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•NEUES THEMA22.12.2022, 02:07 Uhr
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22.12.2022, 02:35 Uhr
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Zur Geschichte der 'Roten Kapelle'
jW heute:
Entgratete Helden
Vor 80 Jahren wurden die ersten Widerstandskämpfer der »Roten Kapelle« hingerichtet. Bis heute wird ihre Geschichte verfälscht
Von Cristina Fischer
Stefan Roloff: Zeitzeugnisse. Überlebende der Roten Kapelle sprechen. Eine Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, Stauffenbergstraße 13–14, Eintritt frei (noch bis zum 2. Januar 2023). Begleitband zur Ausstellung, hg. v. der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2022
Johannes Tuchel: »… wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben.« Liane Berkowitz, Friedrich Rehmer und die Widerstandsaktionen der Berliner Roten Kapelle, Lukas-Verlag, Berlin 2022
Die Rote Kapelle. Das verdrängte Widerstandsnetz. Dokumentarfilm, 2020 (D, B, IL). DVD (Lighthouse Home Entertainment), 122 Minuten
Cristina Fischer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 19. Dezember 2022 über Herbert Gollnow, der als Mitglied der »Roten Kapelle« hingerichtet wurde.
Am Abend des 22. Dezember 1942 standen sie mit gefesselten Händen vor der Hinrichtungsbaracke des Strafgefängnisses Berlin-Plötzensee. Dann starben fünf Männer (Rudolf von Scheliha, Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack, John Graudenz und Kurt Schumacher) nacheinander an Stricken, die an Fleischerhaken am Deckenbalken befestigt waren. Anschließend wurden drei Männer (Horst Heilmann, Hans Coppi, Kurt Schulze) und drei Frauen (Ilse Stöbe, Libertas Schulze-Boysen und Elisabeth Schumacher) mit dem Fallbeil geköpft.
Die Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW) begeht den 80. Jahrestag der Aufdeckung der »Rote Kapelle« mit einer Sonderausstellung in der Stauffenbergstraße, einer Reihe von Veranstaltungen und mit biographischen Publikationen.
Befragung der Hinterbliebenen
Die Sonderausstellung präsentiert in einem separaten Raum mit einzelnen Kabinen eine Videoinstallation von Stefan Roloff, Sohn des Pianisten Helmut Roloff, der im Zusammenhang mit Aktionen der »Roten Kapelle« verhaftet, wegen Mangels an Beweisen jedoch bald freigelassen worden war. Roloff hatte für einen Dokumentarfilm seinen Vater und andere Überlebende sowie Hinterbliebene von Hingerichteten wie Hartmut Schulze-Boysen, Hans Coppi, Karin Reetz und Saskia von Brockdorff sowie deren Freunde (wie Donald Heath jr.) befragt.
Seine Interviews sind nicht nur zu hören und zu sehen, sondern in einem umfangreichen Begleitband zur Ausstellung nun auch nachzulesen. Dabei fällt die Sicht der Befragten auf die Geschichte sehr unterschiedlich aus, angefangen bei Hartmut Schulze-Boysen, der sich lebenslang für die juristische Rehabilitation und die Anerkennung seines Bruders Harro als Widerstandskämpfer engagiert hat, über Saskia von Brockdorff, der von ihrem Vater in der DDR der Zugang zu Fotos und Dokumenten ihrer Mutter Erika verwehrt wurde (und die daher erst sehr spät mit ihr und mit sich selbst ins reine kommen konnte), bis zu Hans Coppi, der, im Berliner Frauengefängnis geboren, keinerlei Erinnerungen an seine hingerichteten Eltern hat und sich den Zugang zu ihnen als Historiker systematisch erarbeiten musste. Man erfährt von ihnen weniger über den Widerstand und die Toten als über die Auswirkungen, die die Verhaftungen und Morde auf die betroffenen Familien hatten und teilweise bis heute haben. Karin Reetz wurde als Jugendliche gemeinsam mit ihrem Vater John Graudenz, ihrer Mutter und ihrer Schwester verhaftet. Rainer Küchenmeister, der ältere Sohn von Walter Küchenmeister, wurde ebenfalls mit diesem festgenommen und später ins KZ verbracht. Im Gefängnis lernte er Cato Bontjes van Beek kennen. Helmut Roloff berichtete über seine ermordeten Freunde, über gemeinsame Aktivitäten im Widerstand und über die Haft im Gefängnis Spandau, wo er andere Beteiligte traf.
Am Ende seines umfangreichen einführenden Katalogbeitrags schildert Stefan Roloff bewegend, wie er zum letzten Mal mit seinem Vater sprach, der ihn schon nicht mehr erkannte. Aber als er ihn auf den 1943 hingerichteten Helmut Himpel ansprach, fasste der Greis nach seiner Hand und antwortete: »Ja, wenn Sie auch Herrn Himpel kannten, könnte ich Sie vielleicht fast als Freund bezeichnen.«¹
Eine weitere wichtige aktuelle Publikation zum Thema stammt vom Leiter der Gedenkstätte, Johannes Tuchel. Sie befasst sich unter dem titelgebenden Briefzitat »… wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben« mit der kurz vor ihrem 20. Geburtstag enthaupteten Liane Berkowitz, ihrem Freund Friedrich Rehmer und mit den Widerstandsaktionen ihrer Gruppe.² Dafür konnten neue Materialien aufgefunden und ausgewertet werden; über Fritz Rehmer wird erstmals ausführlicher berichtet. Der Band ist als Überblicksdarstellung angelegt, ausgehend von einer Aktivistin, die sich in vielerlei Hinsicht besonders gut für eine breitenwirksame Präsentation eignet, war sie doch weder KPD-Mitglied, noch hatte sie Kontakt zu Geheimdiensten. Ihre Sympathie für die Sowjetunion lässt sich harmlos auf ihre russische Abstammung zurückführen, und ihr Ausspruch, dass sie eine »Erzkommunistin« sei, auf jugendlich-naive Impulsivität. Sie hatte lediglich an politischen Diskussionen und an der Zettelklebeaktion gegen die Nazipropagandaausstellung »Das Sowjetparadies« teilgenommen. In der Haft brachte sie ein Kind von ihrem Verlobten zur Welt. Emotional aufgewühlt, ja verzweifelt, besann sie sich im Gefängnis auf ihre Verbindung zur russisch-orthodoxen Kirche und fand Halt in ihrem Glauben. Die Briefe, die sie in dieser Situation an ihre Mutter schrieb, sind erschütternd; sie wurden bereits 1993 publiziert.
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Entgratete Helden
Vor 80 Jahren wurden die ersten Widerstandskämpfer der »Roten Kapelle« hingerichtet. Bis heute wird ihre Geschichte verfälscht
Von Cristina Fischer
Stefan Roloff: Zeitzeugnisse. Überlebende der Roten Kapelle sprechen. Eine Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, Stauffenbergstraße 13–14, Eintritt frei (noch bis zum 2. Januar 2023). Begleitband zur Ausstellung, hg. v. der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2022
Johannes Tuchel: »… wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben.« Liane Berkowitz, Friedrich Rehmer und die Widerstandsaktionen der Berliner Roten Kapelle, Lukas-Verlag, Berlin 2022
Die Rote Kapelle. Das verdrängte Widerstandsnetz. Dokumentarfilm, 2020 (D, B, IL). DVD (Lighthouse Home Entertainment), 122 Minuten
Cristina Fischer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 19. Dezember 2022 über Herbert Gollnow, der als Mitglied der »Roten Kapelle« hingerichtet wurde.
Am Abend des 22. Dezember 1942 standen sie mit gefesselten Händen vor der Hinrichtungsbaracke des Strafgefängnisses Berlin-Plötzensee. Dann starben fünf Männer (Rudolf von Scheliha, Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack, John Graudenz und Kurt Schumacher) nacheinander an Stricken, die an Fleischerhaken am Deckenbalken befestigt waren. Anschließend wurden drei Männer (Horst Heilmann, Hans Coppi, Kurt Schulze) und drei Frauen (Ilse Stöbe, Libertas Schulze-Boysen und Elisabeth Schumacher) mit dem Fallbeil geköpft.
Die Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW) begeht den 80. Jahrestag der Aufdeckung der »Rote Kapelle« mit einer Sonderausstellung in der Stauffenbergstraße, einer Reihe von Veranstaltungen und mit biographischen Publikationen.
Befragung der Hinterbliebenen
Die Sonderausstellung präsentiert in einem separaten Raum mit einzelnen Kabinen eine Videoinstallation von Stefan Roloff, Sohn des Pianisten Helmut Roloff, der im Zusammenhang mit Aktionen der »Roten Kapelle« verhaftet, wegen Mangels an Beweisen jedoch bald freigelassen worden war. Roloff hatte für einen Dokumentarfilm seinen Vater und andere Überlebende sowie Hinterbliebene von Hingerichteten wie Hartmut Schulze-Boysen, Hans Coppi, Karin Reetz und Saskia von Brockdorff sowie deren Freunde (wie Donald Heath jr.) befragt.
Seine Interviews sind nicht nur zu hören und zu sehen, sondern in einem umfangreichen Begleitband zur Ausstellung nun auch nachzulesen. Dabei fällt die Sicht der Befragten auf die Geschichte sehr unterschiedlich aus, angefangen bei Hartmut Schulze-Boysen, der sich lebenslang für die juristische Rehabilitation und die Anerkennung seines Bruders Harro als Widerstandskämpfer engagiert hat, über Saskia von Brockdorff, der von ihrem Vater in der DDR der Zugang zu Fotos und Dokumenten ihrer Mutter Erika verwehrt wurde (und die daher erst sehr spät mit ihr und mit sich selbst ins reine kommen konnte), bis zu Hans Coppi, der, im Berliner Frauengefängnis geboren, keinerlei Erinnerungen an seine hingerichteten Eltern hat und sich den Zugang zu ihnen als Historiker systematisch erarbeiten musste. Man erfährt von ihnen weniger über den Widerstand und die Toten als über die Auswirkungen, die die Verhaftungen und Morde auf die betroffenen Familien hatten und teilweise bis heute haben. Karin Reetz wurde als Jugendliche gemeinsam mit ihrem Vater John Graudenz, ihrer Mutter und ihrer Schwester verhaftet. Rainer Küchenmeister, der ältere Sohn von Walter Küchenmeister, wurde ebenfalls mit diesem festgenommen und später ins KZ verbracht. Im Gefängnis lernte er Cato Bontjes van Beek kennen. Helmut Roloff berichtete über seine ermordeten Freunde, über gemeinsame Aktivitäten im Widerstand und über die Haft im Gefängnis Spandau, wo er andere Beteiligte traf.
