibt es vor allem in einigen regionalen Organisationen der KPRF Positionen für einen Waffenstillstand so bald wie möglich. Doch Kritik am Kurs der Staatsführung birgt derzeit mehr als früher auch für die Kommunisten die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung. Sjuganow hat am 31. Mai auf einer allrussischen Parteiaktivtagung der KPRF darüber gesprochen. Der KPRF-Vorsitzende wandte sich an Putin mit der Aufforderung, Repression gegen Mitglieder der KPRF zu verhindern. Eine öffentliche Reaktion des Präsidenten blieb aus.
Nationale Einheitsfront
Die Kommunistische Partei bietet der russischen Staatsführung im Krieg gegen das von der NATO unterstützte Kiewer Regime eine Art nationale Einheitsfront an. Dabei berücksichtigen die russischen Kommunisten auch die Möglichkeit, dass dieser Krieg durch weitere ukrainische Militärschläge vor allem gegen russisches Gebiet eskalieren könnte, was einen nationalen Verteidigungskrieg nach sich ziehen könnte. Sjuganow sagte auf der Parteiaktivtagung vom 31. Mai, die »militärisch-politische Operation in der Ukraine« habe »historischen Charakter«. Er wies darauf hin, dass die Kommunisten den Widerstandskampf der Bevölkerung des Donbass gegen die Kiewer Macht schon seit acht Jahren unterstützen. In dieser Zeit haben die Kommunisten 15.000 Tonnen an humanitärer Hilfe in die Donbass-»Volksrepubliken« geschafft.
Sjuganow wies auch darauf hin, dass der Kampf in der Ukraine »um die Erhaltung und Festigung der russischen Welt« geführt werde. Es gehe auch um die Verteidigung der russischen Musik, Literatur und Geschichte. Zugleich betonte Sjuganow die internationalistische Ausrichtung der Partei. Er unterstrich die Unterstützung der russischen Kommunisten für die Volksrepublik Chinas gegen die von den USA militärisch unterstützten Separatisten in der chinesischen Provinz Taiwan.
Für die Innenpolitik forderte Sjuganow, in der Wirtschaft »die Rolle des Staates zu stärken und soziale Programme umzusetzen«. Außenpolitisch müssten »die Tore nach Osten« geöffnet werden – zu China. Er kritisierte die Folgen von rund 30 Jahren kapitalistischer Entwicklung: die »Spaltung der Gesellschaft«, die »technologische Rückständigkeit«, und er warnte vor den Folgen der Ausreise »einer halben Million junger Spezialisten, die gezwungen wurden, das Land zu verlassen«. Gemeint sind vor allem IT-Spezialisten und andere Fachleute, die auch wegen des Sanktionsdrucks Russland den Rücken gekehrt haben. Sjuganow erinnerte an das Potential der Sowjetunion, deren Gründung sich im Dezember zum einhundertsten Male jährt. Auf der Tagung sprach der KPRF-Vizevorsitzende Dmitri Nowikow offen aus, was eine Zusammenarbeit von Kommunisten und Regierung behindert: »In prinzipiellen Fragen vertritt der Kreml konsequent Positionen des Antikommunismus und Antisowjetismus.«
Die Kommunisten verweisen darauf, dass sie nicht nur erfolgreich den Widerstand gegen die damals modernste Militärmacht der Welt, das nazistische Deutschland, organisiert haben. Sie können auch damit argumentieren, dass schon Lenin erfolgreich den Kampf gegen ausländische Interventen und ihre Handlanger organisiert hatte, nämlich im russischen Bürgerkrieg ab 1918. Lenins Aufruf »Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr«, veröffentlicht am 22. Februar 1918 in der bolschewistischen Prawda, war ein Meisterstück politischer Dialektik. Lenin hatte damals dafür plädiert, das »erschöpfte geplagte Land vor neuen Kriegsprüfungen zu retten«, und warb für die in der Partei umstrittene Annahme des harten Friedens von Brest-Litowsk.
Doch zugleich rief er dazu auf, »alle Kräfte und Mittel des Landes« unmittelbar und »restlos in den Dienst der revolutionären Verteidigung« zu stellen. Und er machte es »allen Sowjets und revolutionären Organisationen« zur Pflicht, »jede Stellung bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen«. Der Appell endete mit den Losungen: »Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr! Es lebe das sozialistische Vaterland! Es lebe die internationale sozialistische Revolution!« Einen Tag später veröffentlichte er in der Prawda einen Artikel mit dem Titel »Frieden oder Krieg«, in dem er zum Aufbau einer »ernstzunehmenden, vom ganzen Volk getragenen mächtigen Armee« aufrief. Damit legte er den Grundstein für den Sieg der revolutionären Kräfte, der schließlich viereinhalb Jahre später in der Formierung der multinationalen Sowjetunion gipfelte.
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•NEUER BEITRAG19.06.2022, 22:15 Uhr
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Kampf um Souveränität
Putin hat sich mehrfach abfällig über Lenin geäußert. Er hat bis in die jüngste Zeit immer wieder deutlich gemacht, dass seine politischen Bezüge mehr in der Zarenära als in der Sowjetzeit liegen. So zuletzt in einem Gespräch mit jungen Unternehmern, Ingenieuren und Wissenschaftlern am 9. Juni in Moskau. Zwar erwähnte er dort auch – was die bürgerliche Presse nicht zitierte – die »Errungenschaften der Sowjetunion«, doch vertiefte er dieses Thema nicht. Statt dessen verkündete er, »Souveränität« sei »für jedes Land, für jedes Volk« eine »Schlüsselfrage«. Denn wenn ein Land »nicht in der Lage« sei, »souveräne Entscheidungen zu treffen«, dann sei es »in gewissem Sinne eine Kolonie«. Eine Kolonie aber habe keine »Chancen zu überleben im harten geopolitischen Kampf«.
Souveränität teilt Putin in drei Kategorien, die militärpolitische, die ökonomische und die technologische. Die »Konsolidierung der Gesellschaft« sei eine »grundlegende Bedingung der Entwicklung«. Denn: »Wenn es keine Konsolidierung gibt, dann wird alles auseinanderfallen.« Offenkundig ist, dass in seinem konservativen Denken kaum Raum ist für gesellschaftliche Widersprüche oder Klasseninteressen. Diese weltanschauliche Betrachtung ergänzte Putin mit einem Rückblick auf den Zaren Peter I. Der habe, so Putin, im Großen Nordischen Krieg gegen Schweden 1700 bis 1721 Gebiete für Russland »zurückgebracht und gefestigt«. Und er fügte hinzu: »Wie es aussieht, fällt auch uns die Pflicht zu, zurückzubringen und zu festigen.« Diese »grundlegenden Werte«, so Putin, stellten die »Grundlage unserer Existenz« dar.
Das bezieht sich eindeutig auf die vom russischen Militär eingenommenen Gebiete in der Ukraine. Damit bekommt der Krieg aus Sicht des russischen Oberkommandierenden neben dem antifaschistischen und gegen die USA gerichteten geopolitischen Aspekt auch den Charakter eines russischen Einigungskrieges. Wobei unklar bleibt, wo die künftigen Grenzen des um »zurückgebrachte« Gebiete erweiterten Russland liegen sollen. Ebenso offen ist die Frage, was in dieser Konzeption von der Ukraine als Staat nach Putins Auffassung noch übrigbleiben soll.
Zu dieser Frage nahm ein enger Putin-Vertrauter, der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew, am 27. Mai in einem Interview mit der populären Moskauer Wochenzeitung Argumenty i Fakty Stellung. »Das Schicksal der Ukraine«, sagte Patruschew, werde »das Volk, das auf seinem Territorium lebt, entscheiden«. Zugleich deutete er an, dass die Voraussetzung dafür aus russischer Sicht die Zerschlagung des Kiewer Machtsystems ist. Dabei räumte Patruschew ein, dass die Kiewer Führung in der Ukraine über eine Massenbasis verfügt: »Leider glauben viele Ukrainer immer noch, was ihnen der Westen und das Kiewer Regime sagen.« Doch es komme »früher oder später die Ernüchterung«. Die Ukrainer müssten nur »die Augen öffnen und sehen, dass es das Land faktisch nicht mehr gibt, dass der genetische Fond des Volkes, sein kulturelles Gedächtnis vernichtet und ersetzt werden durch zügellose Genderkonzeptionen und leere liberale Werte«.
Patruschew fügte hinzu, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij solle nicht glauben, Russland werde irgendwann Reparationen wegen des Krieges zahlen: »Russland ist im Recht, Reparationen zu fordern von den Ländern, welche die Nazis in der Ukraine und das kriminelle Kiewer Regime gesponsert haben.« Die beiden Donbass-»Volksrepubliken« sollten »von ihnen Schadenersatz fordern für die gesamten materiellen Verluste von acht Jahren Aggression«.
»Vitrine der modernisierten Krim«
Auf welche Probleme das »Zurückführen« bisheriger ukrainischer Gebiete hin zu Russland stößt, darüber äußert sich in derselben Ausgabe von Argumenty i Fakty Kirilo Stremoussow, der Leiter der »militärisch-zivilen Administration« des südukrainischen Gebietes Cherson, das sich jetzt unter russischer Kontrolle befindet: »Die Statistik zeigt, dass etwa 40 Prozent der Bewohner des Gebietes weggefahren sind. Es werden Ärzte benötigt. Im Gebietskinderkrankenhaus waren 700 Leute als medizinisches Personal beschäftigt, geblieben sind 300.« Die Ausgereisten hätten »unter dem Druck und der Propaganda der ukrainischen Seite« Cherson verlassen.
Damit zeigt sich, dass Russlands Führung bei dem Versuch, ihr Staatsgebiet militärisch auf Kosten der Ukraine zu erweitern, auf gewaltige materielle, politische und psychologische Probleme stößt. Abgewandert sind vor allem junge und gut ausgebildete Bewohner des Gebietes. Diese Menschen werden das gegen Russland gerichtete Potential in der Ukraine und im Westen stärken und beim Wiederaufbau der bisherigen Ostukraine fehlen. Ob es Russland gelingen kann, mit einer streng kulturkonservativen Linie, wie sie Patruschew formuliert, die Mehrheit der jungen Ukrainer für sich zu gewinnen, darf stark bezweifelt werden. Diese Probleme würden dem Umfang nach nicht geringer, gelänge es den russischen Streitkräften in den kommenden Monaten und Jahren, auch die Großstädte Saporischschja, Odessa, Dnipro und Charkiw einzunehmen. Denn davon ist in Diskussionen Moskauer Militärs derzeit die Rede.
