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•NEUER BEITRAG17.02.2023, 23:34 Uhr
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17.02.2023, 23:42 Uhr
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Versteckte Botschaften
Vor 80 Jahren wurde die Antifaschistin Mildred Harnack hingerichtet. Ihre Bedeutung als Autorin und Literaturhistorikerin wurde bisher kaum beleuchtet
Von Cristina Fischer
Meiner Mutter
Anders als von den meisten hingerichteten Widerstandskämpfern, anders auch als von ihrem Mann Arvid, ist von Mildred Harnack, die im Februar 1943 in Berlin-Plötzensee unter dem Fallbeil endete, kein Abschiedsbrief überliefert. Der Pfarrer Harald Poelchau, der sie zuletzt noch in Plötzensee besuchen konnte, hat keinen Brief oder Kassiber von ihr erhalten. Sie war Witwe, da ihr Mann mehr als einen Monat vor ihr hingerichtet wurde. Sie war kinderlos, und ihre Eltern lebten seit Jahren nicht mehr. Es stellt sich die Frage, wem sie also hätte schreiben sollen oder wollen. Hat sie darauf verzichtet, sich zu Wort zu melden, hatte sie resigniert, wagte sie nicht, den Pfarrer zu kompromittieren, indem sie ihm etwas Schriftliches mitgab, oder glaubte sie nach monatelanger Isolation einfach nicht, dass man Angehörigen oder Freunden einen Brief von ihr aushändigen würde? Sie selbst durfte in der Haft keine Post empfangen, sie bekam nur einen Brief ihres Mannes, der ihr kurz vor dem gemeinsamen Prozess geschrieben hatte. Sie übergab ihn einer Zellengefährtin, die ihn durch die eigene Haftzeit rettete.
Die neue Biographin Mildred Harnacks, die US-Amerikanerin Rebecca Donner, hat deren Status als Universitätsdozentin oft betont und sich etwa der Berliner Zeitung gegenüber wichtig getan, als sie beanstandete, dass Mildred Harnacks Doktorgrad auf der den Harnacks gewidmeten DDR-Briefmarke nicht genannt wurde.¹ Man sollte also meinen, dass sie sich in ihrem Buch eingehend mit der Dissertation ihrer Heldin befasst. Das ist jedoch nicht der Fall. Sie belässt es im wesentlichen bei einem einzigen Absatz:
»Am 20. November 1941 erhält Mildred ihren Doktortitel. Sie ist über zehn Jahre lang Doktorandin in Deutschland gewesen, hat ihre Dissertation stoßweise und in Schüben geschrieben, zerstreut von dem ganzen Trubel um sie herum. Der Titel der Doktorarbeit lautet ›Die Entwicklung der amerikanischen Literatur der Gegenwart in einigen Hauptvertretern des Romans und der Kurzgeschichte‹.«²
In der Anmerkung dazu notiert sie: »Mildred legte ihre Doktorarbeit 1941 vor (…).«³ Das stimmt so nicht. Der Text war bereits im September 1939 abgeschlossen und von dem Gießener Amerikanisten Prof. Walther Fischer positiv begutachtet worden. Harnack legte im selben Monat die mündliche Doktorprüfung ab. Im Laufe des Jahres 1940 führte sie noch Korrekturen aus und ergänzte fehlende Anmerkungen und Literatur. Ende Mai 1941 bat sie um ein Jahr Aufschub für die notwendige Drucklegung des Manuskripts, gewährt wurden ihr nur vier Monate. Bis Herbst hatte sie immerhin genügend Exemplare maschinenschriftlich vervielfältigen lassen können.
Auch ihre erste Biographin, Shareen Blair Brysac, hat trotz gründlicher Recherche und detaillierter Erörterungen nur wenig über Mildred Harnack als Literaturhistorikerin gesagt.