Am Ende seines umfangreichen einführenden Katalogbeitrags schildert Stefan Roloff bewegend, wie er zum letzten Mal mit seinem Vater sprach, der ihn schon nicht mehr erkannte. Aber als er ihn auf den 1943 hingerichteten Helmut Himpel ansprach, fasste der Greis nach seiner Hand und antwortete: »Ja, wenn Sie auch Herrn Himpel kannten, könnte ich Sie vielleicht fast als Freund bezeichnen.«¹
Eine weitere wichtige aktuelle Publikation zum Thema stammt vom Leiter der Gedenkstätte, Johannes Tuchel. Sie befasst sich unter dem titelgebenden Briefzitat »… wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben« mit der kurz vor ihrem 20. Geburtstag enthaupteten Liane Berkowitz, ihrem Freund Friedrich Rehmer und mit den Widerstandsaktionen ihrer Gruppe.² Dafür konnten neue Materialien aufgefunden und ausgewertet werden; über Fritz Rehmer wird erstmals ausführlicher berichtet. Der Band ist als Überblicksdarstellung angelegt, ausgehend von einer Aktivistin, die sich in vielerlei Hinsicht besonders gut für eine breitenwirksame Präsentation eignet, war sie doch weder KPD-Mitglied, noch hatte sie Kontakt zu Geheimdiensten. Ihre Sympathie für die Sowjetunion lässt sich harmlos auf ihre russische Abstammung zurückführen, und ihr Ausspruch, dass sie eine »Erzkommunistin« sei, auf jugendlich-naive Impulsivität. Sie hatte lediglich an politischen Diskussionen und an der Zettelklebeaktion gegen die Nazipropagandaausstellung »Das Sowjetparadies« teilgenommen. In der Haft brachte sie ein Kind von ihrem Verlobten zur Welt. Emotional aufgewühlt, ja verzweifelt, besann sie sich im Gefängnis auf ihre Verbindung zur russisch-orthodoxen Kirche und fand Halt in ihrem Glauben. Die Briefe, die sie in dieser Situation an ihre Mutter schrieb, sind erschütternd; sie wurden bereits 1993 publiziert.
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•NEUER BEITRAG22.12.2022, 02:09 Uhr
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Zur Geschichte der 'Roten Kapelle'
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Suche nach Wahrheit?
In nahezu allen Neuerscheinungen der vergangenen Jahre wird darauf hingewiesen, dass eine historisch korrekte Bewertung der »Roten Kapelle« erst neuerdings möglich sei. So heißt es in der Werbung für den Dokumentarfilm »Die Rote Kapelle. Das verdrängte Widerstandsnetz« von Carl-Ludwig Rettinger (2021): »Während in der BRD ehemalige Gestapo-Leute die Rote Kapelle als kommunistisches Spionagenetzwerk diskreditierten, vereinnahmte in der DDR die Staatssicherheit das angeblich kommunistische Netzwerk für ihre Zwecke. So wurde das Andenken der Roten Kapelle historisch verfälscht. Erst heute, auf Basis aktueller historischer Recherchen, kann die dramatische Geschichte (…) umfassend erzählt werden.«³
Stefan Roloff hat in einem handlichen, journalistisch geschriebenen Sachbuch – ausgehend von der Geschichte seines Vaters – einen guten Überblick zum Thema gegeben.⁴ Er hat sich dabei auf die Materialsammlung der GDW, aber auch auf eigene Forschungen und umfangreiche Befragungen gestützt. Eines der letzten Kapitel seines Buchs ist den »Mythen von der Roten Kapelle« gewidmet, darin kritisiert er zunächst die westdeutschen Publikationen, darunter die zehnteilige Serie »Rote Agenten unter uns« im Stern von 1951. In »Ostdeutschland« sei es jedoch auch nicht besser gewesen; dort habe bald darauf eine ähnliche Entwicklung eingesetzt. Der DDR habe das Bild einer »Spionagegruppe« »genauso ins Konzept« gepasst, »nur stellte sie die Angehörigen der Roten Kapelle nicht als Verräter, sondern als heldenhafte ›Kundschafter des Volkes‹ dar, die unter Führung der KPD geholfen hätten, für die Sowjetunion eine Friedensmission zu erfüllen«.⁵
In der maßgeblichen »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« der DDR wurde die »Rote Kapelle« als »eine der größten Widerstandsorganisationen unter Leitung der KPD« hervorgehoben. Das Ministerium für Staatssicherheit habe gar die »Kundschaftertätigkeit für die Sowjetunion« als die »höchste Form des antifaschistische Widerstandskampfes« gerühmt und dem KGB vorgeschlagen, die Aktivisten der »Roten Kapelle« mit sowjetischen Orden auszuzeichnen.⁶ Damit, so Roloff, sei »das Gestapo-Konstrukt einer kommunistischen Spionageorganisation unter einem anderen Vorzeichen übernommen« worden.
Die negative Konnotierung der DDR-Forschung und -Propaganda ist Grundbestandteil der Gedenkstättenpädagogik der GDW. In der Spiegel-Rezension zur kürzlich erschienenen Mildred-Harnack-Biographie von Rebecca Donner wird die Auffassung des Gedenkstättenleiters Tuchel wie folgt zusammengefasst: »Schon die Nazis und später die DDR-Geschichtsschreibung hätten Mythen um Mildred Harnack und die Rote Kapelle gestrickt, um die Widerstandsgruppe jeweils auf ihre Weise für sich zu instrumentalisieren.«⁷
Das ist schon semantisch falsch, denn was auch immer man von der historischen Forschung der DDR halten mag – die Nazis haben ihre Gegner nicht »instrumentalisiert«, sie haben sie ermordet.
Indoktrination
Die GDW konnte ihre Sichtweise zu diesem Thema mit Hilfe ihres Apparats, diverser Publikationen und Veranstaltungen in den vergangenen Jahren sukzessive in weiten Kreisen durchsetzen, vor allem auch bei Forschern, die von ihr unterstützt wurden. So veröffentlichte die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Anne Nelson 2010 ein Buch über die »Rote Kapelle«, in dem sie unter anderem erläutert, dass das Ministerium für Staatssicherheit die Widerstandsgruppen als historisches Vorbild auch für das eigene geheimdienstliche Tun lanciert und zu diesem Zweck die Fakten manipuliert habe.
Die Geschichtsredakteurin der mit Rücksicht auf ihre Leserschaft eher DDR-freundlichen Berliner Zeitung titelte nach einem Besuch in der Gedenkstätte im August dieses Jahres: »Im Osten benutzt, im Westen gehasst: Die wahre Geschichte der Roten Kapelle«. In ihrem Artikel resümiert Maritta Tkalec die DDR-Perspektive: »Hier wurde die Rote Kapelle zur straff organisierten, kommunistisch gelenkten, von der Sowjetunion gesteuerten Widerstandsorganisation umdefiniert, die eifrig Geheiminformationen nach Moskau funkte. Umflort mit emotional starker Propaganda wie in dem Defa-Film ›KLK an PTX – die Rote Kapelle‹, der 1971 Premiere hatte und mit frei erfundenen Geschichten aufwartete, machte sie durchaus Effekt, auch auf die Autorin dieses Textes.« Sie zitiert Tuchel mit den Worten: »Das Funken hat nicht geklappt, aber Ost wie West brauchten das Senden als Teil der jeweiligen Legende.«⁸
Das Negieren oder Verharmlosen der Kontakte mehrerer Kämpfer der »Roten Kapelle« zur Sowjetunion bzw. zu sowjetischen Geheimdiensten gehört zu den Grundbestandteilen des derzeitigen Gedenkstättenkonzepts, was sich auch an der Hauptausstellung der GDW ablesen lässt.⁹ Dass »das Funken nicht geklappt hat«, trifft übrigens so allgemein nicht zu.
Dem GDW-Mitarbeiter Hans Coppi wurde bei seinem Besuch Anfang der 1990er Jahre in einem Moskauer Archiv zwar nur ein einziger, nichtssagender Probefunkspruch seines Vaters vom 21. Juni 1941 vorgelegt. Diese Tatsache gilt als Beweis dafür, dass es keine weiteren Funkmeldungen aus Berlin gegeben habe. Ebenso hartnäckig wird immer wieder darauf verwiesen, dass mindestens zwei der gelieferten Funkgeräte versagt hätten – ohne zu erwähnen, dass die Gruppen unter anderem mit Karl Böhme, Fritz Thiel und Helmut Marquart über fähige und begeisterte Techniker und Bastler verfügten. Der Überlebende Marquart hat in der DDR detailliert über seine Reparaturen der defekten Funkgeräte berichtet, die sich vor allem wegen der schwer zu beschaffenden Ersatzteile aufwendig gestalteten.¹⁰ Für eine endgültige Bilanz der in Moskau eingetroffenen Funksprüche bedürfte es einer umfassenden Offenlegung der entsprechenden sowjetischen Geheimdienstakten, mit der in nächster Zeit und angesichts der gegenwärtigen Kriegslage auf lange Sicht nicht zu rechnen ist.