Berichte russischer Journalisten aus den von Russland kontrollierten Gebieten im Süden der Ukraine deuten darauf hin, dass erhebliche Teile der verbliebenen Bevölkerung in Cherson die russische Staatsbürgerschaft annehmen wollen und sich für einen Beitritt ihres Gebietes zu Russland nach dem Vorbild der Krim aussprechen. Warum die Beitrittsperspektive populärer ist als die zunächst diskutierte Schaffung einer »Volksrepublik« Cherson, begründet die russische Zeitschrift Expert: »Niemand im Süden der Ukraine möchte in eine ›graue Zone‹« nach dem Muster der Donbass-»Volksrepubliken«, »mit Verfall der Wirtschaft und ständigem Beschuss« durch die ukrainische Armee. Die »Vitrine der modernisierten Krim«, so das Blatt, sehe besser aus.
Der Vizevorsitzende der Cherson benachbarten russischen Teilrepublik Krim, Georgi Muradow bezeichnet das nördlich der Halbinsel gelegene Gebiet Cherson jetzt als »befreite Gebiete der ehemaligen Ukraine«. Vereinzelt hat der Zusammenbruch der ukrainischen Macht im Südosten der Ukraine auch linken Kräften neue Möglichkeiten eröffnet. In der Großstadt Berdjansk am Asowschen Meer wurde ein Aktivist der »Union der linken Kräfte« Chef der Stadtverwaltung. Die linksozialdemokratische Partei, die im März vom Sicherheitsrat der Ukraine verboten worden war, fordert die »Liquidierung des Oligarchats als Klasse«, die Nationalisierung der entscheidenden Wirtschaftszweige und ein »Maximum an Gerechtigkeit«. Deutlich stärker aber erweist sich die vom Kreml gelenkte konservative Partei »Einiges Russland«, die jetzt in den »befreiten Gebieten« Strukturen schafft.
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Kampf um Souveränität
Putin hat sich mehrfach abfällig über Lenin geäußert. Er hat bis in die jüngste Zeit immer wieder deutlich gemacht, dass seine politischen Bezüge mehr in der Zarenära als in der Sowjetzeit liegen. So zuletzt in einem Gespräch mit jungen Unternehmern, Ingenieuren und Wissenschaftlern am 9. Juni in Moskau. Zwar erwähnte er dort auch – was die bürgerliche Presse nicht zitierte – die »Errungenschaften der Sowjetunion«, doch vertiefte er dieses Thema nicht. Statt dessen verkündete er, »Souveränität« sei »für jedes Land, für jedes Volk« eine »Schlüsselfrage«. Denn wenn ein Land »nicht in der Lage« sei, »souveräne Entscheidungen zu treffen«, dann sei es »in gewissem Sinne eine Kolonie«. Eine Kolonie aber habe keine »Chancen zu überleben im harten geopolitischen Kampf«.
Souveränität teilt Putin in drei Kategorien, die militärpolitische, die ökonomische und die technologische. Die »Konsolidierung der Gesellschaft« sei eine »grundlegende Bedingung der Entwicklung«. Denn: »Wenn es keine Konsolidierung gibt, dann wird alles auseinanderfallen.« Offenkundig ist, dass in seinem konservativen Denken kaum Raum ist für gesellschaftliche Widersprüche oder Klasseninteressen. Diese weltanschauliche Betrachtung ergänzte Putin mit einem Rückblick auf den Zaren Peter I. Der habe, so Putin, im Großen Nordischen Krieg gegen Schweden 1700 bis 1721 Gebiete für Russland »zurückgebracht und gefestigt«. Und er fügte hinzu: »Wie es aussieht, fällt auch uns die Pflicht zu, zurückzubringen und zu festigen.« Diese »grundlegenden Werte«, so Putin, stellten die »Grundlage unserer Existenz« dar.
Das bezieht sich eindeutig auf die vom russischen Militär eingenommenen Gebiete in der Ukraine. Damit bekommt der Krieg aus Sicht des russischen Oberkommandierenden neben dem antifaschistischen und gegen die USA gerichteten geopolitischen Aspekt auch den Charakter eines russischen Einigungskrieges. Wobei unklar bleibt, wo die künftigen Grenzen des um »zurückgebrachte« Gebiete erweiterten Russland liegen sollen. Ebenso offen ist die Frage, was in dieser Konzeption von der Ukraine als Staat nach Putins Auffassung noch übrigbleiben soll.
Zu dieser Frage nahm ein enger Putin-Vertrauter, der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew, am 27. Mai in einem Interview mit der populären Moskauer Wochenzeitung Argumenty i Fakty Stellung. »Das Schicksal der Ukraine«, sagte Patruschew, werde »das Volk, das auf seinem Territorium lebt, entscheiden«. Zugleich deutete er an, dass die Voraussetzung dafür aus russischer Sicht die Zerschlagung des Kiewer Machtsystems ist. Dabei räumte Patruschew ein, dass die Kiewer Führung in der Ukraine über eine Massenbasis verfügt: »Leider glauben viele Ukrainer immer noch, was ihnen der Westen und das Kiewer Regime sagen.« Doch es komme »früher oder später die Ernüchterung«. Die Ukrainer müssten nur »die Augen öffnen und sehen, dass es das Land faktisch nicht mehr gibt, dass der genetische Fond des Volkes, sein kulturelles Gedächtnis vernichtet und ersetzt werden durch zügellose Genderkonzeptionen und leere liberale Werte«.
Patruschew fügte hinzu, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij solle nicht glauben, Russland werde irgendwann Reparationen wegen des Krieges zahlen: »Russland ist im Recht, Reparationen zu fordern von den Ländern, welche die Nazis in der Ukraine und das kriminelle Kiewer Regime gesponsert haben.« Die beiden Donbass-»Volksrepubliken« sollten »von ihnen Schadenersatz fordern für die gesamten materiellen Verluste von acht Jahren Aggression«.
»Vitrine der modernisierten Krim«
Auf welche Probleme das »Zurückführen« bisheriger ukrainischer Gebiete hin zu Russland stößt, darüber äußert sich in derselben Ausgabe von Argumenty i Fakty Kirilo Stremoussow, der Leiter der »militärisch-zivilen Administration« des südukrainischen Gebietes Cherson, das sich jetzt unter russischer Kontrolle befindet: »Die Statistik zeigt, dass etwa 40 Prozent der Bewohner des Gebietes weggefahren sind. Es werden Ärzte benötigt. Im Gebietskinderkrankenhaus waren 700 Leute als medizinisches Personal beschäftigt, geblieben sind 300.« Die Ausgereisten hätten »unter dem Druck und der Propaganda der ukrainischen Seite« Cherson verlassen.
Damit zeigt sich, dass Russlands Führung bei dem Versuch, ihr Staatsgebiet militärisch auf Kosten der Ukraine zu erweitern, auf gewaltige materielle, politische und psychologische Probleme stößt. Abgewandert sind vor allem junge und gut ausgebildete Bewohner des Gebietes. Diese Menschen werden das gegen Russland gerichtete Potential in der Ukraine und im Westen stärken und beim Wiederaufbau der bisherigen Ostukraine fehlen. Ob es Russland gelingen kann, mit einer streng kulturkonservativen Linie, wie sie Patruschew formuliert, die Mehrheit der jungen Ukrainer für sich zu gewinnen, darf stark bezweifelt werden. Diese Probleme würden dem Umfang nach nicht geringer, gelänge es den russischen Streitkräften in den kommenden Monaten und Jahren, auch die Großstädte Saporischschja, Odessa, Dnipro und Charkiw einzunehmen. Denn davon ist in Diskussionen Moskauer Militärs derzeit die Rede.
Berichte russischer Journalisten aus den von Russland kontrollierten Gebieten im Süden der Ukraine deuten darauf hin, dass erhebliche Teile der verbliebenen Bevölkerung in Cherson die russische Staatsbürgerschaft annehmen wollen und sich für einen Beitritt ihres Gebietes zu Russland nach dem Vorbild der Krim aussprechen. Warum die Beitrittsperspektive populärer ist als die zunächst diskutierte Schaffung einer »Volksrepublik« Cherson, begründet die russische Zeitschrift Expert: »Niemand im Süden der Ukraine möchte in eine ›graue Zone‹« nach dem Muster der Donbass-»Volksrepubliken«, »mit Verfall der Wirtschaft und ständigem Beschuss« durch die ukrainische Armee. Die »Vitrine der modernisierten Krim«, so das Blatt, sehe besser aus.
Der Vizevorsitzende der Cherson benachbarten russischen Teilrepublik Krim, Georgi Muradow bezeichnet das nördlich der Halbinsel gelegene Gebiet Cherson jetzt als »befreite Gebiete der ehemaligen Ukraine«. Vereinzelt hat der Zusammenbruch der ukrainischen Macht im Südosten der Ukraine auch linken Kräften neue Möglichkeiten eröffnet. In der Großstadt Berdjansk am Asowschen Meer wurde ein Aktivist der »Union der linken Kräfte« Chef der Stadtverwaltung. Die linksozialdemokratische Partei, die im März vom Sicherheitsrat der Ukraine verboten worden war, fordert die »Liquidierung des Oligarchats als Klasse«, die Nationalisierung der entscheidenden Wirtschaftszweige und ein »Maximum an Gerechtigkeit«. Deutlich stärker aber erweist sich die vom Kreml gelenkte konservative Partei »Einiges Russland«, die jetzt in den »befreiten Gebieten« Strukturen schafft.
