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NEUES THEMA03.06.2024, 00:48 Uhr
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• Ãœber 'Ãœberausbeutung' jW am 31. Mai:

Unter Wert verkauft

Vorabdruck. Zum Begriff der Überausbeutung in neueren Ansätzen der Dependenztheorie

Von Janina Puder, Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo

In diesen Tagen erscheint Heft 138 der Zeitschrift Z. Marxistische Erneuerung mit dem Schwerpunkt »Überausbeutung und globalisierter Kapitalismus«. Wir veröffentlichen daraus redaktionell gekürzt und mit freundlicher Genehmigung von Herausgebern und Autorinnen den Beitrag von Janina Puder, Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo. Das neue Heft von Z kann bestellt werden unter:zeitschrift-marxistische-erneuerung.de (jW)

Der Begriff der Überausbeutung taucht zwar bereits in den 1940ern in den USA auf, in bezug auf die globale Arbeitsteilung wurde er jedoch vor allem in den 1970ern in der Dependenztheorie konzeptionell ausgearbeitet. Dependenztheorie bezeichnet einen Ansatz, der in Diskussionen um die kapitalistische (Unter-) Entwicklung ehemals kolonisierter Länder in Lateinamerika entstand und sich bald insgesamt mit globalen Nord-Süd- bzw. Zentrum-Peripherie-Verhältnissen beschäftigte. Die Unterentwicklung und die Exportorientierung der ehemaligen Kolonien auch nach Ende der europäischen Vorherrschaft auf dem Kontinent entfachten Diskussionen darum, ob diese Abweichungen von einem idealen Kapitalismus ein Überbleibsel feudaler Klassenverhältnisse sind oder ob es sich hierbei um einen strukturellen Aspekt asymmetrischer Integration in den Weltmarkt handelt. Die Unterentwicklung der Länder des globalen Südens gilt dabei nicht als eine zufällige Begleiterscheinung, sondern wird als ein Merkmal des kapitalistischen Weltmarktes angesehen, das Entwicklung und Unterentwicklung dialektisch reproduziert.

In der Dependenztheorie gibt es einen marxistischen und einen nichtmarxistischen bzw. bürgerlichen Flügel. Zu letzterem zählen beispielsweise Johann Galtung mit seiner Theorie des Imperialismus, der spätere brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso sowie Raúl Prebisch und Hans Wolfgang Singer, die die Prebisch-Singer-Hypothese formulierten, wonach unterentwickelte Länder aufgrund sinkender Rohstoffpreise bei ihrer Integration in den Weltmarkt schlechtere Voraussetzungen hätten. Während der Fokus der bürgerlichen Strömung auf ungleichen, abhängigen Handelsbeziehungen liegt, spielen interne Klassenbeziehungen in Ländern des Zentrums und der Peripherie hier kaum eine Rolle. Als Versuch der Erweiterung des marxschen Ausbeutungsbegriffs muss der Überausbeutungsbegriff daher im marxistischen Flügel der Dependenztheorie verortet werden.

In der marxistischen Dependenzdebatte besteht Uneinigkeit darüber, wie der Begriff der Überausbeutung zu erfassen ist. Der brasilianische Soziologe und Dependenztheoretiker Ruy Mauro Marini gilt mit seinem Aufsatz »The Dialectics of Dependency« als Begründer eines marxistischen Konzepts von Überausbeutung. Sie ist für Marini keine zufällige Begleiterscheinung des Imperialismus, sondern Voraussetzung für Abhängigkeit und damit für ungleichen Tausch. Er hält fest: Die »durch die Überausbeutung der Arbeit in der abhängigen kapitalistischen Wirtschaft geschaffenen Bedingungen« neigen dazu, »den Übergang von der Produktion des absoluten Mehrwerts zur Produktion des relativen Mehrwerts als vorherrschende Form der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zu behindern«. Diese Art der Abhängigkeit zwischen Zentren und Peripherien setzt Marini zufolge erst im Zuge der Dekolonisierung in Lateinamerika Anfang bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Abhängigkeit beschreibt demnach einen Zustand, der sich ohne direkte politische Herrschaft der kapitalistischen Zentren reproduziert.