DDR-Forschung
Selbst von überlebenden Freunden gibt es kaum Hinweise auf ihre literarische, literaturkritische und wissenschaftliche Arbeit. So verkündete Greta Kuckhoff, die sie bereits in den 1920er Jahren in den USA kennengelernt hatte, in einem Interview: »Ich hatte eine andere Art, Probleme anzugehen, als Mildred. Sie war eher bedächtig, ein wenig umständlich. Übrigens liegt ihre Doktorarbeit vor, so dass man ihre Denk- und Darstellungsart kennenlernen kann.«⁴
Diese Andeutungen sind wenig dazu angetan, Interesse für Mildred Harnacks Schriften zu wecken.
Es gab bisher tatsächlich nur einen Forscher, der sich näher mit ihnen beschäftigt hat, und zwar den Leipziger Amerikanisten Eberhard Brüning. Dieser hat in der DDR 1988 den Band »Variationen über das Thema Amerika: Studien zur Literatur der USA« mit ausgewählten Aufsätzen und der Dissertation der Widerstandskämpferin herausgegeben, die er um eine sorgfältige biographische Skizze, Werkanalysen und bibliographische Angaben sowie um Dokumente und Abbildungen ergänzte. Brüning hat als erster das literaturwissenschaftliche Werk Harnacks gewürdigt.
Die Forscherin war der Ansicht, dass die Entwicklung der Literatur »aus der Geschichte und dem Leben der Dichter heraus wenigstens zum Teil« erklärt werden könne: »Wir verstehen, zum Teil, wie sie sich im Innern des Menschen vollzogen hat, wenn sie beschrieben wird. Wir verstehen sowohl das gemeinschaftliche als /auch/ das individuelle Erlebnis hinter der Dichtung.«⁵
So legte sie ihre grundsätzliche Methode am Beginn ihrer Doktorarbeit fest. Hintergründig ist ihre Anmerkung zum Begriff des »Verstehens«. Sie führt aus: »In der Physik oder Chemie sieht man, dass ein Vorgang einen anderen auslöst (das Reiben eines Zündholzes ergibt Feuer), jedoch versteht man diesen Vorgang nicht in dem Sinne, in dem man ein Kind versteht, wenn es weint, wenn die Mutter fortgeht, oder in dem Sinne, in dem man einen Dorfpfarrer in Frankreich kurz vor der Französischen Revolution versteht (…). Oder in dem Sinne, in dem man Novalis versteht, wenn er auf Grund des tragischen Todes seiner jungen Braut die Hymnen an die Nacht und später die Marienhymnen schreibt.«⁶
So verbindet die Autorin in zwei Sätzen die Vorstellung vom Aufflammen eines Streichholzes mit dem Bild eines weinenden Kindes, dem Bild eines verunsicherten Pfarrers im gesellschaftlichen Umbruch, mit der Erinnerung an die Französische Revolution und schließlich an die deutsche Romantik, wobei sie den Kreis mit einer Tragödie um Liebe und Tod schließt und zugleich die Literatur in Gestalt romantischer Lyrik einführt. Das besagt, dass die Geschichte untrennbar mit den individuellen Schicksalen verbunden ist, und daraus entsteht Literatur.
Greta Kuckhoff mochte dergleichen »umständlich« finden, dabei ist es magisch, wie das imaginäre Streichholz flüchtig sowohl die Weltgeschichte in ihrem Aufbäumen und Zurücksinken als auch den Schmerz und die Zerrissenheit der einzelnen beleuchtet.
Man könnte an diesem Beispiel lernen, dass es besser wäre, sich die Texte Mildred Harnacks ganz genau anzusehen. Eberhard Brüning hat sich in seiner Analyse fachbedingt auf ihre Schriften zur US-amerikanischen Literaturgeschichte beschränkt.
Dass irgend jemand, noch dazu eine Frau, eine Ausländerin, im faschistischen Deutschland, in einer Kleinstadt, an der philosophischen Fakultät einer schon vor 1933 von Nazis dominierten Universität zwei Jahre nach Kriegsbeginn mit einer Doktorarbeit durchkommen konnte, die jegliche Konzession an den herrschenden Ungeist verweigerte, grenzt an ein Wunder.