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Brudermord
Putins Vorgehen mit dem Ziel, Gebiete des Nachbarlandes über die Donbass-»Volksrepubliken« hinaus in sein Staatsgebiet einzufügen, hat einen anachronistischen Zug. Es erinnert an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Bismarcks Reichseinigung mit »Blut und Eisen« führte damals zur Annexion der deutsch-französisch gemischten Provinzen Elsass und Lothringen. Dazu schrieb Karl Marx in der »Zweiten Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg« vom 9. September 1870, der »Boden dieser Provinzen« habe »vor langer Zeit dem längst verstorbnen deutschen Reich gehört«. Marx nahm das deutsche Annexionsstreben in Elsass-Lothringen zum Anlass für eine grundsätzliche und immer noch aktuelle Betrachtung: »Wenn die Grenzen durch militärische Interessen bestimmt werden sollen, werden die Ansprüche nie ein Ende nehmen, weil jede militärische Linie notwendig fehlerhaft ist und durch Annexion von weiterm Gebiet verbessert werden kann.«
Wer Marx über den damaligen Krieg liest, erkennt etwas, das auch für die Ukraine gilt. Der Krieg kann seinen Charakter ändern. Für die marxistische Betrachtung eines Krieges gilt es, Veränderungen in der Dynamik und Richtung der Politik der kämpfenden Parteien rechtzeitig zu erfassen und zu analysieren. In der »Ersten Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg« schrieb Marx am 23. Juli 1870, von deutscher Seite sei »der Krieg ein Verteidigungskrieg«. Doch wenn der Feldzug in einen Krieg gegen das französische Volk auszuarten drohe, dann würden »Sieg oder Niederlage gleich unheilvoll«. Marx sprach in diesem Kontext auch von einem »brüdermörderischen Kampf« »zwischen den Arbeitern Deutschlands und Frankreich«.
Von einem »brudermordenden Krieg« zwischen Russen und Ukrainern ist selbst in Debatten im russischen Staatsfernsehen bisweilen die Rede. Diesen Begriff verwendete kürzlich der Generaldirektor der russischen Filmstudios, der Regisseur Karen Schachnasarow, in einer Diskussion. Der Sohn eines einstigen Politbüroberaters vertrat zudem die These, der Krieg in der Ukraine sei auch eine »Fortsetzung des russischen Bürgerkrieges«. Dafür spricht sowohl das Agieren ukrainischer Nationalisten wie auch ausländischer Unterstützter der Kiewer Macht.
Anders als in den Jahren 1918 bis 1920 ist aber die Einmischung westlicher Mächte, vor allem der USA, zugunsten der Kiewer Elite ungleich stärker. Damit aber ist der Kampf um die Ukraine auch Teil eines Weltkonfliktes, dessen Hauptabschnitt im pazifischen Raum zwischen China und den USA liegt. Die von Russland begonnene Militäroffensive ist kein Krieg für die Interessen von Bank- und Konzernherren, sondern ein gewiss brachialer Versuch, die Verwandlung der Ukraine in einen Aufmarschplatz der USA gegen Russland nachhaltig zu verhindern. Dabei könnte sich erweisen, dass das von den USA und seinen Verbündeten ausgehaltene korrupte Regime in Kiew womöglich auf Dauer nicht stabiler ist als frühere US-Vasallenregime von Südvietnam bis Afghanistan.
Antiimperialistisches Gegenlager
Global stehen in einem Konflikt jetzt China und Russland, Länder, die niemals überseeische Kolonien hatten, gegen die in der NATO vereinten Kolonial- und Neokolonialmächte. Es geht dabei in der Perspektive um die Souveränität eines kontinentalen Raumes, der vom belarussischen Brest über Donezk bis nach Shanghai reicht. Dort liegt ein mächtiges Gegenlager zum imperialistischen Hegemon USA. Jeder, der sich als antiimperialistisch, links oder marxistisch versteht, sollte sich dieser Tatsache stellen, auch wenn die inneren Verhältnisse in China und Russland historisch bedingt in vielem nicht den Wunschvorstellungen westlicher Linker entsprechen.
Doch weil es dieses Lager gibt, können die Kriegstrommler in Washington und Brüssel angesichts des Krieges in der Ukraine nicht auf die Sympathien der Völker Asiens, Afrikas und Südamerikas setzen. Denn dort versteht man weit besser als in den kapitalistischen Ländern des Nordens, von welcher Seite der Krieg in der Ukraine eindeutig imperialistischen Charakter trägt.
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Brudermord
Putins Vorgehen mit dem Ziel, Gebiete des Nachbarlandes über die Donbass-»Volksrepubliken« hinaus in sein Staatsgebiet einzufügen, hat einen anachronistischen Zug. Es erinnert an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Bismarcks Reichseinigung mit »Blut und Eisen« führte damals zur Annexion der deutsch-französisch gemischten Provinzen Elsass und Lothringen. Dazu schrieb Karl Marx in der »Zweiten Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg« vom 9. September 1870, der »Boden dieser Provinzen« habe »vor langer Zeit dem längst verstorbnen deutschen Reich gehört«. Marx nahm das deutsche Annexionsstreben in Elsass-Lothringen zum Anlass für eine grundsätzliche und immer noch aktuelle Betrachtung: »Wenn die Grenzen durch militärische Interessen bestimmt werden sollen, werden die Ansprüche nie ein Ende nehmen, weil jede militärische Linie notwendig fehlerhaft ist und durch Annexion von weiterm Gebiet verbessert werden kann.«
Wer Marx über den damaligen Krieg liest, erkennt etwas, das auch für die Ukraine gilt. Der Krieg kann seinen Charakter ändern. Für die marxistische Betrachtung eines Krieges gilt es, Veränderungen in der Dynamik und Richtung der Politik der kämpfenden Parteien rechtzeitig zu erfassen und zu analysieren. In der »Ersten Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg« schrieb Marx am 23. Juli 1870, von deutscher Seite sei »der Krieg ein Verteidigungskrieg«. Doch wenn der Feldzug in einen Krieg gegen das französische Volk auszuarten drohe, dann würden »Sieg oder Niederlage gleich unheilvoll«. Marx sprach in diesem Kontext auch von einem »brüdermörderischen Kampf« »zwischen den Arbeitern Deutschlands und Frankreich«.
Von einem »brudermordenden Krieg« zwischen Russen und Ukrainern ist selbst in Debatten im russischen Staatsfernsehen bisweilen die Rede. Diesen Begriff verwendete kürzlich der Generaldirektor der russischen Filmstudios, der Regisseur Karen Schachnasarow, in einer Diskussion. Der Sohn eines einstigen Politbüroberaters vertrat zudem die These, der Krieg in der Ukraine sei auch eine »Fortsetzung des russischen Bürgerkrieges«. Dafür spricht sowohl das Agieren ukrainischer Nationalisten wie auch ausländischer Unterstützter der Kiewer Macht.
Anders als in den Jahren 1918 bis 1920 ist aber die Einmischung westlicher Mächte, vor allem der USA, zugunsten der Kiewer Elite ungleich stärker. Damit aber ist der Kampf um die Ukraine auch Teil eines Weltkonfliktes, dessen Hauptabschnitt im pazifischen Raum zwischen China und den USA liegt. Die von Russland begonnene Militäroffensive ist kein Krieg für die Interessen von Bank- und Konzernherren, sondern ein gewiss brachialer Versuch, die Verwandlung der Ukraine in einen Aufmarschplatz der USA gegen Russland nachhaltig zu verhindern. Dabei könnte sich erweisen, dass das von den USA und seinen Verbündeten ausgehaltene korrupte Regime in Kiew womöglich auf Dauer nicht stabiler ist als frühere US-Vasallenregime von Südvietnam bis Afghanistan.
Antiimperialistisches Gegenlager
Global stehen in einem Konflikt jetzt China und Russland, Länder, die niemals überseeische Kolonien hatten, gegen die in der NATO vereinten Kolonial- und Neokolonialmächte. Es geht dabei in der Perspektive um die Souveränität eines kontinentalen Raumes, der vom belarussischen Brest über Donezk bis nach Shanghai reicht. Dort liegt ein mächtiges Gegenlager zum imperialistischen Hegemon USA. Jeder, der sich als antiimperialistisch, links oder marxistisch versteht, sollte sich dieser Tatsache stellen, auch wenn die inneren Verhältnisse in China und Russland historisch bedingt in vielem nicht den Wunschvorstellungen westlicher Linker entsprechen.
Doch weil es dieses Lager gibt, können die Kriegstrommler in Washington und Brüssel angesichts des Krieges in der Ukraine nicht auf die Sympathien der Völker Asiens, Afrikas und Südamerikas setzen. Denn dort versteht man weit besser als in den kapitalistischen Ländern des Nordens, von welcher Seite der Krieg in der Ukraine eindeutig imperialistischen Charakter trägt.
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•NEUER BEITRAG06.07.2022, 12:12 Uhr
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Die »Imperialismus«-Inflation
Ist Russland imperialistisch? Einige Überlegungen angesichts des Kriegs in der Ukraine
Von Arnold Schölzel
Der vorliegende Vortrag wurde am vergangenen Sonntag, dem 3. Juli 2022, in Frankfurt am Main bei der von der Marx-Engels-Stiftung und der DKP Frankfurt/M. ausgerichteten Tagung »Frieden gebieten, wo die Herrschenden Krieg schreien!« gehalten.(jW)
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine erfreut sich der Imperialismusbegriff einer Hochkonjunktur. Der Bundeskanzler, Lars Klingbeil, die MLPD, Trotzkisten jeder Couleur, der öffentlich-rechtliche Rundfunk und Kommentatoren der großen Presseorgane hierzulande haben herausgefunden, dass es einen imperialistischen Staat auf der Welt gibt, nämlich die Russische Föderation. Manche sind zur Bezeichnung Faschismus übergangen. Einige kommunistische Parteien sind der Auffassung, es handele sich auf beiden Seiten um einen imperialistischen Krieg, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) ist anderer Meinung. Sie vertritt die Auffassung, dass die systemische Krise des russischen Kapitalismus durch den Krieg verschärft wird und eine soziale Katastrophe droht.
Übereinstimmung mit der NATO
Die NATO erklärte auf dem Gipfel von Madrid nach mehr als 30 Jahren, in denen sie als Bündnis oder einzelne ihrer Mitglieder Angriffskriege geführt haben, sie sei ein »Verteidigungsbündnis«, suche »keine Konfrontation« und stelle »für die Russische Föderation keine Bedrohung dar«. Folgerichtig kündigte sie an, statt wie bisher 40.000 Soldaten in erhöhte Bereitschaft zu stellen, zukünftig 300.000 an der östlichen Flanke des Bündnisses zu halten. Im übrigen: »Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum.« Der Begriff »Imperialismus« fehlt hier, ist aber gemeint, wie Olaf Scholz am Donnerstag in Madrid erklärte. Er wies den Vorwurf Wladimir Putins, der Westen habe »imperiale Ambitionen«, zurück und meinte, das sei »ziemlich lächerlich«. »Tatsächlich ist es Putin, der Imperialismus zum Ziel seiner Politik gemacht hat.« Die NATO sei eine defensive Allianz und für niemanden eine Bedrohung.