In seinem neuen Buch über Liane Berkowitz hat Johannes Tuchel den Kontakten Harnacks und Schulze-Boysens zum sowjetischen Geheimdienst etwas mehr Platz einräumen müssen, als das in der GDW-Ausstellung der Fall ist. Er beschränkt sich dabei allerdings auf eine Kurzfassung, die er als »Fakten hinter der Legende« ankündigt: »Durch seine Tätigkeit 1930/31 für die Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft (Arplan) besaß Arvid Harnack lockere Verbindungen zur sowjetischen Handelsvertretung und Botschaft in Berlin. Gleichzeitig verstand es Harnack, über seine Frau Mildred gute Beziehungen zur US-amerikanischen Botschaft in Berlin zu knüpfen.«¹¹
Durch diese Wortwahl wird suggeriert, dass die Beziehungen zu den Amerikanern besser als die zu den Sowjets gewesen seien, was nur insofern zutrifft, als Mildred Harnack als US-Amerikanerin gern Umgang mit Landsleuten pflegte, und zwar insbesondere mit Martha Dodd, der Tochter des im Sommer 1933 eingesetzten US-amerikanischen Botschafters in Berlin. Dodd wurde durch ihre Freundschaft mit den Harnacks alsbald selbst zur überzeugten Kommunistin und verpflichtete sich dem sowjetischen Geheimdienst. Später freundeten sich die Harnacks mit dem Diplomaten Donald Heath und dessen Ehefrau an.
Tuchel nennt nur einige wenige der von Harnack und Harro Schulze-Boysen bis 1941 an die Sowjetunion übermittelten Nachrichten.¹² Selbst in Rebecca Donners romanhafter Biographie findet sich eine vollständigere Übersicht – mit Faksimile eines sowjetischen Geheimdienstdokuments –, aus der zudem hervorgeht, dass Arvid Harnack Kollegen und Bekannte »abgeschöpft« hat.¹³ Harnack und Schulze-Boysen hätten Mitte Juni 1941 jeweils einen Funkschlüssel und 8.000 Reichsmark von einem sowjetischen Kontaktmann erhalten, so Tuchel. Hans Coppi seien zwei Funkgeräte ausgehändigt worden, die nach kurzer Zeit defekt gewesen seien – nichtsdestotrotz funkte er, wie erwähnt, am 21. Juni.
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In nahezu allen Neuerscheinungen der vergangenen Jahre wird darauf hingewiesen, dass eine historisch korrekte Bewertung der »Roten Kapelle« erst neuerdings möglich sei. So heißt es in der Werbung für den Dokumentarfilm »Die Rote Kapelle. Das verdrängte Widerstandsnetz« von Carl-Ludwig Rettinger (2021): »Während in der BRD ehemalige Gestapo-Leute die Rote Kapelle als kommunistisches Spionagenetzwerk diskreditierten, vereinnahmte in der DDR die Staatssicherheit das angeblich kommunistische Netzwerk für ihre Zwecke. So wurde das Andenken der Roten Kapelle historisch verfälscht. Erst heute, auf Basis aktueller historischer Recherchen, kann die dramatische Geschichte (…) umfassend erzählt werden.«³
Stefan Roloff hat in einem handlichen, journalistisch geschriebenen Sachbuch – ausgehend von der Geschichte seines Vaters – einen guten Überblick zum Thema gegeben.⁴ Er hat sich dabei auf die Materialsammlung der GDW, aber auch auf eigene Forschungen und umfangreiche Befragungen gestützt. Eines der letzten Kapitel seines Buchs ist den »Mythen von der Roten Kapelle« gewidmet, darin kritisiert er zunächst die westdeutschen Publikationen, darunter die zehnteilige Serie »Rote Agenten unter uns« im Stern von 1951. In »Ostdeutschland« sei es jedoch auch nicht besser gewesen; dort habe bald darauf eine ähnliche Entwicklung eingesetzt. Der DDR habe das Bild einer »Spionagegruppe« »genauso ins Konzept« gepasst, »nur stellte sie die Angehörigen der Roten Kapelle nicht als Verräter, sondern als heldenhafte ›Kundschafter des Volkes‹ dar, die unter Führung der KPD geholfen hätten, für die Sowjetunion eine Friedensmission zu erfüllen«.⁵
In der maßgeblichen »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« der DDR wurde die »Rote Kapelle« als »eine der größten Widerstandsorganisationen unter Leitung der KPD« hervorgehoben. Das Ministerium für Staatssicherheit habe gar die »Kundschaftertätigkeit für die Sowjetunion« als die »höchste Form des antifaschistische Widerstandskampfes« gerühmt und dem KGB vorgeschlagen, die Aktivisten der »Roten Kapelle« mit sowjetischen Orden auszuzeichnen.⁶ Damit, so Roloff, sei »das Gestapo-Konstrukt einer kommunistischen Spionageorganisation unter einem anderen Vorzeichen übernommen« worden.
Die negative Konnotierung der DDR-Forschung und -Propaganda ist Grundbestandteil der Gedenkstättenpädagogik der GDW. In der Spiegel-Rezension zur kürzlich erschienenen Mildred-Harnack-Biographie von Rebecca Donner wird die Auffassung des Gedenkstättenleiters Tuchel wie folgt zusammengefasst: »Schon die Nazis und später die DDR-Geschichtsschreibung hätten Mythen um Mildred Harnack und die Rote Kapelle gestrickt, um die Widerstandsgruppe jeweils auf ihre Weise für sich zu instrumentalisieren.«⁷
Das ist schon semantisch falsch, denn was auch immer man von der historischen Forschung der DDR halten mag – die Nazis haben ihre Gegner nicht »instrumentalisiert«, sie haben sie ermordet.
Indoktrination
Die GDW konnte ihre Sichtweise zu diesem Thema mit Hilfe ihres Apparats, diverser Publikationen und Veranstaltungen in den vergangenen Jahren sukzessive in weiten Kreisen durchsetzen, vor allem auch bei Forschern, die von ihr unterstützt wurden. So veröffentlichte die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Anne Nelson 2010 ein Buch über die »Rote Kapelle«, in dem sie unter anderem erläutert, dass das Ministerium für Staatssicherheit die Widerstandsgruppen als historisches Vorbild auch für das eigene geheimdienstliche Tun lanciert und zu diesem Zweck die Fakten manipuliert habe.
Die Geschichtsredakteurin der mit Rücksicht auf ihre Leserschaft eher DDR-freundlichen Berliner Zeitung titelte nach einem Besuch in der Gedenkstätte im August dieses Jahres: »Im Osten benutzt, im Westen gehasst: Die wahre Geschichte der Roten Kapelle«. In ihrem Artikel resümiert Maritta Tkalec die DDR-Perspektive: »Hier wurde die Rote Kapelle zur straff organisierten, kommunistisch gelenkten, von der Sowjetunion gesteuerten Widerstandsorganisation umdefiniert, die eifrig Geheiminformationen nach Moskau funkte. Umflort mit emotional starker Propaganda wie in dem Defa-Film ›KLK an PTX – die Rote Kapelle‹, der 1971 Premiere hatte und mit frei erfundenen Geschichten aufwartete, machte sie durchaus Effekt, auch auf die Autorin dieses Textes.« Sie zitiert Tuchel mit den Worten: »Das Funken hat nicht geklappt, aber Ost wie West brauchten das Senden als Teil der jeweiligen Legende.«⁸
Das Negieren oder Verharmlosen der Kontakte mehrerer Kämpfer der »Roten Kapelle« zur Sowjetunion bzw. zu sowjetischen Geheimdiensten gehört zu den Grundbestandteilen des derzeitigen Gedenkstättenkonzepts, was sich auch an der Hauptausstellung der GDW ablesen lässt.⁹ Dass »das Funken nicht geklappt hat«, trifft übrigens so allgemein nicht zu.
Dem GDW-Mitarbeiter Hans Coppi wurde bei seinem Besuch Anfang der 1990er Jahre in einem Moskauer Archiv zwar nur ein einziger, nichtssagender Probefunkspruch seines Vaters vom 21. Juni 1941 vorgelegt. Diese Tatsache gilt als Beweis dafür, dass es keine weiteren Funkmeldungen aus Berlin gegeben habe. Ebenso hartnäckig wird immer wieder darauf verwiesen, dass mindestens zwei der gelieferten Funkgeräte versagt hätten – ohne zu erwähnen, dass die Gruppen unter anderem mit Karl Böhme, Fritz Thiel und Helmut Marquart über fähige und begeisterte Techniker und Bastler verfügten. Der Überlebende Marquart hat in der DDR detailliert über seine Reparaturen der defekten Funkgeräte berichtet, die sich vor allem wegen der schwer zu beschaffenden Ersatzteile aufwendig gestalteten.¹⁰ Für eine endgültige Bilanz der in Moskau eingetroffenen Funksprüche bedürfte es einer umfassenden Offenlegung der entsprechenden sowjetischen Geheimdienstakten, mit der in nächster Zeit und angesichts der gegenwärtigen Kriegslage auf lange Sicht nicht zu rechnen ist.
In seinem neuen Buch über Liane Berkowitz hat Johannes Tuchel den Kontakten Harnacks und Schulze-Boysens zum sowjetischen Geheimdienst etwas mehr Platz einräumen müssen, als das in der GDW-Ausstellung der Fall ist. Er beschränkt sich dabei allerdings auf eine Kurzfassung, die er als »Fakten hinter der Legende« ankündigt: »Durch seine Tätigkeit 1930/31 für die Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft (Arplan) besaß Arvid Harnack lockere Verbindungen zur sowjetischen Handelsvertretung und Botschaft in Berlin. Gleichzeitig verstand es Harnack, über seine Frau Mildred gute Beziehungen zur US-amerikanischen Botschaft in Berlin zu knüpfen.«¹¹
Durch diese Wortwahl wird suggeriert, dass die Beziehungen zu den Amerikanern besser als die zu den Sowjets gewesen seien, was nur insofern zutrifft, als Mildred Harnack als US-Amerikanerin gern Umgang mit Landsleuten pflegte, und zwar insbesondere mit Martha Dodd, der Tochter des im Sommer 1933 eingesetzten US-amerikanischen Botschafters in Berlin. Dodd wurde durch ihre Freundschaft mit den Harnacks alsbald selbst zur überzeugten Kommunistin und verpflichtete sich dem sowjetischen Geheimdienst. Später freundeten sich die Harnacks mit dem Diplomaten Donald Heath und dessen Ehefrau an.