Als geradezu tollkühn muss man es jedoch bezeichnen, dass diese Schrift kaum verhüllt antifaschistische, pazifistische und marxistische Positionen vertritt. Wenig hätte gefehlt, und es hätten darin zwei komplette Kapitel über die radikalsozialistischen Schriftsteller Carl Sandburg und Theodore Dreiser gestanden. (Letzterer war Sympathisant der Kommunistischen Partei der USA, der er 1945 beitrat.)
Mildred Harnack hatte diese Kapitel mit eingereicht, der Prüfungsausschuss bewegte sie jedoch dazu, diese zurückzuziehen, »da über den engeren Rahmen der Dissertation hinausgehend«, wie es verschämt hieß. Die Doktorandin hinderte das nicht daran, ihre Auffassung über beide Autoren zumindest in Kurzform darzulegen. Zu Sandburg merkte sie sogar an, er habe für die Sozialdemokratische Partei von Wisconsin gearbeitet. Auf ihn geht der bekannte pazifistische Spruch »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin« zurück, denn in seinem Langgedicht »The People, Yes« wird einem Mädchen der Soldatentod erklärt, und es antwortet: »Sometime they’ll give a war and nobody will come.«
Mildred Harnack zitiert in dem ihm gewidmeten, hinwegzensierten Kapitel das Gedicht »The Liars«, das Sandburg nach dem grauenvollen Morden des Ersten Weltkriegs geschrieben hatte, und in dem er neuerliche Kriegsvorbereitungen der Herrschenden, der »Lügner« des Titels, anprangert: »The liars met when the doors were locked. / They said to each other: Now for war.«
Da sie nur wenige und ihr besonders wichtige Zitate verwendete, ist klar, welche Bedeutung sie diesem Gedicht beimaß. Carl Sandburg betrachtete das Volk als die wahre Verkörperung Amerikas, so Harnack. (Übrigens war er ein enger Freund und Förderer ihrer Freundin Martha Dodd, die unter dem Einfluss der Harnacks zur Kommunistin und sowjetischen Agentin wurde.)
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•NEUER BEITRAG17.02.2023, 23:40 Uhr
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Kritik am Rassismus
Ganz nebenbei hebt sie in ihrer Dissertation John Brown, den berühmten Kämpfer gegen Sklaverei, der 1859 in Virginia wegen Anzettelung eines Sklavenaufstandes und »Hochverrats« hingerichtet worden war, als Widerstandshelden hervor, indem sie u. a. das populäre Kampflied mit der Zeile »But his soul goes marching on« und das epische Gedicht »John Brown’s Body« (1928) von Stephen Vincent Benét erwähnt.
Sie beschreibt eine Szene aus einem Roman des Südstaatenautors Thomas Wolfe, in der es um die Misshandlung eines Schwarzen geht. »Hier übt Wolfe schwerste Kritik«, kommentiert sie, diese Kritik erinnere an Dreiser. Ihre Stellungnahme gegen Rassismus ist unverkennbar.
Bei dem im fünften Kapitel behandelten Schriftsteller William Faulkner (»Light in August«, 1932) hebt sie u. a. das »In- und Gegeneinander von Weißen und Farbigen« und »die Beschreibung des dumpfen Aufbruchs der Negerbevölkerung, die ihrer Befreiung entgegenzugehen meint«, hervor. Sie musste sich vorsichtig ausdrücken. Deutlicher formuliert es heute der US-amerikanische Literaturprofessor Jay Watson: »In seinen Büchern schildert Faulkner, welche Schäden Sklaverei und Rassentrennung verursachen, primär natürlich für Afroamerikaner, aber auch moralisch und seelisch für weiße Amerikaner. All das schildert er sehr unnachgiebig.« Thema Faulkners sei der »Aufstieg der auf Sklavenarbeit basierenden Kultur und Ökonomie der Plantagen, wie sie die USA von Beginn an geprägt und den Süden definiert haben.«⁷ Das arbeitet auch Mildred Harnack heraus.