Das alles müsste Marxisten nicht interessieren oder nur, soweit sie sich mit Demagogie und Propaganda befassen. Interessieren muss sie, wenn Genossinnen und Genossen aus der kommunistischen Bewegung den Imperialismusbegriff in verblüffender Übereinstimmung mit der NATO gebrauchen wie z. B. die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) oder die Türkische KP. Die KKE formulierte: »Ungeachtet der Vorwände auf beiden Seiten ist der militärische Konflikt in der Ukraine das Ergebnis einer Verschärfung des Konkurrenzkampfes zwischen den beiden verfeindeten Lagern, der sich vor allem um Einflusssphären, Marktanteile, Rohstoffe, Energiepläne und Transportwege dreht; ein Konkurrenzkampf, der mit diplomatisch-politischen Mitteln und fragilen Kompromissen nicht mehr zu lösen ist. (…) Sich mit dem einen oder anderen imperialistischen Lager zu verbünden kann keine Antwort für die Interessen unseres Volkes sein.« Ähnliches steht in einer Erklärung von kommunistischen und Arbeiterparteien vom 25. Februar. Die Texte unterscheiden sich von anderen Stellungnahmen wie denen aus der Partei Die Linke dadurch, dass sie die Vorgeschichte des Krieges, insbesondere die Ausdehnung der NATO nach Osten, thematisieren. Erklären fällt inzwischen in der Linkspartei wie bei den anderen Bundestagsparteien unter »rechtfertigen« und »relativieren«. Der Angriff auf die Ukraine wird damit als singuläres Verbrechen eingestuft und dementsprechend vom ersten Tag an in die Nähe des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion gerückt.
Das Resultat ist eine ähnliche Situation wie zu Beginn des Ersten Weltkrieges, der zum Zusammenbruch der II. Internationale führte. Fest steht jedenfalls, dass der Krieg in der Ukraine die durch das Ende der Sowjetunion geschwächte internationale kommunistische Bewegung auf gegensätzliche Positionen getrieben hat. Merkwürdig erscheint dabei, dass die Positionen zahlreicher Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas der Einschätzung, es handele sich um »Imperialismus« auf beiden Seiten oder allein um russischen Imperialismus, nicht folgen. Die Regierung Kubas vermeidet in ihrer Stellungnahme den Begriff. Das gilt aber auch für die 35 Staaten, die sich am 2. März in der UN-Vollversammlung bei der Verurteilung Russlands der Stimme enthielten. Allein acht afrikanische Staaten nahmen demonstrativ nicht an der Abstimmung teil. Die Reise von Scholz in drei Länder Afrikas war in dieser Hinsicht ein Misserfolg. Die Einladung an fünf Schwellenländer zum G7-Gipfel nach Elmau brachte keine Veränderung und wurde als Niederlage des Westens gewertet. Senegals Präsident Macky Sall, der, begleitet von bösen Kommentaren, Putin in Sotschi besuchte, fasste das am 10. Juni in Paris so zusammen: »Uns geht es nicht um die Frage, wer im Unrecht ist und wer im Recht. Wir wollen einfach nur Zugang zu Getreide und Düngemitteln haben.«
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•NEUER BEITRAG06.07.2022, 12:21 Uhr
EDIT: FPeregrin
06.07.2022, 12:23 Uhr
06.07.2022, 12:23 Uhr
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Lenins Ansatz
Die inflationistische Verwendung der Vokabel gäbe es nicht, wäre sie eindeutig. Lenin selbst hat »Imperialismus« nicht nur auf den Monopolkapitalismus bezogen. In seiner Besprechung der »Junius«-Broschüre von Rosa Luxemburg hebt er wie so oft in der Auseinandersetzung mit ihr hervor, dass selbstverständlich auch unter imperialistischen Bedingungen ein nationaler Krieg »in einen imperialistischen umschlagen kann und umgekehrt«.¹ Junius vertrat nämlich die These, dass es im Imperialismus keine nationalen Kriege mehr geben und daher Serbien keinen nationalen Befreiungskrieg führen könne, weil hinter dem serbischen Nationalismus der russische Imperialismus stehe. Lenin räumte ein, das treffe im damaligen Weltkrieg zu, dürfe aber nicht einseitig, abstrakt übertrieben werden. Lenin: »Ein Fehler wäre es nur, wollte man diese Wahrheit übertreiben, von der marxistischen Forderung, konkret zu bleiben, abweichen, die Einschätzung des jetzigen Krieges auf alle im Imperialismus möglichen Kriege übertragen und die nationalen Bewegungen gegen den Imperialismus vergessen.« Es sei Sophistik, nicht Dialektik, aus der Tatsache, dass nationale Kriege in imperialistische umschlagen können, zu schließen, es gebe keinen Unterschied zwischen beiden. Ein Grundsatz der marxistischen Dialektik sei, »dass alle Grenzen in der Natur und in der Gesellschaft bedingt und beweglich sind, dass es keine einzige Erscheinung gibt, die nicht unter gewissen Bedingungen in ihr Gegenteil umschlagen kann.« Lenins Beispiel: »Die Kriege der Großen Französischen Revolution begannen als nationale Kriege und waren auch solche. Diese Kriege waren revolutionär, sie dienten der Verteidigung der großen Revolution gegen eine Koalition konterrevolutionärer Monarchen. Als aber Napoleon das französische Kaiserreich errichtete und eine ganze Reihe seit langem bestehender, großer, lebensfähiger Nationalstaaten Europas unterjochte, da wurden die nationalen französischen Kriege zu imperialistischen, die nun ihrerseits nationale Befreiungskriege gegen den Imperialismus Napoleons erzeugten.« Lenin beendet die Kritik an Luxemburg mit der Bemerkung: »Wir aber bleiben Dialektiker, wir bekämpfen die Sophismen nicht dadurch, dass wir die Möglichkeit jedweden Umschlagens überhaupt leugnen, sondern indem wir das Gegebene in seinem Milieu und seiner Entwicklung konkret analysieren.«²
Was also ist das konkret Gegebene in seinem Milieu und seiner Entwicklung in Russland?
Die Frage, die von einigen kommunistischen Parteien bejaht wird, ist, ob Russland ein imperialistisches Land ist. Eine Diskussion darüber gab es schon vor einigen Jahren in der DKP. So bejahte dies z. B. Willi Gerns und begründete das so: »Große produktions- und marktbeherrschende Unternehmen und Unternehmensverbände mit verzweigten Netzen von Tochterunternehmen im In- und Ausland, also Monopole, im Besitz von Oligarchen, in staatskapitalistischer oder gemischter Form gibt es sowohl mit Sitz in der Russischen Föderation als auch im Ausland, wie die Fakten eindeutig belegen. Und diese besagen zugleich, dass sie auch nach außen, in Produktions- und Finanzanlagen im Ausland und auf ausländische Märkte drängen. Dies in andere Nachfolgestaaten der UdSSR, aber mehr und mehr auch ins westliche Ausland.«³ Allerdings, so Gerns, spiele Russland eine »objektiv positive Rolle« zusammen mit China und anderen Staaten »im Kampf um eine multipolare Weltordnung und die Grenzsetzung für den Weltherrschaftsanspruch des US-Imperialismus und seiner NATO-Satelliten«.
In jüngster Zeit haben sich Andreas Wehr am 1. Mai und Harald Projanski in der jungen Welt zu dieser Problematik geäußert und die These, es handele sich bei dem Krieg von seiten Russlands um einen imperialistischen, abgelehnt.⁴ Beide argumentieren mit den fünf Merkmalen, die Lenin für eine Definition des Imperialismus zusammengestellt hat. Wehr wandte sich insbesondere gegen die Stellungnahme der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), wonach außer Frage stehe, »dass Russland ein imperialistisches Land ist«. Er weist darauf hin, meines Erachtens zu Recht, dass es in diesem Krieg um etwas anderes geht: »Es ist der traditionelle, in Jahrhunderten entwickelte Anspruch des Westens – unter historisch sich einander ablösenden Vormächten – auf Weltherrschaft, auf Kolonisierung und Beherrschung peripherer Gebiete, deren Rohstoffe und Arbeitskräfte sowie Märkte er für seinen Wohlstand glaubt benötigen zu müssen. Nach Jahren voller Illusionen musste Moskau am Ende einsehen, dass man in diesem Klub der elitären Staaten nur geduldet ist, wenn man die Rolle des willigen Rohstofflieferanten und des offenen Absatzmarktes spielt. Die Verfolgung eigener strategischer Interessen wird hingegen nicht akzeptiert.«
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Lenins Ansatz
Die inflationistische Verwendung der Vokabel gäbe es nicht, wäre sie eindeutig. Lenin selbst hat »Imperialismus« nicht nur auf den Monopolkapitalismus bezogen. In seiner Besprechung der »Junius«-Broschüre von Rosa Luxemburg hebt er wie so oft in der Auseinandersetzung mit ihr hervor, dass selbstverständlich auch unter imperialistischen Bedingungen ein nationaler Krieg »in einen imperialistischen umschlagen kann und umgekehrt«.¹ Junius vertrat nämlich die These, dass es im Imperialismus keine nationalen Kriege mehr geben und daher Serbien keinen nationalen Befreiungskrieg führen könne, weil hinter dem serbischen Nationalismus der russische Imperialismus stehe. Lenin räumte ein, das treffe im damaligen Weltkrieg zu, dürfe aber nicht einseitig, abstrakt übertrieben werden. Lenin: »Ein Fehler wäre es nur, wollte man diese Wahrheit übertreiben, von der marxistischen Forderung, konkret zu bleiben, abweichen, die Einschätzung des jetzigen Krieges auf alle im Imperialismus möglichen Kriege übertragen und die nationalen Bewegungen gegen den Imperialismus vergessen.« Es sei Sophistik, nicht Dialektik, aus der Tatsache, dass nationale Kriege in imperialistische umschlagen können, zu schließen, es gebe keinen Unterschied zwischen beiden. Ein Grundsatz der marxistischen Dialektik sei, »dass alle Grenzen in der Natur und in der Gesellschaft bedingt und beweglich sind, dass es keine einzige Erscheinung gibt, die nicht unter gewissen Bedingungen in ihr Gegenteil umschlagen kann.« Lenins Beispiel: »Die Kriege der Großen Französischen Revolution begannen als nationale Kriege und waren auch solche. Diese Kriege waren revolutionär, sie dienten der Verteidigung der großen Revolution gegen eine Koalition konterrevolutionärer Monarchen. Als aber Napoleon das französische Kaiserreich errichtete und eine ganze Reihe seit langem bestehender, großer, lebensfähiger Nationalstaaten Europas unterjochte, da wurden die nationalen französischen Kriege zu imperialistischen, die nun ihrerseits nationale Befreiungskriege gegen den Imperialismus Napoleons erzeugten.« Lenin beendet die Kritik an Luxemburg mit der Bemerkung: »Wir aber bleiben Dialektiker, wir bekämpfen die Sophismen nicht dadurch, dass wir die Möglichkeit jedweden Umschlagens überhaupt leugnen, sondern indem wir das Gegebene in seinem Milieu und seiner Entwicklung konkret analysieren.«²
Was also ist das konkret Gegebene in seinem Milieu und seiner Entwicklung in Russland?