Der ebenfalls brasilianische Dependenztheoretiker Theotônio dos Santos sieht Überausbeutung ebenso wie Marini als Voraussetzung für Abhängigkeit. Abhängige Gesellschaften sind dos Santos zufolge gekennzeichnet durch »aufgezwungene Beziehungen der ›Überausbeutung‹ der einheimischen Arbeitskraft mit dem Ziel, den so gewonnen wirtschaftlichen Surplus unter die im In- und Ausland herrschenden Kräfte aufzuteilen«. Im Gegensatz zu Marini versteht dos Santos Abhängigkeit allerdings nicht als ein postkoloniales Verhältnis, sondern für ihn gibt es drei Epochen der Abhängigkeit: Die koloniale, die indus­triell-finanzielle und die neue technologisch-industrielle Abhängigkeit der Nachkriegszeit. Folglich existiert Überausbeutung für ihn sowohl in der kolonialen als auch in der nachkolonialen Phase.

Nach Marini werden Arbeiter in der Peripherie im Vergleich zu jenen in den kapitalistischen Zentren unter dem Wert ihrer Arbeitskraft entlohnt. Mit der Entwertung der Arbeitskraft ist auch eine geringere Kaufkraft verbunden: Waren, die in den abhängigen Ländern produziert werden, können dort nicht profitabel genug abgesetzt werden. Diese nichtrealisierten Profite werden in abhängigen Ländern kompensiert durch eine verschärfte Ausbeutung der Arbeit. Die verstärkte Ausbeutung wird nicht durch Produktivkraftentwicklung (relativer Mehrwert), sondern vor allem durch eine Verlängerung des Arbeitstages, also durch die Steigerung der absoluten Mehrwertproduktion und eine Intensivierung der Arbeit erreicht sowie durch die Herabsetzung der Reproduktionskosten unter das Existenzminimum. Die Herabsetzung der Reproduktionskosten ist bei Marini zudem ein Faktor, der die Abschaffung der Sklaverei begünstigte. Gegenüber der Sklavenarbeit ermöglichte Lohnarbeit Marini zufolge eine Herabsetzung der Reproduktionskosten der Arbeiter, weshalb gerade an exportorientierten Standorten die Sklaverei früher abgeschafft wurde.

Ungleicher Tausch und Überausbeutung sind für Marini nicht nur für das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie kennzeichnend, sondern auch für die sozialen Beziehungen innerhalb der abhängigen Länder. Überausbeutung ist dabei nicht, wie häufig angenommen, ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis zwischen nicht überausgebeuteten und überausgebeuteten Arbeitern, sondern statt dessen, wie Marini darlegt, zwischen Kapital und überausgebeuteter Arbeit: Arbeiter werden »zum Zwecke der kommerziellen oder wucherischen kapitalistischen Akkumulation in eine direkte Ausbeutung durch das Kapital verwickelt, die tendenziell den Charakter einer Überausbeutung annimmt«. Demnach entspringt Überausbeutung aus dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit und nicht der Konkurrenz zwischen »regulär« ausgebeuteten und überausgebeuteten Arbeitern.


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NEUER BEITRAG03.06.2024, 00:52 Uhr
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Ãœber 'Ãœberausbeutung' >>>

Erneuerung der Dependenztheorie

Kritiker der Dependenztheorie weisen darauf hin, dass der Begriff der Überausbeutung und das Konzept des ungleichen Tausches von einem global einheitlichen Wert der Arbeitskraft ausgehen, was im Gegensatz zur marxistischen Auffassung steht. Tatsächlich bemisst sich Überausbeutung nicht an einem global einheitlichen Wert der Arbeitskraft, sondern verweist auf globale, postkoloniale imperialistische Verhältnisse, in denen kapitalistisch unterentwickelte Regionen und ihre Arbeitskräfte in eine spezifische Beziehung zum internationalen Kapital gesetzt werden, die ihre Arbeitskraft tendenziell entwertet und einen ungleichen Tausch ermöglicht. Marx betrachtet den Wert der Arbeitskraft nicht nur anhand der rein physischen Reproduktionskosten, sondern betont auch ein historisch-moralisches Element, das eng mit dem Stand des gesellschaftlichen Klassenkampfes verbunden ist. Jedoch kann darauf erwidert werden, dass, auch wenn dieses Element bestimmt, wo das gesellschaftliche Existenzminimum anzusetzen ist, dennoch eine physische Reproduktionsuntergrenze existiert, die vom Kapital nicht unterschritten werden darf, wenn Arbeitskraft nicht frühzeitig abgenutzt werden soll. Dennoch geschieht dies in Überausbeutungsverhältnissen regelmäßig.