Sie begnügte sich nicht damit, in ihrer Doktorarbeit allgemeine humanistische Ideale, etwa in Anlehnung an Goethe und Hölderlin, zu vertreten, sondern wandte sich unmissverständlich gegen Rassismus, Militarismus und Krieg und scheute sich nicht, sozialistische Autoren und einen umstrittenen Rebellen wie John Brown zu propagieren.
Im übrigen hatte sie ihre Argumentation, den Anschauungen ihres Mannes folgend, auf dem Konzept des historischen Materialismus aufgebaut. Es gab für sie keine »Kunst an sich«, Literatur war für sie Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihre Darstellung beginnt mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), wobei sie die unterschiedlichen ökonomischen Interessen der Nord- und Südstaaten unterstreicht, und endet mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Der Erste Weltkrieg wird von ihr als Zäsur für die von ihr behandelten US-amerikanischen Autoren bezeichnet. Was sie von einem Schriftsteller erwartete, wird deutlich, wenn sie Theodore Dreiser – der, wie sie betonte, vom »Drang nach Wahrheit« beherrscht war – bescheinigt, er habe versucht, »den tatsächlichen Wandel der Gesellschaft schonungslos zu beschreiben«.⁸
Nicht nur die Kühnheit der Verfasserin ist zu bewundern, sondern auch das charakterliche Format ihres Gießener Mentors Walther Fischer, eines »der bedeutendsten Wegbereiter der deutschen Amerikanistik«.⁹ Er akzeptierte diese Doktorarbeit und bedachte sie mit einem wohlwollenden Gutachten. Er hatte immerhin im Promotionsverfahren, das sich über fast zwei Jahre hinzog, dafür geradezustehen.
Mildred Harnack hatte 1936 dem Lektor von Thomas Wolfe gestanden, dass sie nur autobiographisch schreiben könne. Das bezog sich vor allem auf einen von ihr begonnenen Roman; aber wie sich herausstellt, ist auch ihr literaturhistorisches Werk von autobiographischen Bezügen durchdrungen – ganz einfach deshalb, weil ihre literarischen Analysen und Urteile von ihren eigenen komplexen Erfahrungen und von ihrer Weltanschauung gespeist wurden. Ihr Denken, Fühlen, Wissen und Glauben ging sozusagen organisch in ihre Texte ein.
Das erkannte auch ihr Doktorvater, der sie bewunderte, dem aber durchaus klar war, dass diese Dissertation den Rahmen des Üblichen sprengte. »Die Darstellung verrät schriftstellerische Begabung mit einem Einschlag ins Journalistische«, meinte er und betonte, wie ungewöhnlich das für eine Frau sei, die Deutsch nicht als Muttersprache erlernt hatte. Ihre Arbeit sei »ihrem Ursprung wie dem Stile nach mehr belletristisch als eigentlich wissenschaftlich geartet«, belege aber »ein umfangreiches Wissen um einen in Deutschland meist nur wenig gekannten Gegenstand«. Im übrigen seien »die Urteile der Verf. zutreffend und meist wohl begründet«,¹⁰ resümierte der Professor und stellte sich damit ohne Wenn und Aber hinter die gewagten Äußerungen seines Schützlings.
Am letzten Tag
Ein Jahr später saß die promovierte Philologin, ebenso wie ihr Mann, wegen ihres antifaschistischen Widerstands in den Reihen der »Roten Kapelle« in einem Berliner Gefängnis. Im Schnellverfahren wurde sie zunächst zu sechs Jahren Zuchthaus und in einem zweiten Prozess zum Tode verurteilt.