Die Frage, die von einigen kommunistischen Parteien bejaht wird, ist, ob Russland ein imperialistisches Land ist. Eine Diskussion darüber gab es schon vor einigen Jahren in der DKP. So bejahte dies z. B. Willi Gerns und begründete das so: »Große produktions- und marktbeherrschende Unternehmen und Unternehmensverbände mit verzweigten Netzen von Tochterunternehmen im In- und Ausland, also Monopole, im Besitz von Oligarchen, in staatskapitalistischer oder gemischter Form gibt es sowohl mit Sitz in der Russischen Föderation als auch im Ausland, wie die Fakten eindeutig belegen. Und diese besagen zugleich, dass sie auch nach außen, in Produktions- und Finanzanlagen im Ausland und auf ausländische Märkte drängen. Dies in andere Nachfolgestaaten der UdSSR, aber mehr und mehr auch ins westliche Ausland.«³ Allerdings, so Gerns, spiele Russland eine »objektiv positive Rolle« zusammen mit China und anderen Staaten »im Kampf um eine multipolare Weltordnung und die Grenzsetzung für den Weltherrschaftsanspruch des US-Imperialismus und seiner NATO-Satelliten«.
In jüngster Zeit haben sich Andreas Wehr am 1. Mai und Harald Projanski in der jungen Welt zu dieser Problematik geäußert und die These, es handele sich bei dem Krieg von seiten Russlands um einen imperialistischen, abgelehnt.⁴ Beide argumentieren mit den fünf Merkmalen, die Lenin für eine Definition des Imperialismus zusammengestellt hat. Wehr wandte sich insbesondere gegen die Stellungnahme der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), wonach außer Frage stehe, »dass Russland ein imperialistisches Land ist«. Er weist darauf hin, meines Erachtens zu Recht, dass es in diesem Krieg um etwas anderes geht: »Es ist der traditionelle, in Jahrhunderten entwickelte Anspruch des Westens – unter historisch sich einander ablösenden Vormächten – auf Weltherrschaft, auf Kolonisierung und Beherrschung peripherer Gebiete, deren Rohstoffe und Arbeitskräfte sowie Märkte er für seinen Wohlstand glaubt benötigen zu müssen. Nach Jahren voller Illusionen musste Moskau am Ende einsehen, dass man in diesem Klub der elitären Staaten nur geduldet ist, wenn man die Rolle des willigen Rohstofflieferanten und des offenen Absatzmarktes spielt. Die Verfolgung eigener strategischer Interessen wird hingegen nicht akzeptiert.«
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•NEUER BEITRAG06.07.2022, 12:25 Uhr
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Schwaches Kettenglied?
Projanski betont die Besonderheit des »russischen Imperiums«: die Restauration des Kapitalismus ohne Existenz einer Bourgeoisie und ohne Kapitalisten. Rohstoffsektor, Banken und Medien wurden von zumeist jungen Sowjetkadern inklusive Gangstern aus der mittleren sowjetischen Führungsschicht angeeignet. Der Staat spielt ihnen gegenüber eine völlig andere, nämlich bestimmende Rolle als in »gewachsenen« Imperialismen des Westens.
Projanski folgt damit, soweit ich sehe, Auffassungen, die auch in der KPRF vertreten werden. So verwendet deren Präsidiumsmitglied Sergej Obuchow den Begriff »junger Imperialismus« für die Verhältnisse in Russland. Die KPRF sieht darin offenbar eine Parallele zum noch jungen Imperialismus im zaristischen Russland bis 1917.
2019 hielt ein Plenum des Zentralkomitees der Partei jedenfalls fest, die akuten gesellschaftlichen Widersprüche Russlands seien »durchaus vergleichbar mit den Hauptwidersprüchen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution gelöst wurden«. Von daher leitet sie ihre Strategie zur Wiedererrichtung des Sozialismus ab: »Der Hauptwiderspruch ist, wie vor 100 Jahren, der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Die Frage der Arbeitskräfte wurde zu einer akuten Frage. Niedrige Löhne, hohe Arbeitslosigkeit und lange Arbeitszeiten gehörten zu den Gründen. Auch die Bauernfrage wurde akut: Proletarisierung des ländlichen Raums, Landlosigkeit, Bildung großer Latifundien und extrem niedrige Löhne auf dem Lande. Interethnische und interregionale Widersprüche wurden wieder relevant. Die Summe all dieser Widersprüche bringt Russland in die Position eines schwachen Glieds in der Kette des Kapitalismus.« Das entspricht auch der Charakteristik des Kapitalismus in Russland im Programm der KPRF. Sie hebt die »systemische Krise« hervor, in der sich das Land seit dem Ende der Sowjetunion befinde. Heute unterstützt die Partei die Verteidigung des Donbass, die sie seit 2014 konsequent mit zivilen Gütern versorgt hat. Die Dumafraktion der KPRF hat am 15. Februar – am Tag des Besuchs von Scholz in Moskau – den Vorschlag gemacht, die beiden »Volksrepubliken« diplomatisch anzuerkennen – im vollen Bewusstsein der Konsequenzen. Ist sie deswegen sozialimperialistisch? Sie unterstützt insbesondere die Befreiung des Donbass, wendet sich aber gegen die antikommunistischen und chauvinistischen Bemerkungen Putins, mit denen er den Einmarsch begründete. Die KPRF sucht in dieser Lage einen Ausweg aus der drohenden Katastrophe, den sie im Sozialismus sieht. Putin zieht bekanntlich Vergleiche zu Peter I. und dessen »Zurückholen« von Gebieten, die er zum russischen Reich seit dem Mittelalter zählt.
Am 30. Juni fand eine Tagung des Zentralkomitees der KPRF statt, auf der der Vorsitzende Gennadi Sjuganow aus einem Dokument der Partei vom April vergangenen Jahres zitierte, um die dramatische Lage zu charakterisieren: »Das Gefährlichste für unser Land und die gesamte Menschheit ist das Virus des Kapitalismus. In den letzten dreißig Jahren hat Russland vier ausgewachsene Wirtschaftskrisen erlebt. Zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts waren von einer katastrophalen Stagnation geprägt. Die Wirtschaft und die Finanzen des Landes sind noch immer unter der Kontrolle liberaler Fundamentalisten. Das pandemische Coronavirus hat mit besonderer Kraft und Klarheit die Bösartigkeit und die Gefahren des kapitalistischen Systems offenbart. (…) Die Beendigung der Bacchanalien des Kapitalismus ist die einzige Voraussetzung für die Souveränität Russlands und sein Überleben. Die einzige Alternative zur drohenden Katastrophe ist eine sozialistische Wiederbelebung. Nur die Kommunisten und unsere Verbündeten können ein Rezept zur Überwindung der Krise und der Degradierung, zum Wiederaufbau der Gesellschaft und zur Rettung der Nation vor dem Aussterben anbieten. Um unsere Ansätze in die Praxis umzusetzen, muss ein schöpfungsorientierter Staat aufgebaut werden. Nur der Staat des Sozialismus kann ein solcher Staat sein.«
Sjuganow sagte zum Krieg: »Jetzt führt der Imperialismus einen neuen Krieg. Viele Jahre lang wurde die Ukraine in den Sumpf der Russophobie gestoßen, jetzt in einen schrecklichen Bruderkrieg. Zum x-ten Male in ihrer Geschichte kämpfen die USA mit den Händen anderer Menschen. Bidens Team verlängert die Agonie des Banderistenregimes mit Waffen und politischer Unterstützung.« Und weiter: »Nach der Verwirrung, die der unerwartete Beginn der Militäroperation ausgelöst hat, wird sich die Welt mehr und mehr des Kerns des Geschehens bewusst: Es handelt sich nicht um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Dies ist ein multidimensionaler Krieg des globalen Kapitals gegen Russland. Und die Tatsache, dass der kollektive Westen beschlossen hat, dies zu tun, bedeutet eine extreme Gefahr für die ganze Welt. Die USA und ihre Satelliten haben ihre eigene Logik. Ihr Ziel ist es, die rasante Entwicklung Chinas zu stoppen, Russland zu zerstören und das koloniale Weltsystem wiederherzustellen, indem sie sich dessen Ressourcen aneignen.«
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Schwaches Kettenglied?
Projanski betont die Besonderheit des »russischen Imperiums«: die Restauration des Kapitalismus ohne Existenz einer Bourgeoisie und ohne Kapitalisten. Rohstoffsektor, Banken und Medien wurden von zumeist jungen Sowjetkadern inklusive Gangstern aus der mittleren sowjetischen Führungsschicht angeeignet. Der Staat spielt ihnen gegenüber eine völlig andere, nämlich bestimmende Rolle als in »gewachsenen« Imperialismen des Westens.