In den letzten Jahren erfuhren die Überausbeutungsthese und damit verbunden die Dependenztheorie nach Jahrzehnten der Marginalisierung eine zögerliche Erneuerung. Vor allem John Smith und Andy Higginbottom zählen hier zu den einflussreichsten Autoren. 2016 legte John Smith eine Studie über die zeitgenössische politische Ökonomie des Imperialismus mit dem Titel »Imperialism in the Twenty-First Century. Globalization, Super-Exploitation, and Capitalism‘s Final Crisis« vor. Aufbauend auf Marini betont er die Notwendigkeit zu verstehen, wie globale Wertschöpfungsketten und transnationale Phänomene wie Outsourcing die Art und Weise prägen, wie Überausbeutung heute betrieben wird. So argumentiert Smith, dass »die treibende Kraft des Wettlaufs nach unten und die damit verbundenen Übel – Hungerlöhne, baufällige Gebäude, grausame Lebensbedingungen – die Preistreiberei der führenden Unternehmen ist«. Die Globalisierung der Produktion sei dabei nichts Neues, denn bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begann in Europa eine Dynamik, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Nordamerika verstetigte: systematische Unternehmensumstrukturierungen, durch die »Arbeitsplätze von gewerkschaftlich organisierten zu nicht gewerkschaftlich organisierten Betrieben innerhalb des Landes sowie zu nicht gewerkschaftlich organisierten Betrieben in andere Länder verlagert werden«.

Da knapp ein halbes Jahrhundert lang die exportorientierte Industrialisierung die einzige kapitalistische Option für arme Länder ohne große natürliche Ressourcen war, kommt Smith zu dem Schluss, dass »während der neoliberalen Ära Outsourcing und Migration zu zwei Aspekten derselben durch das Lohngefälle angetriebenen Transformation der globalen Produktion geworden sind«. In der Tat sind »mit wenigen Ausnahmen jene armen Länder, die bei der Umgestaltung ihrer Volkswirtschaften (…) mit neoliberalen Rezepten Erfolg hatten«, in einen Wettlauf nach unten geraten. Smith betrachtet zwei grundlegende Formen der Produktionsauslagerung: Erstens ausländische Direktinvestitionen (FDI), bei denen der Produktionsprozess ins Ausland verlagert, aber inhouse gehalten wird, und zweitens Outsourcing, bei dem ein Unternehmen einen Teil oder den gesamten Produktionsprozess an einen unabhängigen Zulieferer auslagert, unabhängig in dem Sinne, dass das eigentliche Hauptunternehmen ihn nicht besitzt, auch wenn es seine Aktivitäten in vielerlei Hinsicht kontrollieren kann. Anlehnend an Marini zeigt Smith, wie in einer Vielzahl von Branchen Arbeiter des globalen Südens – und insbesondere junge Arbeiterinnen – unverhältnismäßig ausgebeutet werden.

Andy Higginbottom nähert sich dem Überausbeutungsbegriff unter anderem in seinem Text »Überausbeutung und der imperialistische Antrieb des Kapitalismus. Wie Marinis ›Dialektik der Abhängigkeit‹ über Marx’ ›Kapital‹ hinausgeht«. Darin stellt er Marinis Überausbeutungsbegriff als eine Konkretisierung und Weiterentwicklung der Marxschen Mehrwerttheorie dar. Eine Konkretisierung sei deshalb notwendig, weil die internationale Arbeitsteilung und die relativen Privilegien der Arbeiter im globalen Norden ein relevanter Faktor im Klassenkampf seien. Laut Higginbottom sieht Marini Überausbeutung als eine dritte Form der Mehrwertproduktion neben derjenigen des absoluten und des relativen Mehrwerts. Higginbottom schlägt deshalb den Begriff des relationalen Mehrwerts vor.

In der aktuellen Debatte konzentrieren sich Autoren wie Tony Burns oder Patrick Bond vor allem auf die durch Andy Higginbottom und John Smith geprägte Lesart. Burns und Bond lehnen den Begriff nach Marinis Definition nicht ab, sie beleuchten aber andere Aspekte von Marinis Theorie bzw. führen sie in ihrer logischen Konsequenz weiter. Nach Burns geht Marx zwar von einer erhöhten Mehrwert- und damit Ausbeutungsrate in den abhängigen Ländern aus; er meint jedoch, dass Marx keine systematische Theorie der Ausbeutung und somit auch keine der Überausbeutung präsentiert habe. Für Burns ist die Aufschlüsselung der verschiedenen Möglichkeiten und damit Formen der Überausbeutung wichtig: Verlängerte Arbeitsdauer, gesteigerte Produktivität (z. B. durch Erneuerung der Maschinen), effiziente Arbeits- und Ablauforganisation, erhöhte Arbeitsintensität und gesenkter Konsum von seiten der Arbeiter.