Dass sie noch zuletzt im Gefängnis Gedichte Goethes ins Englische übersetzte, ist bekannt. Obwohl sie Pfarrer Poelchau an ihrem Sterbetag keinen Abschiedsbrief übergeben hat, überließ sie ihm doch jenes Büchlein mit Goethes Versen, in dem ihre handschriftlichen Eintragungen verstreut sind. Dass sie bei der Ankündigung ihrer Hinrichtung sagte »Und ich habe Deutschland so geliebt!« steht ebenso für sich wie eine ihrer Übersetzungen, die sich in dem Buch fanden: »Noble be man …«, »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut«. Beides wurde später gern zitiert. Eine Amerikanerin, die mit dem Bekenntnis zu Deutschland vor das Schafott tritt, die mit Goethes Credo auf den Lippen stirbt – das ist zu schön, um wahr zu sein, und es ist doch wahr. Damit hat man sich (allzuschnell) zufriedengegeben. Übersehen wurde dabei einiges andere.
Denn es gibt ja so etwas wie einen Abschiedsbrief, den sie an ihre verbliebenen Angehörigen oder an die Nachwelt richtete. Sie schrieb auf die Rückseite eines Fotos ihrer Mutter, das der Pfarrer ihr mitgebracht hatte: »16. II. 1943 / Das Gesicht meiner Mutter drückt alles aus, was ich in diesem Augenblick sagen möchte. Mildred. Dieses Gesicht war bei mir all die Monate hindurch.«¹¹
Sie hinterließ außerdem kleine, zum Teil kaum sichtbare Botschaften in ihrem Goethe-Bändchen, das Poelchau aus dem Gefängnis hinaustrug. Sie notierte ihr Hinrichtungsdatum über Goethes Gedicht »Vermächtnis«, das damit auch zu ihrem eigenen Vermächtnis wurde: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen! / Das Ew’ge regt sich fort in allen.« Sie übersetzte: »No being can to nothing fall. / The Everlasting lives in all«.
Auch das Gedicht »Selige Sehnsucht« mit der Sentenz »Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde!« versah sie mit dem Datum ihres letzten Lebenstages. Darunter notierte sie »Shelley: Adonais« und »Whitman: When lilacs last in the dooryard bloomed«.
Walt Whitmans langes Gedicht auf den Tod Abraham Lincolns, der 1865 von einem fanatischen Südstaatler erschossen worden war, hatte sie in ihren Schriften mehrmals erwähnt. In ihrer Dissertation bezeichnet sie es als eine der schönsten Elegien der englischen Sprache.
Da war er wieder, der Moment, in dem sich Weltgeschichte, Idealismus, individuelle Tragödie und Literatur verbinden. Lincoln sei »der vom Volk Geliebte« gewesen, hatte Mildred geschrieben: »Diese große, unbeholfene Gestalt mit dem tiefzerfurchten Antlitz wird zum geistigen Symbol (…).«
Und es klingt wie eine verfrühte Reminiszenz, eine Vorahnung ihres eigenen Schicksals, dass sie hinzufügte: »Liebe, zum Tode verdammt, Liebe, die mit dem Erhabenen und Ewigen verknüpft ist, obwohl sie nur menschlich ist. Die Natur, die Stimme eines Vogels, Duft der Blüten in der Nacht, der Abendstern am westlichen Himmel. Hier ist auch Hölderlin und die Sehnsucht nach einem Lande, in dem die Liebe der Rhythmus des Volkes ist.«¹²
Sie notierte die Initialen ihres ermordeten Mannes Arvid und die seiner Mutter Clara. Über »Cl. H.« setzte sie ihre Übersetzung der letzten Strophe aus Goethes Gedicht »Das Göttliche«: »The noble man / Be helpful and good! / Restless he do / the useful, the wise, / Be us example / of those surmised beings!«
Clara Harnack, selbst eine glühende Antifaschistin, hätte darin einen Hinweis auf die Haltung ihres Sohnes und die Bitte, seine Sache fortzuführen, erkennen können.
Als Mildred sich (und durch ihre Notiz die Nachwelt) an ihrem letzten Lebenstag an das Gedicht von Walt Whitman erinnerte, war der Verlust ihres Mannes, des marxistischen Gelehrten und Widerstandskämpfers Arvid Harnack, für sie vergleichbar mit dem in der Elegie beklagten Tod Lincolns. In beidem sah sie ebenso die persönliche wie die politische Tragödie. Das war ihr Memento für die Nachwelt, ihr unerkannter und unzensierter Abschiedsbrief.