Tuchel nennt nur einige wenige der von Harnack und Harro Schulze-Boysen bis 1941 an die Sowjetunion übermittelten Nachrichten.¹² Selbst in Rebecca Donners romanhafter Biographie findet sich eine vollständigere Übersicht – mit Faksimile eines sowjetischen Geheimdienstdokuments –, aus der zudem hervorgeht, dass Arvid Harnack Kollegen und Bekannte »abgeschöpft« hat.¹³ Harnack und Schulze-Boysen hätten Mitte Juni 1941 jeweils einen Funkschlüssel und 8.000 Reichsmark von einem sowjetischen Kontaktmann erhalten, so Tuchel. Hans Coppi seien zwei Funkgeräte ausgehändigt worden, die nach kurzer Zeit defekt gewesen seien – nichtsdestotrotz funkte er, wie erwähnt, am 21. Juni.
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KLK an PTX
Tatsächlich waren die Meldungen aus Berlin im Sommer 1941 für den sowjetischen Geheimdienst so unbefriedigend, dass der »Direktor« Ende August den Pariser Leiter des Agentennetzes, Leopold Trepper, anwies, jemanden nach Berlin zu schicken. Ende Oktober traf dann tatsächlich »Kent« (Anatoli Gurewitsch) in Berlin ein und ließ sich von Harnack und Schulze-Boysen mit den neuesten militärischen Nachrichten versorgen, die später nach Moskau gefunkt wurden.
Die Verbindungen der Berliner Widerstandskreise zu den Kollegen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden wurden von der deutschen Abwehr, von der Gestapo und von den Justizbehörden der Nazis als Indizien dafür gesehen, dass hier ein europaweites sowjetisches Agentennetz aktiv war, das dann unter dem Namen »Rote Kapelle« erfasst wurde. Aus Sicht der Verfolger wie auch aus Sicht der Betreiber, nämlich des Geheimdiensts der UdSSR, war dieser Zusammenhang faktisch gegeben, was sich logischerweise auf die Geschichtsschreibung beider Seiten (zum einen in der Bundesrepublik, zum anderen in der Sowjetunion und den von ihr abhängigen Staaten) ausgewirkt hat. Die Verfolgten, die in vielen Fällen nicht in die Kontakte zur Sowjetunion eingeweiht waren, erfuhren davon oft erst nach ihrer Verhaftung. Weder Schulze-Boysen noch Harnack sahen sich selbst als sowjetische Agenten; sie wollten ihre Autonomie gewahrt wissen und entwickelten eigene Pläne. Für sie und ihre Mitstreiter stand der Widerstand gegen das verhasste faschistische Regime im Vordergrund, wobei nicht wenige von ihnen mit dem sowjetischen Modell sympathisierten. Übrigens gab sich auch Leopold Trepper in seinen Memoiren davon überzeugt, dass er und seine Mitarbeiter in erster Linie den Faschismus bekämpft hatten.¹⁴
Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand macht in ihrer Öffentlichkeitsarbeit und ihren Publikationen am liebsten einen großen Bogen um die westeuropäische »Rote Kapelle«. Das 2015 erschienene Standardwerk »La véritable histoire de l’Orchestre rouge« des französischen Historikers Guillaume Bourgeois wurde in der GDW – anders als das Buch von Anne Nelson – nicht einmal öffentlich vorgestellt.¹⁵ Bourgeois hat die von Leopold Trepper betriebene beschönigende Selbstdarstellung als »Grand chef« der »Roten Kapelle« korrigiert und auf die Bedeutung eines hierzulande nahezu unbekannten Protagonisten der Organisation hingewiesen: Henry Robinson, der seine Netze bis in die Schweiz und nach Italien geknüpft hatte und anders als Trepper sein Leben nicht auf Kosten seiner Mitarbeiter zu retten versuchte. Er wurde 1944 von den Nazis ermordet. Robinsons Lebensgefährtin war die Deutsche Klara Schabbel, die im Zusammenhang mit den Verhaftungen innerhalb der »Roten Kapelle« in Berlin gefasst und 1943 hingerichtet wurde. Der gemeinsame Sohn Leo war als Kurier eingesetzt worden, wurde ebenfalls festgenommen, kam jedoch mit dem Leben davon und lebte später in der DDR. 1995 konnte Bourgeois noch mit ihm sprechen.
Personae non gratae
Solche personellen Verknüpfungen zwischen den Widerstands- und Kundschafternetzen Deutschlands und Westeuropas werden von der GDW prinzipiell ignoriert. Die ehemaligen Artisten Käte Voelkner und Johann Podsiadlo waren ebenfalls für die »Rote Kapelle« in Frankreich tätig. Darüber hat ihr Sohn Hans Voelkner später das Buch »Salto mortale. Vom Rampenlicht zur unsichtbaren Front« (DDR 1989) veröffentlicht. Johann Wenzel, der 1969 in der DDR starb, war einer der wichtigsten Funker Treppers und trug unwillentlich zum Auffliegen der Berliner Gruppen bei. Der Bruder von Lotte Ulbricht, Bruno Kühn, war noch im September 1942 von Moskau für einen Einsatz in Deutschland vorgesehen, schloss sich dann jedoch einer Gruppe in Amsterdam an und wurde verhaftet. Die Umstände seines Todes waren lange ungeklärt. Guillaume Bourgeois geht davon aus, dass er am 6. Juli 1944 in Schaerbeek (Belgien) zusammen mit dem Holländer Anton Winterink erschossen wurde. Es gab also Deutsche, die für die »Rote Kapelle« in Westeuropa tätig waren, und es ist nicht fair, sie auszusortieren, weil sie nicht ins offizielle Bild passen.
In seinem Dokumentarfilm über die »Rote Kapelle«, der im vergangenen Jahr in die Kinos kam, hat sich Carl-Ludwig Rettinger großzügig oder, wenn man so will, unverschämt über diese ideologischen Vorgaben der GDW hinweggesetzt. Er hat sowohl die Berliner als auch die westeuropäischen Gruppen besprochen und besonders die jüdisch-polnische Widerstandskämpferin Zofia »Sophia« Poznanska gewürdigt, die sich im Brüsseler Gefängnis das Leben nahm, um ihre Genossen nicht zu verraten. Er hat auch Guillaume Bourgeois befragt, dessen Kritik an Leopold Trepper er allerdings nicht zitiert. Ebensowenig ließ er zu, dass Hans Coppi seine Auffassungen – die mit der Lehrmeinung der GDW übereinstimmen – im Film ausführlich vortrug. Offenbar ist Rettinger ausschließlich seinen eigenen, aus der Lektüre vor allem früherer westlicher Publikationen gewonnenen Vorstellungen von der »Roten Kapelle« gefolgt. Einige Interviewpartner in seinem Film ließ er gewissermaßen wie Marionetten agieren, von denen er nur die Sätze zitierte, die in sein Drehbuch zu passen schienen. Den Rezensenten ist das nicht aufgefallen.
Ein weiteres Tabu für die Gedenkstättenarbeit ist die Mitgliedschaft etlicher der beteiligten Männer und Frauen in der Kommunistischen Partei. Das Kürzel KPD kommt in den Publikationen vor allem im Zusammenhang mit der verabscheuten DDR-Historiographie vor, ist also negativ konnotiert. Dabei spielten KPD-Funktionäre wie Wilhelm Guddorf, Philipp Schaeffer und John Sieg in der »Roten Kapelle« eine wichtige Rolle. Charlotte Bischoff, die später in der DDR lebte, ist als zentrale Persönlichkeit aus Peter Weiss’ Roman »Die Ästhetik des Widerstands« bekannt. Sie wurde von der Auslandsleitung der KPD 1941 von Schweden aus nach Berlin geschickt und arbeitete dort an der illegalen Zeitschrift Die innere Front mit.
Die folgende Aufzählung ist unvollständig, aber Arvid Harnack, John Graudenz, Kurt Schumacher, Walter Küchenmeister, Jan Bontjes van Beek, Walter und Marta Husemann, die ganze Familie Coppi, Ilse Schaeffer, Sophie Sieg, Ursula Goetze, Klara Schabbel, Herbert Grasse, Karl Böhme, Kurt Schulze, Fritz Thiel, Wolfgang Thiess, Ernst Happach, Martin Weise, die Familie Hübner-Wesolek, Wilhelm Schürmann-Horster, Heinrich Scheel und Heinz Strelow hatten entweder der KPD oder dem Kommunistischen Jugendverband angehört. Der Prozentsatz der Parteimitglieder in der »Roten Kapelle« lag zwischen 20 und 30 Prozent. Ilse Stöbe, die Kuckhoffs, Günther Weisenborn und andere standen der KPD nahe. Viele der Überlebenden traten nach dem Krieg der KPD bzw. der SED bei. Sämtlich Kommunisten waren die als »Fallschirmspringer« von der Sowjetunion nach Deutschland geschickten Männer und Frauen.
Damit war die KPD diejenige Partei, die objektiv den größten Einfluss auf die Widerstandskämpfer der »Roten Kapelle« hatte. Fast alle teilten eine positive Einstellung zur Sowjetunion. So machte Harro Schulze-Boysen in seinen Briefen an seinen Vater bis 1942 keinen Hehl aus seiner Bewunderung für die sowjetische Außenpolitik.¹⁶
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KLK an PTX
Tatsächlich waren die Meldungen aus Berlin im Sommer 1941 für den sowjetischen Geheimdienst so unbefriedigend, dass der »Direktor« Ende August den Pariser Leiter des Agentennetzes, Leopold Trepper, anwies, jemanden nach Berlin zu schicken. Ende Oktober traf dann tatsächlich »Kent« (Anatoli Gurewitsch) in Berlin ein und ließ sich von Harnack und Schulze-Boysen mit den neuesten militärischen Nachrichten versorgen, die später nach Moskau gefunkt wurden.