Projanski folgt damit, soweit ich sehe, Auffassungen, die auch in der KPRF vertreten werden. So verwendet deren Präsidiumsmitglied Sergej Obuchow den Begriff »junger Imperialismus« für die Verhältnisse in Russland. Die KPRF sieht darin offenbar eine Parallele zum noch jungen Imperialismus im zaristischen Russland bis 1917.
2019 hielt ein Plenum des Zentralkomitees der Partei jedenfalls fest, die akuten gesellschaftlichen Widersprüche Russlands seien »durchaus vergleichbar mit den Hauptwidersprüchen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution gelöst wurden«. Von daher leitet sie ihre Strategie zur Wiedererrichtung des Sozialismus ab: »Der Hauptwiderspruch ist, wie vor 100 Jahren, der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Die Frage der Arbeitskräfte wurde zu einer akuten Frage. Niedrige Löhne, hohe Arbeitslosigkeit und lange Arbeitszeiten gehörten zu den Gründen. Auch die Bauernfrage wurde akut: Proletarisierung des ländlichen Raums, Landlosigkeit, Bildung großer Latifundien und extrem niedrige Löhne auf dem Lande. Interethnische und interregionale Widersprüche wurden wieder relevant. Die Summe all dieser Widersprüche bringt Russland in die Position eines schwachen Glieds in der Kette des Kapitalismus.« Das entspricht auch der Charakteristik des Kapitalismus in Russland im Programm der KPRF. Sie hebt die »systemische Krise« hervor, in der sich das Land seit dem Ende der Sowjetunion befinde. Heute unterstützt die Partei die Verteidigung des Donbass, die sie seit 2014 konsequent mit zivilen Gütern versorgt hat. Die Dumafraktion der KPRF hat am 15. Februar – am Tag des Besuchs von Scholz in Moskau – den Vorschlag gemacht, die beiden »Volksrepubliken« diplomatisch anzuerkennen – im vollen Bewusstsein der Konsequenzen. Ist sie deswegen sozialimperialistisch? Sie unterstützt insbesondere die Befreiung des Donbass, wendet sich aber gegen die antikommunistischen und chauvinistischen Bemerkungen Putins, mit denen er den Einmarsch begründete. Die KPRF sucht in dieser Lage einen Ausweg aus der drohenden Katastrophe, den sie im Sozialismus sieht. Putin zieht bekanntlich Vergleiche zu Peter I. und dessen »Zurückholen« von Gebieten, die er zum russischen Reich seit dem Mittelalter zählt.
Am 30. Juni fand eine Tagung des Zentralkomitees der KPRF statt, auf der der Vorsitzende Gennadi Sjuganow aus einem Dokument der Partei vom April vergangenen Jahres zitierte, um die dramatische Lage zu charakterisieren: »Das Gefährlichste für unser Land und die gesamte Menschheit ist das Virus des Kapitalismus. In den letzten dreißig Jahren hat Russland vier ausgewachsene Wirtschaftskrisen erlebt. Zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts waren von einer katastrophalen Stagnation geprägt. Die Wirtschaft und die Finanzen des Landes sind noch immer unter der Kontrolle liberaler Fundamentalisten. Das pandemische Coronavirus hat mit besonderer Kraft und Klarheit die Bösartigkeit und die Gefahren des kapitalistischen Systems offenbart. (…) Die Beendigung der Bacchanalien des Kapitalismus ist die einzige Voraussetzung für die Souveränität Russlands und sein Überleben. Die einzige Alternative zur drohenden Katastrophe ist eine sozialistische Wiederbelebung. Nur die Kommunisten und unsere Verbündeten können ein Rezept zur Überwindung der Krise und der Degradierung, zum Wiederaufbau der Gesellschaft und zur Rettung der Nation vor dem Aussterben anbieten. Um unsere Ansätze in die Praxis umzusetzen, muss ein schöpfungsorientierter Staat aufgebaut werden. Nur der Staat des Sozialismus kann ein solcher Staat sein.«
Sjuganow sagte zum Krieg: »Jetzt führt der Imperialismus einen neuen Krieg. Viele Jahre lang wurde die Ukraine in den Sumpf der Russophobie gestoßen, jetzt in einen schrecklichen Bruderkrieg. Zum x-ten Male in ihrer Geschichte kämpfen die USA mit den Händen anderer Menschen. Bidens Team verlängert die Agonie des Banderistenregimes mit Waffen und politischer Unterstützung.« Und weiter: »Nach der Verwirrung, die der unerwartete Beginn der Militäroperation ausgelöst hat, wird sich die Welt mehr und mehr des Kerns des Geschehens bewusst: Es handelt sich nicht um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Dies ist ein multidimensionaler Krieg des globalen Kapitals gegen Russland. Und die Tatsache, dass der kollektive Westen beschlossen hat, dies zu tun, bedeutet eine extreme Gefahr für die ganze Welt. Die USA und ihre Satelliten haben ihre eigene Logik. Ihr Ziel ist es, die rasante Entwicklung Chinas zu stoppen, Russland zu zerstören und das koloniale Weltsystem wiederherzustellen, indem sie sich dessen Ressourcen aneignen.«
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•NEUER BEITRAG06.07.2022, 12:27 Uhr
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Abhängigkeit und Kahlschlag
Er ging dann auf die innere gesellschaftliche Situation ein und erklärte unter Berufung auf eine Studie der Russischen Akademie der Wissenschaften: »Sie unterstreicht: Das größte Sanktionspaket hat das frühere Format der Interaktion Russlands mit der Außenwelt zerstört. In einer solchen Situation wird uns das Flicken der Löcher nicht retten. Eine Änderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist erforderlich. Der Übergang zu den Wegen der neuen Industrialisierung ist der Garant für unsere Souveränität.« Ein Hauptproblem des Landes sei »die Abhängigkeit von der Versorgung mit hochentwickelten Geräten«, d. h. fortgeschrittener Technik. Das BIP werde in diesem Jahr um sieben Prozent sinken, hinzu komme der Rückgang der Bevölkerung und der Arbeitskräfte. Russland hat demnach in den letzten drei Jahren zwei Millionen Menschen verloren, die Erwerbsbevölkerung altere und schrumpfe.
Sjuganow führt das auf »die zweite Phase des Verkaufs von Russland« im vergangenen Jahrzehnt zurück. Strategische Industrien seien an Ausländer verkauft, die Industrie durch sogenannte Investoren aus dem Ausland faktisch liquidiert worden. Im Zeitraum 2016 bis 2021 wurden demnach in Russland 1,8 Millionen Unternehmen, darunter auch Großunternehmen, vernichtet. Das Land, so Sjuganow, sei aus der Krise »direkt in eine Sackgasse« geraten. Ab 2014 sei das verfügbare Einkommen der Russen gesunken, bei Schulen und Krankenhäusern sei gekürzt und das Personal reduziert worden. Alle sozialen Versprechen seien schließlich im Mai 2018 durch die Anhebung des Renteneintrittsalters zunichte gemacht worden. Es akkumulieren sich demnach demographische Verluste, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Kosten und Rohstoffabhängigkeit.
Für die Frage nach dem Imperialismus Russlands ist nicht unwichtig, was Sjuganow zu den Eigentumsverhältnissen ausführte: »Das Jahr 2020 begann mit dem Verfall der Ölpreise und mit Quarantänemaßnahmen gegen das Coronavirus. Bei der Ausarbeitung von Maßnahmen zur Unterstützung der Unternehmen stellte sich heraus, dass sich 65 Prozent der russischen Industrie im Besitz von ausländischem Kapital und 90 Prozent des Handels in den Händen ausländischer Netzwerke befinden. 76 Prozent der Eisenbahntechnik und 77 Prozent der Nichteisenmetallurgie gehören Ausländern. In den übrigen Branchen liegt der Anteil ausländischen Kapitals bei 45 bis 60 Prozent. Die Vorstände der wichtigsten Banken und der Ölindustrie sind größtenteils Ausländer. Das Rusal-Imperium von Oleg Deripaska mit seinen Wasserkraftwerken und Aluminiumhütten ist im Besitz von US-Unternehmen.« Es geht hier immerhin um den zweitgrößten Aluminiumhersteller der Welt.
Sjuganow kam dann zur Gegenwart und erklärte, Russland sei »mit einer hohen Sterblichkeitsrate und einer hohen Inflation in das Jahr 2022« gegangen. Die Verschuldung der Bürger bei Banken sei kolossal, der Kapitalabfluss habe 72 Milliarden US-Dollar erreicht, die Gold- und Devisenreserven wurden ins Ausland verlegt, wo der Westen sie zur Hälfte einfror. Auch das Vermögen des Nationalen Wohlfahrtsfonds sei ins Ausland verlagert worden, per Gesetz dürfen Gold, Getreide und Metalle exportiert werden und die Erlöse im Ausland bleiben. Als der Westen zu den Sanktionen griff, habe die Regierungspartei »Einiges Russland« »weiterhin kompradoristische Entscheidungen« getroffen, d. h. sie fungierte als Oberhaupt der einheimischen Arbeitskräfte ausländischer Unternehmen. Sjuganow legte ein Programm der KPRF vor, um die »zweite Industrialisierung« Russlands zu bewerkstelligen: Im Zentrum stehen dabei Bildung, Forschung und Entwicklung, Verstaatlichung der Banken, ein neues Steuersystem, fortschrittliche Landwirtschaft nach dem Vorbild von Belarus, das den ländlichen Raum wiederbelebt habe, strategische Planung, staatliches Gesundheitswesen.
Entschieden wandte sich der KPRF-Vorsitzende gegen den von Putin und der Regierungspartei vertretenen »Patriotismus der Weißen Garde«. So habe der heute gepriesen Philosoph Iwan Iljin, der 1956 in der Schweiz starb und dessen Bücher Putin an Untergebene verteilt, Oden zum Ruhm des deutschen Faschismus gedichtet. Noch 1948 habe er in der Schweiz geschrieben: »Der Faschismus war richtig, denn er entsprang einem gesunden national-patriotischen Gefühl.« Sjuganow zog zugleich eine Parallele zwischen den Bemühungen imperialistischer Kolonisatoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts, große Länder wie China und nach der Oktoberrevolution Sowjetrussland in Mandatsgebiete aufzuteilen, und heute.