Anmerkungen
1 Berliner Zeitung vom 5.10.2022, S. 17.
2 R. Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack. Berlin 2022, S. 402.
3 Ebd. S. 547.
4 G. Kuckhoff im Interview mit K.-D. Biernat, ca. 1968. Bundesarchiv SAPMO N 2506/257.
5 M. Harnack-Fish: Variationen über das Thema Amerika. Studien zur Literatur der USA. Hrsg. v. E. Brüning. Berlin 1988, S. 53.
6 Ebd. S. 135.
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8 Zitiert in M. Harnack-Fish, a. a. O., S. 55.
9 Horst Oppel: Walther Fischer (Nachruf). In: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie (Tübingen), Bd. 79 (1961), H. 1, S. 1.
10 Zitiert in M. Harnack-Fish, a. a. O., S. 202 f.
11 R. Donner, a. a. O., S. 479.
12 Falk Harnack: Mildred Harnacks letzte Stunden, in: M. Harnack-Fish, a. a. O., S. 153.
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Kritik am Rassismus
Ganz nebenbei hebt sie in ihrer Dissertation John Brown, den berühmten Kämpfer gegen Sklaverei, der 1859 in Virginia wegen Anzettelung eines Sklavenaufstandes und »Hochverrats« hingerichtet worden war, als Widerstandshelden hervor, indem sie u. a. das populäre Kampflied mit der Zeile »But his soul goes marching on« und das epische Gedicht »John Brown’s Body« (1928) von Stephen Vincent Benét erwähnt.
Sie beschreibt eine Szene aus einem Roman des Südstaatenautors Thomas Wolfe, in der es um die Misshandlung eines Schwarzen geht. »Hier übt Wolfe schwerste Kritik«, kommentiert sie, diese Kritik erinnere an Dreiser. Ihre Stellungnahme gegen Rassismus ist unverkennbar.
Bei dem im fünften Kapitel behandelten Schriftsteller William Faulkner (»Light in August«, 1932) hebt sie u. a. das »In- und Gegeneinander von Weißen und Farbigen« und »die Beschreibung des dumpfen Aufbruchs der Negerbevölkerung, die ihrer Befreiung entgegenzugehen meint«, hervor. Sie musste sich vorsichtig ausdrücken. Deutlicher formuliert es heute der US-amerikanische Literaturprofessor Jay Watson: »In seinen Büchern schildert Faulkner, welche Schäden Sklaverei und Rassentrennung verursachen, primär natürlich für Afroamerikaner, aber auch moralisch und seelisch für weiße Amerikaner. All das schildert er sehr unnachgiebig.« Thema Faulkners sei der »Aufstieg der auf Sklavenarbeit basierenden Kultur und Ökonomie der Plantagen, wie sie die USA von Beginn an geprägt und den Süden definiert haben.«⁷ Das arbeitet auch Mildred Harnack heraus.
Sie begnügte sich nicht damit, in ihrer Doktorarbeit allgemeine humanistische Ideale, etwa in Anlehnung an Goethe und Hölderlin, zu vertreten, sondern wandte sich unmissverständlich gegen Rassismus, Militarismus und Krieg und scheute sich nicht, sozialistische Autoren und einen umstrittenen Rebellen wie John Brown zu propagieren.
Im übrigen hatte sie ihre Argumentation, den Anschauungen ihres Mannes folgend, auf dem Konzept des historischen Materialismus aufgebaut. Es gab für sie keine »Kunst an sich«, Literatur war für sie Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihre Darstellung beginnt mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), wobei sie die unterschiedlichen ökonomischen Interessen der Nord- und Südstaaten unterstreicht, und endet mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Der Erste Weltkrieg wird von ihr als Zäsur für die von ihr behandelten US-amerikanischen Autoren bezeichnet. Was sie von einem Schriftsteller erwartete, wird deutlich, wenn sie Theodore Dreiser – der, wie sie betonte, vom »Drang nach Wahrheit« beherrscht war – bescheinigt, er habe versucht, »den tatsächlichen Wandel der Gesellschaft schonungslos zu beschreiben«.⁸
Nicht nur die Kühnheit der Verfasserin ist zu bewundern, sondern auch das charakterliche Format ihres Gießener Mentors Walther Fischer, eines »der bedeutendsten Wegbereiter der deutschen Amerikanistik«.⁹ Er akzeptierte diese Doktorarbeit und bedachte sie mit einem wohlwollenden Gutachten. Er hatte immerhin im Promotionsverfahren, das sich über fast zwei Jahre hinzog, dafür geradezustehen.