Die Verbindungen der Berliner Widerstandskreise zu den Kollegen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden wurden von der deutschen Abwehr, von der Gestapo und von den Justizbehörden der Nazis als Indizien dafür gesehen, dass hier ein europaweites sowjetisches Agentennetz aktiv war, das dann unter dem Namen »Rote Kapelle« erfasst wurde. Aus Sicht der Verfolger wie auch aus Sicht der Betreiber, nämlich des Geheimdiensts der UdSSR, war dieser Zusammenhang faktisch gegeben, was sich logischerweise auf die Geschichtsschreibung beider Seiten (zum einen in der Bundesrepublik, zum anderen in der Sowjetunion und den von ihr abhängigen Staaten) ausgewirkt hat. Die Verfolgten, die in vielen Fällen nicht in die Kontakte zur Sowjetunion eingeweiht waren, erfuhren davon oft erst nach ihrer Verhaftung. Weder Schulze-Boysen noch Harnack sahen sich selbst als sowjetische Agenten; sie wollten ihre Autonomie gewahrt wissen und entwickelten eigene Pläne. Für sie und ihre Mitstreiter stand der Widerstand gegen das verhasste faschistische Regime im Vordergrund, wobei nicht wenige von ihnen mit dem sowjetischen Modell sympathisierten. Übrigens gab sich auch Leopold Trepper in seinen Memoiren davon überzeugt, dass er und seine Mitarbeiter in erster Linie den Faschismus bekämpft hatten.¹⁴
Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand macht in ihrer Öffentlichkeitsarbeit und ihren Publikationen am liebsten einen großen Bogen um die westeuropäische »Rote Kapelle«. Das 2015 erschienene Standardwerk »La véritable histoire de l’Orchestre rouge« des französischen Historikers Guillaume Bourgeois wurde in der GDW – anders als das Buch von Anne Nelson – nicht einmal öffentlich vorgestellt.¹⁵ Bourgeois hat die von Leopold Trepper betriebene beschönigende Selbstdarstellung als »Grand chef« der »Roten Kapelle« korrigiert und auf die Bedeutung eines hierzulande nahezu unbekannten Protagonisten der Organisation hingewiesen: Henry Robinson, der seine Netze bis in die Schweiz und nach Italien geknüpft hatte und anders als Trepper sein Leben nicht auf Kosten seiner Mitarbeiter zu retten versuchte. Er wurde 1944 von den Nazis ermordet. Robinsons Lebensgefährtin war die Deutsche Klara Schabbel, die im Zusammenhang mit den Verhaftungen innerhalb der »Roten Kapelle« in Berlin gefasst und 1943 hingerichtet wurde. Der gemeinsame Sohn Leo war als Kurier eingesetzt worden, wurde ebenfalls festgenommen, kam jedoch mit dem Leben davon und lebte später in der DDR. 1995 konnte Bourgeois noch mit ihm sprechen.
Personae non gratae
Solche personellen Verknüpfungen zwischen den Widerstands- und Kundschafternetzen Deutschlands und Westeuropas werden von der GDW prinzipiell ignoriert. Die ehemaligen Artisten Käte Voelkner und Johann Podsiadlo waren ebenfalls für die »Rote Kapelle« in Frankreich tätig. Darüber hat ihr Sohn Hans Voelkner später das Buch »Salto mortale. Vom Rampenlicht zur unsichtbaren Front« (DDR 1989) veröffentlicht. Johann Wenzel, der 1969 in der DDR starb, war einer der wichtigsten Funker Treppers und trug unwillentlich zum Auffliegen der Berliner Gruppen bei. Der Bruder von Lotte Ulbricht, Bruno Kühn, war noch im September 1942 von Moskau für einen Einsatz in Deutschland vorgesehen, schloss sich dann jedoch einer Gruppe in Amsterdam an und wurde verhaftet. Die Umstände seines Todes waren lange ungeklärt. Guillaume Bourgeois geht davon aus, dass er am 6. Juli 1944 in Schaerbeek (Belgien) zusammen mit dem Holländer Anton Winterink erschossen wurde. Es gab also Deutsche, die für die »Rote Kapelle« in Westeuropa tätig waren, und es ist nicht fair, sie auszusortieren, weil sie nicht ins offizielle Bild passen.
In seinem Dokumentarfilm über die »Rote Kapelle«, der im vergangenen Jahr in die Kinos kam, hat sich Carl-Ludwig Rettinger großzügig oder, wenn man so will, unverschämt über diese ideologischen Vorgaben der GDW hinweggesetzt. Er hat sowohl die Berliner als auch die westeuropäischen Gruppen besprochen und besonders die jüdisch-polnische Widerstandskämpferin Zofia »Sophia« Poznanska gewürdigt, die sich im Brüsseler Gefängnis das Leben nahm, um ihre Genossen nicht zu verraten. Er hat auch Guillaume Bourgeois befragt, dessen Kritik an Leopold Trepper er allerdings nicht zitiert. Ebensowenig ließ er zu, dass Hans Coppi seine Auffassungen – die mit der Lehrmeinung der GDW übereinstimmen – im Film ausführlich vortrug. Offenbar ist Rettinger ausschließlich seinen eigenen, aus der Lektüre vor allem früherer westlicher Publikationen gewonnenen Vorstellungen von der »Roten Kapelle« gefolgt. Einige Interviewpartner in seinem Film ließ er gewissermaßen wie Marionetten agieren, von denen er nur die Sätze zitierte, die in sein Drehbuch zu passen schienen. Den Rezensenten ist das nicht aufgefallen.
Ein weiteres Tabu für die Gedenkstättenarbeit ist die Mitgliedschaft etlicher der beteiligten Männer und Frauen in der Kommunistischen Partei. Das Kürzel KPD kommt in den Publikationen vor allem im Zusammenhang mit der verabscheuten DDR-Historiographie vor, ist also negativ konnotiert. Dabei spielten KPD-Funktionäre wie Wilhelm Guddorf, Philipp Schaeffer und John Sieg in der »Roten Kapelle« eine wichtige Rolle. Charlotte Bischoff, die später in der DDR lebte, ist als zentrale Persönlichkeit aus Peter Weiss’ Roman »Die Ästhetik des Widerstands« bekannt. Sie wurde von der Auslandsleitung der KPD 1941 von Schweden aus nach Berlin geschickt und arbeitete dort an der illegalen Zeitschrift Die innere Front mit.
Die folgende Aufzählung ist unvollständig, aber Arvid Harnack, John Graudenz, Kurt Schumacher, Walter Küchenmeister, Jan Bontjes van Beek, Walter und Marta Husemann, die ganze Familie Coppi, Ilse Schaeffer, Sophie Sieg, Ursula Goetze, Klara Schabbel, Herbert Grasse, Karl Böhme, Kurt Schulze, Fritz Thiel, Wolfgang Thiess, Ernst Happach, Martin Weise, die Familie Hübner-Wesolek, Wilhelm Schürmann-Horster, Heinrich Scheel und Heinz Strelow hatten entweder der KPD oder dem Kommunistischen Jugendverband angehört. Der Prozentsatz der Parteimitglieder in der »Roten Kapelle« lag zwischen 20 und 30 Prozent. Ilse Stöbe, die Kuckhoffs, Günther Weisenborn und andere standen der KPD nahe. Viele der Überlebenden traten nach dem Krieg der KPD bzw. der SED bei. Sämtlich Kommunisten waren die als »Fallschirmspringer« von der Sowjetunion nach Deutschland geschickten Männer und Frauen.
Damit war die KPD diejenige Partei, die objektiv den größten Einfluss auf die Widerstandskämpfer der »Roten Kapelle« hatte. Fast alle teilten eine positive Einstellung zur Sowjetunion. So machte Harro Schulze-Boysen in seinen Briefen an seinen Vater bis 1942 keinen Hehl aus seiner Bewunderung für die sowjetische Außenpolitik.¹⁶
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•NEUER BEITRAG22.12.2022, 02:18 Uhr
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Kein objektiver Standpunkt
Diese Tatsachen spielen in der bisherigen Forschung und in den Publikationen der GDW nur eine untergeordnete Rolle, wenn sie nicht gleich ganz ignoriert werden. Die Protagonistinnen und Protagonisten des antifaschistischen Widerstands sind in diesem Sinne entgratete Helden; ihre Ecken und Kanten sind abgeschliffen, damit sie ins aktuelle Geschichtsbild passen. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, sie zu erwähnen, werden kommunistische und prosowjetische Positionen verharmlost. Demnach bleibt festzuhalten: Bezüglich Dogmatismus, Tabus, verkürzender und verfälschender Darstellungen und ideologischer Einseitigkeit hat die Gedenkstätte Deutscher Widerstand der Geschichtsschreibung der DDR solange keine Vorwürfe zu machen, wie sie sich nicht selbst auf einen objektiven Standpunkt zu stellen vermag.