Ist diese Analyse Sjuganows zutreffend? Schildert sie die Gegebenheiten des heutigen Russlands konkret genug? Mir scheint das der Fall zu sein. Von einem Imperialismus zu reden, der mit dem der USA oder der EU auch nur annähernd gleichzusetzen wäre, verbietet sich aus meiner Sicht. Das ändert nichts an der Charakteristik: Russland ist wirtschaftlich in der Hand des Auslandskapitals, die regierende Kompradorenbourgeoisie vertritt eine extrem reaktionäre und antikommunistische Ideologie, Putin eingeschlossen. Trifft die Schilderung zu, steht das Land vor einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe, deren Folgen unabsehbar sind. Russland ist eine der beiden großen Atommächte. Das alte Verdikt des einstigen US-Putschbeauftragten und DDR-Grabhelfers Vernon Walters, die Sowjetunion sei »Obervolta mit Atombomben«, war dieser Tage in einer großen deutschen Zeitung wieder zu lesen. Der chauvinistische Größenwahn, der mit zum 1. August 1914 und zum 22. Juni 1941 führte, ist wieder salonfähig, genauer: ist erste deutsche Bürgerpflicht.
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Abhängigkeit und Kahlschlag
Er ging dann auf die innere gesellschaftliche Situation ein und erklärte unter Berufung auf eine Studie der Russischen Akademie der Wissenschaften: »Sie unterstreicht: Das größte Sanktionspaket hat das frühere Format der Interaktion Russlands mit der Außenwelt zerstört. In einer solchen Situation wird uns das Flicken der Löcher nicht retten. Eine Änderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist erforderlich. Der Übergang zu den Wegen der neuen Industrialisierung ist der Garant für unsere Souveränität.« Ein Hauptproblem des Landes sei »die Abhängigkeit von der Versorgung mit hochentwickelten Geräten«, d. h. fortgeschrittener Technik. Das BIP werde in diesem Jahr um sieben Prozent sinken, hinzu komme der Rückgang der Bevölkerung und der Arbeitskräfte. Russland hat demnach in den letzten drei Jahren zwei Millionen Menschen verloren, die Erwerbsbevölkerung altere und schrumpfe.
Sjuganow führt das auf »die zweite Phase des Verkaufs von Russland« im vergangenen Jahrzehnt zurück. Strategische Industrien seien an Ausländer verkauft, die Industrie durch sogenannte Investoren aus dem Ausland faktisch liquidiert worden. Im Zeitraum 2016 bis 2021 wurden demnach in Russland 1,8 Millionen Unternehmen, darunter auch Großunternehmen, vernichtet. Das Land, so Sjuganow, sei aus der Krise »direkt in eine Sackgasse« geraten. Ab 2014 sei das verfügbare Einkommen der Russen gesunken, bei Schulen und Krankenhäusern sei gekürzt und das Personal reduziert worden. Alle sozialen Versprechen seien schließlich im Mai 2018 durch die Anhebung des Renteneintrittsalters zunichte gemacht worden. Es akkumulieren sich demnach demographische Verluste, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Kosten und Rohstoffabhängigkeit.
Für die Frage nach dem Imperialismus Russlands ist nicht unwichtig, was Sjuganow zu den Eigentumsverhältnissen ausführte: »Das Jahr 2020 begann mit dem Verfall der Ölpreise und mit Quarantänemaßnahmen gegen das Coronavirus. Bei der Ausarbeitung von Maßnahmen zur Unterstützung der Unternehmen stellte sich heraus, dass sich 65 Prozent der russischen Industrie im Besitz von ausländischem Kapital und 90 Prozent des Handels in den Händen ausländischer Netzwerke befinden. 76 Prozent der Eisenbahntechnik und 77 Prozent der Nichteisenmetallurgie gehören Ausländern. In den übrigen Branchen liegt der Anteil ausländischen Kapitals bei 45 bis 60 Prozent. Die Vorstände der wichtigsten Banken und der Ölindustrie sind größtenteils Ausländer. Das Rusal-Imperium von Oleg Deripaska mit seinen Wasserkraftwerken und Aluminiumhütten ist im Besitz von US-Unternehmen.« Es geht hier immerhin um den zweitgrößten Aluminiumhersteller der Welt.
Sjuganow kam dann zur Gegenwart und erklärte, Russland sei »mit einer hohen Sterblichkeitsrate und einer hohen Inflation in das Jahr 2022« gegangen. Die Verschuldung der Bürger bei Banken sei kolossal, der Kapitalabfluss habe 72 Milliarden US-Dollar erreicht, die Gold- und Devisenreserven wurden ins Ausland verlegt, wo der Westen sie zur Hälfte einfror. Auch das Vermögen des Nationalen Wohlfahrtsfonds sei ins Ausland verlagert worden, per Gesetz dürfen Gold, Getreide und Metalle exportiert werden und die Erlöse im Ausland bleiben. Als der Westen zu den Sanktionen griff, habe die Regierungspartei »Einiges Russland« »weiterhin kompradoristische Entscheidungen« getroffen, d. h. sie fungierte als Oberhaupt der einheimischen Arbeitskräfte ausländischer Unternehmen. Sjuganow legte ein Programm der KPRF vor, um die »zweite Industrialisierung« Russlands zu bewerkstelligen: Im Zentrum stehen dabei Bildung, Forschung und Entwicklung, Verstaatlichung der Banken, ein neues Steuersystem, fortschrittliche Landwirtschaft nach dem Vorbild von Belarus, das den ländlichen Raum wiederbelebt habe, strategische Planung, staatliches Gesundheitswesen.
Entschieden wandte sich der KPRF-Vorsitzende gegen den von Putin und der Regierungspartei vertretenen »Patriotismus der Weißen Garde«. So habe der heute gepriesen Philosoph Iwan Iljin, der 1956 in der Schweiz starb und dessen Bücher Putin an Untergebene verteilt, Oden zum Ruhm des deutschen Faschismus gedichtet. Noch 1948 habe er in der Schweiz geschrieben: »Der Faschismus war richtig, denn er entsprang einem gesunden national-patriotischen Gefühl.« Sjuganow zog zugleich eine Parallele zwischen den Bemühungen imperialistischer Kolonisatoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts, große Länder wie China und nach der Oktoberrevolution Sowjetrussland in Mandatsgebiete aufzuteilen, und heute.
Ist diese Analyse Sjuganows zutreffend? Schildert sie die Gegebenheiten des heutigen Russlands konkret genug? Mir scheint das der Fall zu sein. Von einem Imperialismus zu reden, der mit dem der USA oder der EU auch nur annähernd gleichzusetzen wäre, verbietet sich aus meiner Sicht. Das ändert nichts an der Charakteristik: Russland ist wirtschaftlich in der Hand des Auslandskapitals, die regierende Kompradorenbourgeoisie vertritt eine extrem reaktionäre und antikommunistische Ideologie, Putin eingeschlossen. Trifft die Schilderung zu, steht das Land vor einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe, deren Folgen unabsehbar sind. Russland ist eine der beiden großen Atommächte. Das alte Verdikt des einstigen US-Putschbeauftragten und DDR-Grabhelfers Vernon Walters, die Sowjetunion sei »Obervolta mit Atombomben«, war dieser Tage in einer großen deutschen Zeitung wieder zu lesen. Der chauvinistische Größenwahn, der mit zum 1. August 1914 und zum 22. Juni 1941 führte, ist wieder salonfähig, genauer: ist erste deutsche Bürgerpflicht.
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•NEUER BEITRAG06.07.2022, 12:30 Uhr
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Zurück zum Begriff
Der Niedergang einer Gesellschaft ist zu messen an ihrer Fähigkeit, mit Begriffen umzugehen, d. h. die Welt vernünftig anzuschauen. Nach Hegel eine Voraussetzung, um Vernunft zu entdecken. Selbstverständlich haben es Begriffe und erst recht die der Dialektik heute schwer, wo Moral für Wahrheit gehalten wird und der »Brei des Herzens, der Freundschaft und der Begeisterung« dominiert, den Hegel seinerzeit den famosen gegenrevolutionären, romantisch gestimmten Demokraten seiner Zeit bescheinigte.
Die Frage zum Imperialismusbegriff lautet in diesem Zusammenhang: Wieso gelang es Lenin als einzigem der Theoretiker, die sich ab 1900 mit diesem Gegenstand beschäftigten, »das Wesen des neuen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus« (Fritz Kumpf) zu erfassen? Mit der Folge, dass dieser Leninsche Imperialismusbegriff bis heute aktuell geblieben ist. Selbstverständlich kann auch dieser abstrakt, sophistisch, einseitig, nicht als Instrument zur konkreten Analyse der konkreten Situation genutzt werden. Die zahlreichen Behauptungen über den Imperialismus Russlands scheinen mir Beleg genug: Mit einer Analyse der »Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt«, wie sie Lenin zur Bestimmung des Klassencharakters eines Krieges forderte, sind sie jedenfalls nicht verbunden. Ich erhebe nicht den Anspruch, das hier geleistet zu haben, das war nicht möglich. Hinzu kommt: In Russland ist vieles zu sehr im Fluss, um es eindeutig bestimmen zu können.
Lenin ist die Begriffsbestimmung in klassischer Weise gelungen. Den meisten anderen Theoretikern von Hobson bis Kautsky war schon die Fragestellung fremd. Sie definierten am Imperialismus als einer bestimmten Politik vor allem in Kolonien herum – von Cecil Rhodes, dem vermutlichen Schöpfer des Wortes, bis zu Olaf Scholz und anderen.