Mildred Harnack hatte 1936 dem Lektor von Thomas Wolfe gestanden, dass sie nur autobiographisch schreiben könne. Das bezog sich vor allem auf einen von ihr begonnenen Roman; aber wie sich herausstellt, ist auch ihr literaturhistorisches Werk von autobiographischen Bezügen durchdrungen – ganz einfach deshalb, weil ihre literarischen Analysen und Urteile von ihren eigenen komplexen Erfahrungen und von ihrer Weltanschauung gespeist wurden. Ihr Denken, Fühlen, Wissen und Glauben ging sozusagen organisch in ihre Texte ein.
Das erkannte auch ihr Doktorvater, der sie bewunderte, dem aber durchaus klar war, dass diese Dissertation den Rahmen des Üblichen sprengte. »Die Darstellung verrät schriftstellerische Begabung mit einem Einschlag ins Journalistische«, meinte er und betonte, wie ungewöhnlich das für eine Frau sei, die Deutsch nicht als Muttersprache erlernt hatte. Ihre Arbeit sei »ihrem Ursprung wie dem Stile nach mehr belletristisch als eigentlich wissenschaftlich geartet«, belege aber »ein umfangreiches Wissen um einen in Deutschland meist nur wenig gekannten Gegenstand«. Im übrigen seien »die Urteile der Verf. zutreffend und meist wohl begründet«,¹⁰ resümierte der Professor und stellte sich damit ohne Wenn und Aber hinter die gewagten Äußerungen seines Schützlings.
Am letzten Tag
Ein Jahr später saß die promovierte Philologin, ebenso wie ihr Mann, wegen ihres antifaschistischen Widerstands in den Reihen der »Roten Kapelle« in einem Berliner Gefängnis. Im Schnellverfahren wurde sie zunächst zu sechs Jahren Zuchthaus und in einem zweiten Prozess zum Tode verurteilt.
Dass sie noch zuletzt im Gefängnis Gedichte Goethes ins Englische übersetzte, ist bekannt. Obwohl sie Pfarrer Poelchau an ihrem Sterbetag keinen Abschiedsbrief übergeben hat, überließ sie ihm doch jenes Büchlein mit Goethes Versen, in dem ihre handschriftlichen Eintragungen verstreut sind. Dass sie bei der Ankündigung ihrer Hinrichtung sagte »Und ich habe Deutschland so geliebt!« steht ebenso für sich wie eine ihrer Übersetzungen, die sich in dem Buch fanden: »Noble be man …«, »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut«. Beides wurde später gern zitiert. Eine Amerikanerin, die mit dem Bekenntnis zu Deutschland vor das Schafott tritt, die mit Goethes Credo auf den Lippen stirbt – das ist zu schön, um wahr zu sein, und es ist doch wahr. Damit hat man sich (allzuschnell) zufriedengegeben. Übersehen wurde dabei einiges andere.
Denn es gibt ja so etwas wie einen Abschiedsbrief, den sie an ihre verbliebenen Angehörigen oder an die Nachwelt richtete. Sie schrieb auf die Rückseite eines Fotos ihrer Mutter, das der Pfarrer ihr mitgebracht hatte: »16. II. 1943 / Das Gesicht meiner Mutter drückt alles aus, was ich in diesem Augenblick sagen möchte. Mildred. Dieses Gesicht war bei mir all die Monate hindurch.«¹¹
Sie hinterließ außerdem kleine, zum Teil kaum sichtbare Botschaften in ihrem Goethe-Bändchen, das Poelchau aus dem Gefängnis hinaustrug. Sie notierte ihr Hinrichtungsdatum über Goethes Gedicht »Vermächtnis«, das damit auch zu ihrem eigenen Vermächtnis wurde: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen! / Das Ew’ge regt sich fort in allen.« Sie übersetzte: »No being can to nothing fall. / The Everlasting lives in all«.