Anmerkungen
1 Stefan Roloff: Zeitzeugnisse. Überlebende der Roten Kapelle sprechen. Begleitband zur Ausstellung, hg. v. der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2022, S. 74
2 Johannes Tuchel: »… wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben.« Liane Berkowitz, Friedrich Rehmer und die Widerstandsaktionen der Berliner Roten Kapelle, Berlin 2022
3 Link ...jetzt anmelden!
4 Stefan Roloff: Die Rote Kapelle. Die Widerstandsgruppe im Dritten Reich und die Geschichte Helmut Roloffs, München 2004
5 Ebd., S. 339 f.
6 Ebd., S. 341
7 Der Spiegel 38/2022, S. 129
8 Maritta Tkalec, Berliner Zeitung, 28.8.2022
9 Siehe Link ...jetzt anmelden!
10 Julius Mader: Die Rote Kapelle, Berlin (DDR) 1979, S. 246 ff.
11 Tuchel, a. a. O., S. 24
12 Ebd., S. 26
13 Rebecca Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler, Berlin 2022, Kapitel »Soja Iwanowna Rybkinas elfseitige Aufstellung«. Siehe zu dem Buch: Cristina Fischer: Eine Amerikanerin gegen Hitler, junge Welt, 22.10.2022
14 Leopold Trepper: Die Wahrheit, München 1975
15 Guillaume Bourgeois: La véritable histoire de l’Orchestre rouge, Paris 2015
16 Geertje Andresen; Hans Coppi (Hg.): Dieser Tod passt zu mir. Harro Schulze-Boysen, Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915–1942, Berlin 1999
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Kein objektiver Standpunkt
Diese Tatsachen spielen in der bisherigen Forschung und in den Publikationen der GDW nur eine untergeordnete Rolle, wenn sie nicht gleich ganz ignoriert werden. Die Protagonistinnen und Protagonisten des antifaschistischen Widerstands sind in diesem Sinne entgratete Helden; ihre Ecken und Kanten sind abgeschliffen, damit sie ins aktuelle Geschichtsbild passen. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, sie zu erwähnen, werden kommunistische und prosowjetische Positionen verharmlost. Demnach bleibt festzuhalten: Bezüglich Dogmatismus, Tabus, verkürzender und verfälschender Darstellungen und ideologischer Einseitigkeit hat die Gedenkstätte Deutscher Widerstand der Geschichtsschreibung der DDR solange keine Vorwürfe zu machen, wie sie sich nicht selbst auf einen objektiven Standpunkt zu stellen vermag.
Anmerkungen
1 Stefan Roloff: Zeitzeugnisse. Überlebende der Roten Kapelle sprechen. Begleitband zur Ausstellung, hg. v. der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2022, S. 74
2 Johannes Tuchel: »… wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben.« Liane Berkowitz, Friedrich Rehmer und die Widerstandsaktionen der Berliner Roten Kapelle, Berlin 2022
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4 Stefan Roloff: Die Rote Kapelle. Die Widerstandsgruppe im Dritten Reich und die Geschichte Helmut Roloffs, München 2004
5 Ebd., S. 339 f.
6 Ebd., S. 341
7 Der Spiegel 38/2022, S. 129
8 Maritta Tkalec, Berliner Zeitung, 28.8.2022
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10 Julius Mader: Die Rote Kapelle, Berlin (DDR) 1979, S. 246 ff.
11 Tuchel, a. a. O., S. 24
12 Ebd., S. 26
13 Rebecca Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler, Berlin 2022, Kapitel »Soja Iwanowna Rybkinas elfseitige Aufstellung«. Siehe zu dem Buch: Cristina Fischer: Eine Amerikanerin gegen Hitler, junge Welt, 22.10.2022
14 Leopold Trepper: Die Wahrheit, München 1975
15 Guillaume Bourgeois: La véritable histoire de l’Orchestre rouge, Paris 2015
16 Geertje Andresen; Hans Coppi (Hg.): Dieser Tod passt zu mir. Harro Schulze-Boysen, Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915–1942, Berlin 1999
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•NEUER BEITRAG22.12.2022, 02:20 Uhr
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•NEUER BEITRAG22.12.2022, 02:25 Uhr
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Zur Geschichte der 'Roten Kapelle'
Und bereits am 22. Oktober in der jW:
Eine Amerikanerin gegen Hitler
Auf Spannung getrimmt: Eine neue Biographie der antifaschistischen Widerstandskämpferin Mildred Harnack verarbeitet den historischen Stoff oft leichtfertig und bedenkenlos
Von Cristina Fischer
Rebecca Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler. Kanon-Verlag, Berlin 2022, 616 S., 36 Euro (2021 erschienen unter dem Titel: All the Frequent Troubles of Our Days: The True Story of the American Woman at the Heart of the German Resistance to Hitler)
»Ich glaube, dass der Frau eine große Zukunft (be)vorsteht – größer, als jemand zu ahnen wagt. Wenn auch große Hindernisse im Weg stehen, sie wird lernen, ihr Erbe anzutreten.« (Mildred Harnack, 1942)
In seiner Besprechung der von Rebecca Donner vorgelegten neuen Biographie von Mildred Harnack (1902–1943) stellte der Literaturkritiker Denis Scheck bei WDR 3 die entgeisterte Frage: »Warum kennen wir diese Frau nicht?« Und die Moderatorin assistierte ihm mit der Behauptung: »Ihr Wirken ist irgendwie untergegangen.«¹ »Mildred a désormais une voix, un visage, un destin«, wird in der Verlagswerbung für die französische Ausgabe, die Ende dieses Monats erscheint, behauptet: »Mildred hat nunmehr eine Stimme, ein Gesicht, ein Schicksal.«
Das alles stimmt natürlich überhaupt nicht. Mildred Harnack gehört zu den bekanntesten und am besten erforschten Widerstandskämpferinnen Deutschlands. Vor 20 Jahren hat die US-Amerikanerin Shareen Blair Brysac die erste umfangreiche Biographie über sie vorgelegt.² Noch in der DDR hatte Eberhard Brüning 1988 Schriften Harnacks, darunter ihre Doktorarbeit, herausgegeben und kommentiert.³ Sein Buch und die Biographie von Brysac sind sehr gut recherchiert, fundiert, seriös und sachlich, dabei lebendig geschrieben. Die Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand hat 2007 eine Sonderausstellung über sie gezeigt, die von dem Künstler Franz Rudolf Knubel erarbeitet und gestaltet wurde. Der schöne großformatige Katalog ist noch erhältlich.⁴ Ein paar Jahre später hat Sabine Friedrich in ihrem 2012 erschienenen, vielbeachteten Roman über den deutschen Widerstand »Wer wir sind« auch über Arvid und Mildred Harnack berichtet. 2017 erschien zudem die Publikation »Mildred Harnack und die Rote Kapelle in Berlin« als Ergebnis eines Projekts von Studierenden des Fachs Politische Bildung der Universität Potsdam und der Peter-A.-Silbermann-Schule.⁵
In Berlin gibt es eine Harnackstraße, seit 2008 auch eine Mildred-Harnack-Straße. In Neukölln wurde eine beeindruckende Gedenktafel mit den Porträts von Arvid und Mildred Harnack an ihrer ehemaligen Adresse Hasenheide 61 angebracht. An ihrem letzten Wohnort in der Genthiner Straße 14 (früher Woyrschstraße) in Tiergarten wurden im Herbst 2013 in Anwesenheit des US-Botschafters Stolpersteine verlegt. In Mildreds Geburtsstadt Milwaukee trägt eine Kunstschule ihren Namen. An den Schulen im US-Bundesstaat Wisconsin wird seit 1986 ihr Geburtstag als Gedenktag begangen.
Kurz gesagt, wer sich nur irgend für den deutschen Widerstand interessiert, kommt an Mildred Harnack nicht vorbei. An der Gedenkveranstaltung zu ihrem 120. Geburtstag im September an der nach ihr benannten Schule in Berlin-Lichtenberg hat sich übrigens auch Rebecca Donner beteiligt, als sie ihr Buch in Berlin vorstellte.
Lebenswege
Mildred Fish stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sie wurde am 16. September 1902 in Milwaukee, Wisconsin, als jüngstes Kind ihrer in prekären Verhältnissen lebenden Mutter geboren. Ihr Vater war unzuverlässig, oft abwesend, er starb 1918. So lernte die Tochter bald, auf die Unabhängigkeit und Stärke von Frauen zu vertrauen: »In meiner Familie bewundere ich die innige Tapferkeit und Liebe und Klarheit, aber auch die anhaltende Energie meiner Mutter sehr«, schrieb sie später an eine Verwandte. Auch für ihre älteste Schwester empfand sie tiefen Respekt.⁶
Die Mutter, die als Sekretärin arbeitete, ermöglichte ihr den Besuch einer High School in Washington, die sie 1919 abschloss. Danach studierte sie bis 1925 Literaturwissenschaften an den Universitäten in Washington und in Madison, wo sie anschließend als Literaturdozentin zu arbeiten begann. Dort lernte sie 1926 den deutschen Juristen und Rockefeller-Stipendiaten Arvid Harnack kennen, der Nationalökonomie studierte. Beide verliebten sich und heirateten noch im selben Jahr. Mildred folgte ihrem Mann 1929 nach Deutschland.
Arvid Harnack gründete mit Friedrich Lenz in Berlin Ende 1931 die »Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft« (Arplan), im Folgejahr organisierte und leitete er eine gemeinsame Studienreise in die Sowjetunion für die Gruppe. Auch Mildred besuchte Anfang der 1930er Jahre mehrmals das erste sozialistische Land – und zwar einer dort über sie angelegten Akte zufolge, um u. a. mit dem hochrangigen Komintern-Funktionär Otto Kuusinen zu verhandeln.⁷
Von 1932 bis 1936 war sie als Englischlehrerin am Berliner Abendgymnasium (heute: Peter-A.-Silbermann-Schule) tätig. Daneben übersetzte sie Bücher aus dem Amerikanischen, wie Irving Stones Vincent-van-Gogh-Roman »Lust for Life« (dt. »Ein Leben in Leidenschaft«, 1936). Dabei halfen ihr ihre Schwiegermutter Clara Harnack und Greta Kuckhoff. In ihren Erinnerungen »Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle« (1972) hat Kuckhoff, die die Harnacks in den Staaten kennengelernt hatte, allerdings erstaunlich wenig über die Freundin berichtet. Beide Frauen gehörten zusammen mit ihren Männern einem Widerstandsnetz an, das später von der Gestapo als »Rote Kapelle« bezeichnet wurde. Greta Kuckhoff bewunderte vor allem Arvid Harnack, den sie wohl zu Recht als den intellektuellen Kopf der Gruppe charakterisierte. Mit Mildred zusammen verteilte sie antifaschistische Flugblätter und Informationsmaterial an Genossinnen und Genossen. Beide beteiligten sich auch an Schulungen und Diskussionsrunden über marxistische Literatur im Freundeskreis und versuchten, in ihrem Umfeld Sympathisanten zu finden. So konnten immer neue Männer und Frauen gewonnen werden, die sich gegen das »Dritte Reich« engagieren wollten.