Begriffsbildung vollzieht sich nach Hegel, Marx und Lenin als ein Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, nicht umgekehrt. Beginnend mit einer »chaotischen Vorstellung des Ganzen« (Marx) und in der Reproduktion der Realität als einer »Reihe von Abstraktionen«. Oder um Lenin aus seinen Notizen zur »Lehre vom Begriff« in Hegels »Wissenschaft der Logik« zu zitieren: »Der Mensch kann die Natur nicht als ganze, nicht vollständig, kann nicht ihre ›unmittelbare Totalität‹ erfassen = widerspiegeln = abbilden, er kann dem nur ewig näherkommen, indem er Abstraktionen, Begriffe, Gesetze, ein wissenschaftliches Weltbild usw. schafft.«⁵
Zur Reihe dieser Abstraktionen, in denen ein Begriff gebildet wird, gehören Definitionen. Hobson definierte z. B. 1902, »dass der Imperialismus das Bestreben der Machthaber der Industrie ist, den Kanal, durch den ihr überschüssiger Reichtum abfließt, dadurch zu verbreitern«. Karl Kautsky 1915: »Der Imperialismus ist ein Produkt des hochentwickelten industriellen Kapitalismus. Er besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer größeres agrarisches Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird.« Rosa Luxemburg 1913: »Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus.« Lenin 1916: »1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus (Rückflüsse aus Kapitalexport, A. S.); 3. sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus.«⁶
Der Begriff ist nicht wie eine Definition eine Verallgemeinerung, d. h. ein Verfahren, mit dem wir Gegenstände auf Grund gemeinsamer Eigenschaften zu Klassen von Gegenständen zusammenfassen, sondern vermittelt die wesentlichen Bestimmungen, ohne die der Begriff nicht sinnvoll oder wissenschaftlich verwendet werden kann. Für den Imperialismus ist dies das Monopol, die Verschmelzung von Industrie- und Finanzkapital. Ein »Baum« ist so wenig begriffen wie »Imperialismus«, solange nicht seine innere Struktur, Gesetzmäßigkeiten, die diese Struktur bestimmen, sowie die Beziehungen, in denen sie notwendig steht, erfasst sind. Das Verallgemeinerte wie in den zitierten Definitionen ist nur ein Moment des Wesens, das Lenin ökonomisch bestimmt: das Monopol als Ausgangs- und Eckpunkt der Imperialismusanalyse, als sein Spezifikum und als Kategorie, die den Übergang zu anderen Bestimmungen einschließt. Kapitalexport gibt es auch ohne Monopol, aber keine Monopole ohne Kapitalexport. Das Monopol ist das ökonomische Wesen des Imperialismus und zugleich sein historischer Ausgangspunkt.
Vernachlässigte Perspektive
Ob bei dieser Herangehensweise das heutige Russland als imperialistisch einzustufen ist, bleibt sehr fraglich. Dabei geht es um praktisch-politische Fragen wie bei Lenin: die Charakteristik des Krieges, die Ursachen des Zusammenbruchs der Sozialistischen Internationale und der Spaltung der Arbeiterbewegung, die Rolle des Opportunismus und anderes. Nur durch die Untersuchung der einzelnen Momente dieser einzelnen Erscheinungen und zugleich durch das Erfassen der inneren Struktur der Gesamterscheinung gelingt es Lenin, die Trennung von Ökonomie und Politik, die bei den anderen Autoren vorherrscht, zu überwinden. Kolonialpolitik kommt bei ihm erst nach der Analyse des Kapitalexports, obwohl er – wie Domenico Losurdo gezeigt hat – mit seinem »östlichen Blick auf den Marxismus«, d. h. der Perspektive der kolonial unterdrückten Völker auf die imperialistischen Länder, ziemlich allein stand. Die Vernachlässigung dieser Perspektive auf Russland, d. h. das seit mehr als 100 Jahren vorherrschende Bestreben, dieses Land zu kolonialisieren, zu ignorieren, scheint mir ein Hauptgrund für heutige unterschiedliche Beurteilungen des Ukraine-Kriegs zu sein.
Anmerkungen:
1 Lenin: Werke, Bd. 22, S. 314 (im folgenden LW)
2 Ebd.
3 Unsere Zeit, 6.10.2017
4 Link ...jetzt anmelden! u. junge Welt, 18.6.2022 und 20.6.2022
5 LW 38, 172
6 John A. Hobson: Imperialism, A Study, London 1902, zit. n. LW 39, 417; Karl Kautsky: Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund, Nürnberg 1915, S. 15; Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. In: Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin 1975, S. 391 u. LW 23, 102
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Zurück zum Begriff
Der Niedergang einer Gesellschaft ist zu messen an ihrer Fähigkeit, mit Begriffen umzugehen, d. h. die Welt vernünftig anzuschauen. Nach Hegel eine Voraussetzung, um Vernunft zu entdecken. Selbstverständlich haben es Begriffe und erst recht die der Dialektik heute schwer, wo Moral für Wahrheit gehalten wird und der »Brei des Herzens, der Freundschaft und der Begeisterung« dominiert, den Hegel seinerzeit den famosen gegenrevolutionären, romantisch gestimmten Demokraten seiner Zeit bescheinigte.
Die Frage zum Imperialismusbegriff lautet in diesem Zusammenhang: Wieso gelang es Lenin als einzigem der Theoretiker, die sich ab 1900 mit diesem Gegenstand beschäftigten, »das Wesen des neuen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus« (Fritz Kumpf) zu erfassen? Mit der Folge, dass dieser Leninsche Imperialismusbegriff bis heute aktuell geblieben ist. Selbstverständlich kann auch dieser abstrakt, sophistisch, einseitig, nicht als Instrument zur konkreten Analyse der konkreten Situation genutzt werden. Die zahlreichen Behauptungen über den Imperialismus Russlands scheinen mir Beleg genug: Mit einer Analyse der »Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt«, wie sie Lenin zur Bestimmung des Klassencharakters eines Krieges forderte, sind sie jedenfalls nicht verbunden. Ich erhebe nicht den Anspruch, das hier geleistet zu haben, das war nicht möglich. Hinzu kommt: In Russland ist vieles zu sehr im Fluss, um es eindeutig bestimmen zu können.
Lenin ist die Begriffsbestimmung in klassischer Weise gelungen. Den meisten anderen Theoretikern von Hobson bis Kautsky war schon die Fragestellung fremd. Sie definierten am Imperialismus als einer bestimmten Politik vor allem in Kolonien herum – von Cecil Rhodes, dem vermutlichen Schöpfer des Wortes, bis zu Olaf Scholz und anderen.
Begriffsbildung vollzieht sich nach Hegel, Marx und Lenin als ein Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, nicht umgekehrt. Beginnend mit einer »chaotischen Vorstellung des Ganzen« (Marx) und in der Reproduktion der Realität als einer »Reihe von Abstraktionen«. Oder um Lenin aus seinen Notizen zur »Lehre vom Begriff« in Hegels »Wissenschaft der Logik« zu zitieren: »Der Mensch kann die Natur nicht als ganze, nicht vollständig, kann nicht ihre ›unmittelbare Totalität‹ erfassen = widerspiegeln = abbilden, er kann dem nur ewig näherkommen, indem er Abstraktionen, Begriffe, Gesetze, ein wissenschaftliches Weltbild usw. schafft.«⁵
Zur Reihe dieser Abstraktionen, in denen ein Begriff gebildet wird, gehören Definitionen. Hobson definierte z. B. 1902, »dass der Imperialismus das Bestreben der Machthaber der Industrie ist, den Kanal, durch den ihr überschüssiger Reichtum abfließt, dadurch zu verbreitern«. Karl Kautsky 1915: »Der Imperialismus ist ein Produkt des hochentwickelten industriellen Kapitalismus. Er besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer größeres agrarisches Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird.« Rosa Luxemburg 1913: »Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus.« Lenin 1916: »1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus (Rückflüsse aus Kapitalexport, A. S.); 3. sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus.«⁶
Der Begriff ist nicht wie eine Definition eine Verallgemeinerung, d. h. ein Verfahren, mit dem wir Gegenstände auf Grund gemeinsamer Eigenschaften zu Klassen von Gegenständen zusammenfassen, sondern vermittelt die wesentlichen Bestimmungen, ohne die der Begriff nicht sinnvoll oder wissenschaftlich verwendet werden kann. Für den Imperialismus ist dies das Monopol, die Verschmelzung von Industrie- und Finanzkapital. Ein »Baum« ist so wenig begriffen wie »Imperialismus«, solange nicht seine innere Struktur, Gesetzmäßigkeiten, die diese Struktur bestimmen, sowie die Beziehungen, in denen sie notwendig steht, erfasst sind. Das Verallgemeinerte wie in den zitierten Definitionen ist nur ein Moment des Wesens, das Lenin ökonomisch bestimmt: das Monopol als Ausgangs- und Eckpunkt der Imperialismusanalyse, als sein Spezifikum und als Kategorie, die den Übergang zu anderen Bestimmungen einschließt. Kapitalexport gibt es auch ohne Monopol, aber keine Monopole ohne Kapitalexport. Das Monopol ist das ökonomische Wesen des Imperialismus und zugleich sein historischer Ausgangspunkt.
Vernachlässigte Perspektive
Ob bei dieser Herangehensweise das heutige Russland als imperialistisch einzustufen ist, bleibt sehr fraglich. Dabei geht es um praktisch-politische Fragen wie bei Lenin: die Charakteristik des Krieges, die Ursachen des Zusammenbruchs der Sozialistischen Internationale und der Spaltung der Arbeiterbewegung, die Rolle des Opportunismus und anderes. Nur durch die Untersuchung der einzelnen Momente dieser einzelnen Erscheinungen und zugleich durch das Erfassen der inneren Struktur der Gesamterscheinung gelingt es Lenin, die Trennung von Ökonomie und Politik, die bei den anderen Autoren vorherrscht, zu überwinden. Kolonialpolitik kommt bei ihm erst nach der Analyse des Kapitalexports, obwohl er – wie Domenico Losurdo gezeigt hat – mit seinem »östlichen Blick auf den Marxismus«, d. h. der Perspektive der kolonial unterdrückten Völker auf die imperialistischen Länder, ziemlich allein stand. Die Vernachlässigung dieser Perspektive auf Russland, d. h. das seit mehr als 100 Jahren vorherrschende Bestreben, dieses Land zu kolonialisieren, zu ignorieren, scheint mir ein Hauptgrund für heutige unterschiedliche Beurteilungen des Ukraine-Kriegs zu sein.
Anmerkungen:
1 Lenin: Werke, Bd. 22, S. 314 (im folgenden LW)
2 Ebd.
3 Unsere Zeit, 6.10.2017
4 Link ...jetzt anmelden! u. junge Welt, 18.6.2022 und 20.6.2022
5 LW 38, 172
6 John A. Hobson: Imperialism, A Study, London 1902, zit. n. LW 39, 417; Karl Kautsky: Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund, Nürnberg 1915, S. 15; Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. In: Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin 1975, S. 391 u. LW 23, 102
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