Auch das Gedicht »Selige Sehnsucht« mit der Sentenz »Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde!« versah sie mit dem Datum ihres letzten Lebenstages. Darunter notierte sie »Shelley: Adonais« und »Whitman: When lilacs last in the dooryard bloomed«.
Walt Whitmans langes Gedicht auf den Tod Abraham Lincolns, der 1865 von einem fanatischen Südstaatler erschossen worden war, hatte sie in ihren Schriften mehrmals erwähnt. In ihrer Dissertation bezeichnet sie es als eine der schönsten Elegien der englischen Sprache.
Da war er wieder, der Moment, in dem sich Weltgeschichte, Idealismus, individuelle Tragödie und Literatur verbinden. Lincoln sei »der vom Volk Geliebte« gewesen, hatte Mildred geschrieben: »Diese große, unbeholfene Gestalt mit dem tiefzerfurchten Antlitz wird zum geistigen Symbol (…).«
Und es klingt wie eine verfrühte Reminiszenz, eine Vorahnung ihres eigenen Schicksals, dass sie hinzufügte: »Liebe, zum Tode verdammt, Liebe, die mit dem Erhabenen und Ewigen verknüpft ist, obwohl sie nur menschlich ist. Die Natur, die Stimme eines Vogels, Duft der Blüten in der Nacht, der Abendstern am westlichen Himmel. Hier ist auch Hölderlin und die Sehnsucht nach einem Lande, in dem die Liebe der Rhythmus des Volkes ist.«¹²
Sie notierte die Initialen ihres ermordeten Mannes Arvid und die seiner Mutter Clara. Über »Cl. H.« setzte sie ihre Übersetzung der letzten Strophe aus Goethes Gedicht »Das Göttliche«: »The noble man / Be helpful and good! / Restless he do / the useful, the wise, / Be us example / of those surmised beings!«
Clara Harnack, selbst eine glühende Antifaschistin, hätte darin einen Hinweis auf die Haltung ihres Sohnes und die Bitte, seine Sache fortzuführen, erkennen können.
Als Mildred sich (und durch ihre Notiz die Nachwelt) an ihrem letzten Lebenstag an das Gedicht von Walt Whitman erinnerte, war der Verlust ihres Mannes, des marxistischen Gelehrten und Widerstandskämpfers Arvid Harnack, für sie vergleichbar mit dem in der Elegie beklagten Tod Lincolns. In beidem sah sie ebenso die persönliche wie die politische Tragödie. Das war ihr Memento für die Nachwelt, ihr unerkannter und unzensierter Abschiedsbrief.
Anmerkungen
1 Berliner Zeitung vom 5.10.2022, S. 17.
2 R. Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack. Berlin 2022, S. 402.
3 Ebd. S. 547.
4 G. Kuckhoff im Interview mit K.-D. Biernat, ca. 1968. Bundesarchiv SAPMO N 2506/257.
5 M. Harnack-Fish: Variationen über das Thema Amerika. Studien zur Literatur der USA. Hrsg. v. E. Brüning. Berlin 1988, S. 53.
6 Ebd. S. 135.
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8 Zitiert in M. Harnack-Fish, a. a. O., S. 55.
9 Horst Oppel: Walther Fischer (Nachruf). In: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie (Tübingen), Bd. 79 (1961), H. 1, S. 1.
10 Zitiert in M. Harnack-Fish, a. a. O., S. 202 f.
11 R. Donner, a. a. O., S. 479.
12 Falk Harnack: Mildred Harnacks letzte Stunden, in: M. Harnack-Fish, a. a. O., S. 153.
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