Arvid Harnack war 1935 fest im Reichswirtschaftsministerium angestellt worden. 1937 wurde er Mitglied der NSDAP, um eine einflussreichere Position zu erreichen, was ihm auch gelang: 1942 wurde er zum Oberregierungsrat befördert. Seit »Arplan« hatte er Kontakt zu sowjetischen Genossen, seine profunden Wirtschaftskenntnisse waren gefragt und wurden geheimdienstlich verwertet. Nach 1933 betrachtete er seine Zuarbeit als Beitrag zum Widerstand gegen die faschistische Diktatur. Seine Tätigkeit im Ministerium war mit dem Zugang zu vertraulichen Unterlagen verbunden; so konnte er die deutschen Kriegsvorbereitungen auf ökonomischem Gebiet nachvollziehen. Seit etwa 1939 kooperierte er mit dem im Luftfahrtministerium tätigen Offizier Harro Schulze-Boysen, der streng geheime militärische Informationen beisteuerte. Auch der US-amerikanische Diplomat Donald R. Heath profitierte 1940 von Harnacks bereitwilligen Auskünften und leitete sie an sein Außenministerium weiter.
Die »Rote Kapelle« warnte die Sowjetunion rechtzeitig, obschon vergeblich, vor dem geplanten Angriffskrieg. Nach dem Überfall im Juni 1941 wurde die sowjetische Botschaft geschlossen, zuvor waren noch zwei Funkgeräte an die Gruppe übergeben worden, damit der Kontakt fortgesetzt werden konnte. Aus technischen Gründen scheint das zumindest in den ersten Monaten jedoch nicht funktioniert zu haben.
1941 promovierte Mildred Harnack noch an der Philosophischen Fakultät der Universität Gießen zum Thema »Die Entwicklung der amerikanischen Literatur der Gegenwart in einigen Hauptvertretern des Romans und der Kurzgeschichte«. Diese Studie war Teil einer von ihr geplanten Publikation zur Geschichte der modernen amerikanischen Literatur. Zuletzt arbeitete sie als Lehrbeauftragte für Englisch an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin und gab Unterricht an der Volkshochschule. Auch in diesem Umfeld konnte sie neue Kontakte knüpfen.
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Eine Amerikanerin gegen Hitler
Auf Spannung getrimmt: Eine neue Biographie der antifaschistischen Widerstandskämpferin Mildred Harnack verarbeitet den historischen Stoff oft leichtfertig und bedenkenlos
Von Cristina Fischer
Rebecca Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler. Kanon-Verlag, Berlin 2022, 616 S., 36 Euro (2021 erschienen unter dem Titel: All the Frequent Troubles of Our Days: The True Story of the American Woman at the Heart of the German Resistance to Hitler)
»Ich glaube, dass der Frau eine große Zukunft (be)vorsteht – größer, als jemand zu ahnen wagt. Wenn auch große Hindernisse im Weg stehen, sie wird lernen, ihr Erbe anzutreten.« (Mildred Harnack, 1942)
In seiner Besprechung der von Rebecca Donner vorgelegten neuen Biographie von Mildred Harnack (1902–1943) stellte der Literaturkritiker Denis Scheck bei WDR 3 die entgeisterte Frage: »Warum kennen wir diese Frau nicht?« Und die Moderatorin assistierte ihm mit der Behauptung: »Ihr Wirken ist irgendwie untergegangen.«¹ »Mildred a désormais une voix, un visage, un destin«, wird in der Verlagswerbung für die französische Ausgabe, die Ende dieses Monats erscheint, behauptet: »Mildred hat nunmehr eine Stimme, ein Gesicht, ein Schicksal.«
Das alles stimmt natürlich überhaupt nicht. Mildred Harnack gehört zu den bekanntesten und am besten erforschten Widerstandskämpferinnen Deutschlands. Vor 20 Jahren hat die US-Amerikanerin Shareen Blair Brysac die erste umfangreiche Biographie über sie vorgelegt.² Noch in der DDR hatte Eberhard Brüning 1988 Schriften Harnacks, darunter ihre Doktorarbeit, herausgegeben und kommentiert.³ Sein Buch und die Biographie von Brysac sind sehr gut recherchiert, fundiert, seriös und sachlich, dabei lebendig geschrieben. Die Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand hat 2007 eine Sonderausstellung über sie gezeigt, die von dem Künstler Franz Rudolf Knubel erarbeitet und gestaltet wurde. Der schöne großformatige Katalog ist noch erhältlich.⁴ Ein paar Jahre später hat Sabine Friedrich in ihrem 2012 erschienenen, vielbeachteten Roman über den deutschen Widerstand »Wer wir sind« auch über Arvid und Mildred Harnack berichtet. 2017 erschien zudem die Publikation »Mildred Harnack und die Rote Kapelle in Berlin« als Ergebnis eines Projekts von Studierenden des Fachs Politische Bildung der Universität Potsdam und der Peter-A.-Silbermann-Schule.⁵
In Berlin gibt es eine Harnackstraße, seit 2008 auch eine Mildred-Harnack-Straße. In Neukölln wurde eine beeindruckende Gedenktafel mit den Porträts von Arvid und Mildred Harnack an ihrer ehemaligen Adresse Hasenheide 61 angebracht. An ihrem letzten Wohnort in der Genthiner Straße 14 (früher Woyrschstraße) in Tiergarten wurden im Herbst 2013 in Anwesenheit des US-Botschafters Stolpersteine verlegt. In Mildreds Geburtsstadt Milwaukee trägt eine Kunstschule ihren Namen. An den Schulen im US-Bundesstaat Wisconsin wird seit 1986 ihr Geburtstag als Gedenktag begangen.
Kurz gesagt, wer sich nur irgend für den deutschen Widerstand interessiert, kommt an Mildred Harnack nicht vorbei. An der Gedenkveranstaltung zu ihrem 120. Geburtstag im September an der nach ihr benannten Schule in Berlin-Lichtenberg hat sich übrigens auch Rebecca Donner beteiligt, als sie ihr Buch in Berlin vorstellte.
Lebenswege
Mildred Fish stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sie wurde am 16. September 1902 in Milwaukee, Wisconsin, als jüngstes Kind ihrer in prekären Verhältnissen lebenden Mutter geboren. Ihr Vater war unzuverlässig, oft abwesend, er starb 1918. So lernte die Tochter bald, auf die Unabhängigkeit und Stärke von Frauen zu vertrauen: »In meiner Familie bewundere ich die innige Tapferkeit und Liebe und Klarheit, aber auch die anhaltende Energie meiner Mutter sehr«, schrieb sie später an eine Verwandte. Auch für ihre älteste Schwester empfand sie tiefen Respekt.⁶
Die Mutter, die als Sekretärin arbeitete, ermöglichte ihr den Besuch einer High School in Washington, die sie 1919 abschloss. Danach studierte sie bis 1925 Literaturwissenschaften an den Universitäten in Washington und in Madison, wo sie anschließend als Literaturdozentin zu arbeiten begann. Dort lernte sie 1926 den deutschen Juristen und Rockefeller-Stipendiaten Arvid Harnack kennen, der Nationalökonomie studierte. Beide verliebten sich und heirateten noch im selben Jahr. Mildred folgte ihrem Mann 1929 nach Deutschland.
Arvid Harnack gründete mit Friedrich Lenz in Berlin Ende 1931 die »Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft« (Arplan), im Folgejahr organisierte und leitete er eine gemeinsame Studienreise in die Sowjetunion für die Gruppe. Auch Mildred besuchte Anfang der 1930er Jahre mehrmals das erste sozialistische Land – und zwar einer dort über sie angelegten Akte zufolge, um u. a. mit dem hochrangigen Komintern-Funktionär Otto Kuusinen zu verhandeln.⁷
Von 1932 bis 1936 war sie als Englischlehrerin am Berliner Abendgymnasium (heute: Peter-A.-Silbermann-Schule) tätig. Daneben übersetzte sie Bücher aus dem Amerikanischen, wie Irving Stones Vincent-van-Gogh-Roman »Lust for Life« (dt. »Ein Leben in Leidenschaft«, 1936). Dabei halfen ihr ihre Schwiegermutter Clara Harnack und Greta Kuckhoff. In ihren Erinnerungen »Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle« (1972) hat Kuckhoff, die die Harnacks in den Staaten kennengelernt hatte, allerdings erstaunlich wenig über die Freundin berichtet. Beide Frauen gehörten zusammen mit ihren Männern einem Widerstandsnetz an, das später von der Gestapo als »Rote Kapelle« bezeichnet wurde. Greta Kuckhoff bewunderte vor allem Arvid Harnack, den sie wohl zu Recht als den intellektuellen Kopf der Gruppe charakterisierte. Mit Mildred zusammen verteilte sie antifaschistische Flugblätter und Informationsmaterial an Genossinnen und Genossen. Beide beteiligten sich auch an Schulungen und Diskussionsrunden über marxistische Literatur im Freundeskreis und versuchten, in ihrem Umfeld Sympathisanten zu finden. So konnten immer neue Männer und Frauen gewonnen werden, die sich gegen das »Dritte Reich« engagieren wollten.
Arvid Harnack war 1935 fest im Reichswirtschaftsministerium angestellt worden. 1937 wurde er Mitglied der NSDAP, um eine einflussreichere Position zu erreichen, was ihm auch gelang: 1942 wurde er zum Oberregierungsrat befördert. Seit »Arplan« hatte er Kontakt zu sowjetischen Genossen, seine profunden Wirtschaftskenntnisse waren gefragt und wurden geheimdienstlich verwertet. Nach 1933 betrachtete er seine Zuarbeit als Beitrag zum Widerstand gegen die faschistische Diktatur. Seine Tätigkeit im Ministerium war mit dem Zugang zu vertraulichen Unterlagen verbunden; so konnte er die deutschen Kriegsvorbereitungen auf ökonomischem Gebiet nachvollziehen. Seit etwa 1939 kooperierte er mit dem im Luftfahrtministerium tätigen Offizier Harro Schulze-Boysen, der streng geheime militärische Informationen beisteuerte. Auch der US-amerikanische Diplomat Donald R. Heath profitierte 1940 von Harnacks bereitwilligen Auskünften und leitete sie an sein Außenministerium weiter.