Nach Patrick Bond ist bei der aktuellen Theoretisierung von Überausbeutung eine Analyselücke entstanden, die Marini selber jedoch benannte: die des »Subimperialismus«. Nationale Bourgeoisien, vor allem in den BRICS-Staaten, und deren Rolle als subimperiale Kräfte, seien bei Smiths binärer Darstellung von unterdrückten und unterdrückenden Staaten unberücksichtigt geblieben. Der Prozess der subimperialen Akkumulation und Klassenkämpfe verkomme so zu einem Nebenschauplatz. Die Umschichtung von überakkumuliertem Kapital an stärker ausbeutende Standorte – einschließlich der Hinterländer der BRICS, beispielsweise in die mineralgewinnenden Industrien in Afrika – mache die Kategorie des Subimperialismus seit dem Aufschwung der BRICS noch bedeutender. Indem die BRICS als Verstärker des Imperialismus und nicht als alternativer Block verstanden werden, »wird eine Kritik des subimperialen Raumes den Weg für ein besseres Verständnis der antikapitalistischen Kräfte der Welt ebnen, so dass sich keine weitere Verwirrung über die Möglichkeiten eines Bündnisses mit den BRICS-Eliten« ausbreitet.

Analysekategorie für den Süden

Der Begriff der Überausbeutung kann das Nebeneinander verschiedener Arbeitsverhältnisse im globalen Kapitalismus erklären, die Teil der internationalen kapitalistischen Ausbeutungsbeziehungen sind. Dabei können unterschiedliche historische Stadien beobachten werden. Walter Rodney beschreibt in »Wie Europa Afrika unterentwickelte« die Differenz zwischen afrikanischen und europäischen bzw. nordamerikanischen Arbeitern während der Phase des Kolonialismus anhand der unterschiedlichen Bezahlung für die Be- und Entladung von Schiffen, die von Afrika nach Amerika fuhren. Er weist nach, »dass die Rate der Ausbeutung bei afrikanischen Arbeitern sehr viel höher war«, und führt dazu aus: »Afrikanische Arbeit war nach allen Maßstäben billig, und der Überschuss, der aus den afrikanischen Arbeitern herausgeholt wurde, war groß. Die Arbeitgeber bezahlten im Kolonialismus äußerst geringe Löhne – Löhne, die gewöhnlich nicht ausreichten, um die Arbeiter physisch am Leben zu erhalten – weswegen sie Nahrungsmittel anbauen mussten, um zu überleben.« Rodney verwendet den Begriff der Überausbeutung zwar nicht, spricht aber von erhöhten Ausbeutungsraten, die die afrikanischen Arbeiter in den Kolonien betreffen, und zeigt, inwieweit sie unterhalb des notwendigen Minimums zur Reproduktion lagen.

Nicht nur historisch lassen sich ungleiche Beziehungen in Nord-Süd-Verhältnissen beobachten. Gerade in Ländern der (Semi-)Peripherie beläuft sich der Anteil der Arbeit, die nicht vollständig abgesichert oder lohnförmig ist, auf 84–90 Prozent im Vergleich zu den industriellen Zentren, wo diese Quote bei 18 Prozent liegt. Dies wird unter anderem durch eine teilweise Aufrechterhaltung von Subsistenzökonomien (Gemüseanbau, kleine Viehzucht usw.) ermöglicht. In der Warenkettenforschung ist deshalb mittlerweile anerkannt, dass ungleiche, teilweise informelle Arbeitsverhältnisse profitabel mit formalen kombiniert werden können.

Für ein umfassendes marxistisches Verständnis von Überausbeutung stellt sich die Frage, ob Überausbeutungsverhältnisse prinzipiell auf den globalen Süden beschränkt sind oder ob sich überausbeuterische Arbeitsverhältnisse auch in den frühindustrialisierten Kernindustrieländern finden lassen.


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NEUER BEITRAG03.06.2024, 00:59 Uhr
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Ãœberausbeutung im globalen Norden?

Für den globalen Norden wurde der Begriff der Überausbeutung vor und parallel zu Marini in marxistischen Kreisen verwendet, die sich vor allem mit der Arbeits- und Lebenssituation von schwarzen Menschen sowie auch spezifisch von schwarzen Frauen in den USA beschäftigten. Diese Debatte wurde bereits in den 1940ern von Claudia Jones in der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten von Amerika (CPUSA) angestoßen. Ihr zufolge waren schwarze Frauen der Arbeiterklasse in den USA einer spezifischen Form der Ausbeutung ausgesetzt, die sie Überausbeutung nannte. In ihrem 1949 veröffentlichten Text »An End to the Neglect of the Problems of the Negro Woman!« erörtert sie: »Die Überausbeutung der schwarzen Frau zeigt sich nicht nur darin, dass sie als Frau für die gleiche Arbeit weniger Lohn als Männer erhält, sondern auch darin, dass die Mehrheit der schwarzen Frauen weniger als die Hälfte des Lohns weißer Frauen erhält (…). Der niedrige Verdienst der schwarzen Frau steht in direktem Zusammenhang mit ihrem fast vollständigen Ausschluss von praktisch allen Arbeitsbereichen, mit Ausnahme der niedrigsten und unterbezahlten, nämlich der Hausarbeit.« Jones verortet diese Art der Überausbeutung, die schwarze Frauen der Arbeiterklasse in den USA spezifisch betrifft, als historisch bedingt durch ihre doppelte Rolle in der Zeit der Sklaverei: als Ware sowie als Arbeitskraft zur Reproduktion weiterer Sklaven. In diesem Rahmen wird der Begriff der Überausbeutung auch mit dem Triple-Oppression-Ansatz in Verbindung gebracht. Dieser gilt Anhängern der Intersektionalitätstheorie als Grundstein für die Herausbildung einer unhierarchischen Darstellung der Kategorien Klasse, Geschlecht und ›Rasse‹.

Migrantische Arbeit

Die rechtlichen Differenzierungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, etwa nach ihrem Aufenthaltsstatus oder nach ihrer Nationalität, können zu einem Hebel werden, um das durchschnittliche Ausbeutungsniveau für bestimmte Lohnabhängigengruppen zu unterschreiten. Das bedeutet, dass aufgrund der unterschiedlichen Ausbeutungsbedingungen die Lebensverhältnisse und unmittelbaren Interessen innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen differenziert und fragmentiert sind. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Ausbeutungs- und Reproduktionsverhältnisse migrantischer Arbeitskräfte in der BRD zeigen. Migranten der ersten Generation in Deutschland sind überproportional bei den Arbeitslosen vertreten. Im Oktober 2023 waren 4,9 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung arbeitslos gemeldet gegenüber 7,7 Prozent der migrantischen Bevölkerung aus der EU und 9,6 Prozent der migrantischen Bevölkerung des »Westbalkans«. 11,5 Prozent der Drittstaatsangehörigen (ohne Personen aus den acht Hauptherkunftsländern von Asylbewerbern, den westlichen Balkanländern und der Ukraine) waren formal arbeitslos. Für Migranten ist die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, also doppelt so hoch wie für deutsche Staatsangehörige. Das macht diese Gruppe von Arbeitssuchenden vulnerabler für Überausbeutung, da arbeitslose Migranten eher Gelegenheitsjobs annehmen, die in bar und weit unter dem Mindestlohn bezahlt werden, de facto Mindestlohnregelungen unterlaufen und keine Krankenversicherung oder irgendeine Form der sozialen Sicherheit (Rentenversicherung usw.) bieten.

Was sind die Ursachen dafür, dass Migranten der ersten Generation höhere Arbeitslosigkeit, schlechtere Arbeitsbedingungen und Entlohnung droht? Da Lohnabhängige mit ausländischem Pass im Durchschnitt schlechtere (formale) Qualifikationen haben als deutsche Staatsangehörige, erfolgt für viele Migranten der Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt über einfache Helfertätigkeiten. Dabei handelt es sich um geringqualifizierte, meist arbeitsintensive Arbeiten, für die kaum Deutschkenntnisse erforderlich sind (Bauarbeiten, Reinigungsarbeiten usw.). Im Vergleich zu Migranten aus der EU sind die obengenannten sozialversicherungspflichtigen Drittstaatsangehörigen etwas besser qualifiziert. Insbesondere liegt der Anteil hochqualifizierter Arbeitskräfte bei ihnen mit fast einem Viertel besonders hoch und nur knapp unter dem Niveau bei deutschen Erwerbstätigen. Je qualifizierter eine Migrantin ist, desto mehr schließt sich die Gehaltslücke zu deutschen Beschäftigten gleicher Qualifikation. Dies verweist auf die zen­trale Rolle, die der beruflichen Qualifikation zukommt, um das Potential von Überausbeutung zu verringern. Entscheidend für diese Unterschiede dürften nicht die höheren Reproduktionskosten komplizierter, qualifizierter Arbeit sein, sondern die Arbeitsmarktverhältnisse und die geringere Neigung zu bzw. die Möglichkeit von kollektiver Gegenwehr. Natürlich zeigt diese Statistik nicht, dass das Grenzregime es Drittstaatsangehörigen aus Nicht-EU-Ländern fast unmöglich macht, zwecks Arbeitsaufnahme nach Deutschland zu kommen. Ein Teil der Erklärung für den hohen Anteil hochqualifizierter Arbeiter bei den hierzulande erwerbstätigen Drittstaatsangehörigen sind also die speziellen Zugangsmöglichkeiten, die Hochqualifizierten aus dem globalen Süden offenstehen und legal zugänglich sind.

Das Armutsrisiko von Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund war 2019 in Deutschland mehr als doppelt so hoch wie das von Deutschen ohne Migrationshintergrund (27,8 gegenüber 11,7 Prozent). Wer einen ausländischen Pass bzw. eine doppelte Staatsangehörigkeit hat, ist häufiger von Armut betroffen als deutsche Passinhaber mit Migrationshintergrund. Dies gilt auch für Migranten der ersten Generation im Vergleich zu in Deutschland geborenen Personen mit Migrationshintergrund. Arbeitskräfte ohne deutsche Staatsangehörigkeit sowie ihre Nachfahren sind also überproportional stark von Armut und damit auch Überausbeutung bedroht.

Auch wenn Armutsrisiken nicht mit Überausbeutung gleichgesetzt werden können, deuten die Statistiken dennoch auf drei relevante Aspekte hin: Erstens definieren Armutsgefährdungsindikatoren eine institutionalisierte Grenze des gesellschaftlichen Reproduktionsminimums innerhalb eines Landes. Zweitens kann Armut disziplinierend wirken und die Bereitschaft erhöhen, überausbeuterische Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren. Und drittens verweist der Zusammenhang von Migrationshintergrund und Überausbeutung auf eine Form gesellschaftlich abgewerteten Arbeitsvermögens, die es ermöglicht, migrantische Arbeitskräfte schlechter zu bezahlen, stärker auszubeuten und damit Belegschaften und die Arbeiterklasse auf nationaler Ebene zu spalten. Und so sind auf den untersten Rängen der deutschen Arbeiterklasse alte und neue Migrantenfamilien überrepräsentiert.


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NEUER BEITRAG03.06.2024, 01:04 Uhr
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Begriffspotentiale

Wie sich das Verhältnis von Ausbeutung, Überausbeutung und Imperialismus konkret ausgestaltet, ist mit der Stärke und dem Grad der Zusammenarbeit der Arbeiterklassen des globalen Südens und des globalen Nordens verbunden. Obwohl wir den Begriff der Überausbeutung für sinnvoll erachten, bleibt eine Reihe offener Fragen: So muss bei Verwendung des Begriffs definiert werden, wann konkret von Überausbeutung gesprochen werden kann. Einzubeziehen ist der Aspekt des Verhältnisses von einfacher und komplizierter Arbeit. Hierzu ist es notwendig, genau aufzuzeigen, was die Kriterien sind, anhand derer Überausbeutungsverhältnisse empirisch nachzuvollziehen und zu begründen sind. Auch die Bestimmung von Zeitlichkeit ist wichtig, da Arbeitsverhältnisse in demselben Job zu unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen ausbeuterischen und überausbeuterischen Verhältnissen abwechseln können. Hinzu kommt die Frage, ob immer alle zuvor aufgestellten Überausbeutungskriterien greifen müssen und ab welchem Moment man von einer neuen gesamtgesellschaftlichen Formation sprechen kann. Zuletzt bedarf es weiterer Diskussionen und Analysen hinsichtlich der Frage, ob das Konzept der Überausbeutung auch für Ausbeutungsverhältnisse im globalen Norden fruchtbar gemacht werden kann.


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