Die »Rote Kapelle« warnte die Sowjetunion rechtzeitig, obschon vergeblich, vor dem geplanten Angriffskrieg. Nach dem Überfall im Juni 1941 wurde die sowjetische Botschaft geschlossen, zuvor waren noch zwei Funkgeräte an die Gruppe übergeben worden, damit der Kontakt fortgesetzt werden konnte. Aus technischen Gründen scheint das zumindest in den ersten Monaten jedoch nicht funktioniert zu haben.
1941 promovierte Mildred Harnack noch an der Philosophischen Fakultät der Universität Gießen zum Thema »Die Entwicklung der amerikanischen Literatur der Gegenwart in einigen Hauptvertretern des Romans und der Kurzgeschichte«. Diese Studie war Teil einer von ihr geplanten Publikation zur Geschichte der modernen amerikanischen Literatur. Zuletzt arbeitete sie als Lehrbeauftragte für Englisch an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin und gab Unterricht an der Volkshochschule. Auch in diesem Umfeld konnte sie neue Kontakte knüpfen.
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Dramatisches Ende
Nachdem die Gestapo im Juli 1942 durch einen entschlüsselten Funkspruch des sowjetischen Geheimdienstes auf die Widerstandsgruppe aufmerksam geworden war, begann der Verfolgungsapparat, zuzuschlagen. Als erster wurde am 31. August Harro Schulze-Boysen verhaftet. Arvid und Mildred Harnack wurden während eines Urlaubs auf der Kurischen Nehrung in Ostpreußen am 7. September 1942 festgenommen. Bereits am 19. Dezember verhängte das Reichskriegsgericht nach vier Verhandlungstagen Todesurteile über Schulze-Boysen und seine Frau Libertas, Arvid Harnack, Adam Kuckhoff, Kurt und Elisabeth Schumacher, John Graudenz, Hans Coppi und andere, die drei Tage später vollstreckt wurden. Mildred Harnack war nur zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden, Adolf Hitler kassierte jedoch die Urteile gegen sie und die »Mitverschworene« Erika von Brockdorff und ordnete eine neue Hauptverhandlung an. Sie endete am 16. Januar 1943 mit zwei Todesurteilen.
Am 16. Februar 1943 wurde Mildred Harnack im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee mit der Guillotine enthauptet. Der Gefängnispfarrer Harald Poelchau, der zuvor noch eine Stunde mit ihr verbringen konnte, übermittelte der Familie ihre Worte: »Und ich habe Deutschland so geliebt.«
Mildred Harnack gilt als die einzige US-amerikanische Zivilistin, die wegen Widerstands gegen Hitler hingerichtet wurde. Bereits am 15. Mai 1943 veröffentlichte die New York Times einen Artikel über sie, in dem es heißt, dass sie möglicherweise »in eine spektakuläre Verschwörung verwickelt« gewesen sei, die »weiterer Aufklärung« bedürfe. Ihr Mann sei »einer von einem Dutzend oder mehr Deutschen, die Anfang dieses Jahres wegen Hoch- oder Landesverrats (im Original »treason«) gehängt wurden«.⁸
Kontroverse Reaktionen
Wie Rebecca Donner feststellt, fehlt ihre Heldin jedoch als Repräsentantin der USA auf einer Informationstafel in der Berliner Gedenkstätte Plötzensee, die die Hinrichtungsopfer nach Herkunftsländern auflistet. Von seiten der Gedenkstätte ist man hingegen davon überzeugt, dass die Tafel korrekt sei, da Mildred Harnack durch ihre Heirat automatisch deutsche Staatsangehörige geworden war. Was aber hindert die Gedenkstätte daran, einen Hinweis anzubringen, der darüber aufklärt, dass manche Frauen ihre ursprüngliche Nationalität zwangsweise durch Heirat verloren, und dass sich durch diese patriarchalische Regelung Verschiebungen in der Statistik ergeben? Mildred Harnack ist das prominenteste Beispiel dafür.
Rebecca Donner gebe sich in ihrem Buch »nicht mit einer zeitgeschichtlichen Darstellung zufrieden«, lobt Denis Scheck, sondern setze »ganz auf literarische Mittel, zum Beispiel auf die Mittel der Collage«. Sie lasse dadurch Geschichte neu erleben, und das gelinge ihr »wirklich perfekt«. Scheck prophezeit der Biographie, die im vergangenen Jahr auf der Bestsellerliste der New York Times stand, großen Erfolg. Überaus kritisch fällt dagegen die Besprechung im Spiegel aus. Unter dem Titel »Reine Fantasie« heißt es, der Autorin sei die »Story« offenbar wichtiger als Faktentreue gewesen. Auf Befragen der Journalisten erklärte der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW), Johannes Tuchel, Donner verbinde »vielfach Fehlerhaftes mit Falschem, Spekulation und frei Erfundenem«⁹.
So nennt Donner im Anhang die Zahl von fast 900 Widerständigen der »Roten Kapelle«, die Schätzung der Historiker beläuft sich dagegen auf etwa 150. Donner schreibt Mildred Harnack zudem eine weit größere Rolle zu, als sie der Forschung zufolge hatte; es gibt zum Beispiel keine Belege dafür, dass sie Flugblätter mitverfasst und Geheimnachrichten verschlüsselt hat. Der Pulitzer-Preisträger Kai Bird hat in seiner Lobeshymne auf Donners Biographie Mildred Harnack sogar als »the American leader of one of the largest underground resistance groups in Germany during World War II« überhöht.¹⁰
Gegenüber dem Spiegel hat Rebecca Donner insistiert: »Die Kraft der Geschichte liegt darin, dass sie wahr ist.« Mit Unterstützung einer Assistentin habe sie mehr als zehn Jahre lang recherchiert, auf ihrem Rechner seien 18.000 Seiten Material zum Thema gespeichert.
Der Kanon-Verlag konterte in seiner Stellungnahme, es sei nicht der Anspruch der Biographie, »einen neuen Forschungsstand abzuliefern oder gar das ultimative Buch über den deutschen Widerstand zu schreiben«, sondern es gehe »um eine dezidiert weibliche und mitfühlende Sicht auf Ereignisse, die allzuoft wenig anschaulich und nachvollziehbar referiert oder von männlichen Darstellungen dominiert werden.«¹¹ Mildred Harnacks Rolle im Widerstand werde nun von seiten der Gedenkstätte Deutscher Widerstand wieder kleingeredet.
Dabei übersieht Kanon-Verleger Gunnar Cynybulk, dass in den bisherigen Publikationen eher Arvid Harnack im Schatten seiner Frau gestanden hat als umgekehrt. Auch Rebecca Donner greift zu fragwürdigen Deutungen, wenn sie etwa eingangs über ihre Protagonistin schreibt: »Sie bevorzugte die Anonymität, weshalb ich ihren Namen flüstern werde: Mildred Harnack.« Das klingt zwar »literarisch«, aber dass die eloquente Dozentin und Übersetzerin »die Anonymität bevorzugte«, ist schlicht Unsinn. Donald Heath jr. erinnerte sich an sie: »Sie zog die Blicke der Leute auf sich. Sie entging einem selbst in einem überfüllten Raum nicht. Sie wirkte auf Männer. Sehr auffallend. Eine totale Präsenz, ihre Stimme, ihr Anblick, ihr Denken.«¹²
Familienbande
Eindringlich weist Donner immer wieder auf ihre Verwandtschaft mit der Ermordeten hin. (»Ihre Familie ist meine Familie. Uns trennen drei Generationen.«) Sie behauptet, ihre Großmutter habe ihr den Auftrag erteilt, Mildred Harnacks Geschichte zu schreiben – obwohl Jane Donner bis zu ihrem Unfalltod 1994 eifrig die Biographin Shareen Blair Brysac unterstützt hat.¹³ Dabei verwundert es, dass Donner nicht mehr über ihre Familie und deren unterschiedliche Positionen zu der Ermordeten berichtet. Ihr Vater ist ein Sohn von Mildred Harnacks Nichte Jane, die der bewunderten Tante nach Deutschland gefolgt war und sich dort, zum Entsetzen ihrer Mutter, mit dem Ökonomen Otto Donner verheiratet hatte. Rebecca Donners Vater wurde zwei Wochen vor der Verhaftung von Harro Schulze-Boysen in Deutschland geboren, seine Eltern gaben ihm den Namen Neal Arvid. Das kann man unkompliziert im Internet nachlesen. Nur die Biographin, sonst so unbedenklich in ihrem Schreiben, macht ein Geheimnis daraus.
An anderer Stelle offenbart sie, dass ein Teil der Briefe Mildreds bzw. sie betreffende Dokumente von deren ältester Schwester Harriette, Donners Urgroßmutter, verbrannt worden seien. »Meine eigene Familie hat zu ihrer Auslöschung beigetragen«, so die Autorin gegenüber dem Spiegel. Doch Genaueres erfährt man nicht. Das ist um so bedauerlicher, als man auch sonst bei ihr kaum Neues über Mildred Harnack findet.
Denn nach wie vor ist die im Jahr 2000 von Brysac vorgelegte, knapp 600 Seiten umfassende Biographie als die maßgebliche anzusehen, an der niemand vorbeikommt, der oder die sich für die Widerstandskämpferin interessiert. Brysac hatte alle wichtigen Archivquellen in den USA, Deutschland und – soweit zugänglich – auch in Moskau ausgewertet. Sie konnte Ende der 1980er und in den 1990er Jahren mehr als ein Dutzend Zeitzeugen befragen, von denen zehn Jahre später kaum noch jemand lebte. Wohltuend ist vor allem ihre sachliche, zurückhaltende und reflektierte Darstellung, die auf Spekulationen verzichtet und dem Leser Raum gibt, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Auf die Frage der Berliner Zeitung vom 5. Oktober, ob das Schicksal ihrer Urgroßtante in den USA bisher unbekannt gewesen sei, antwortet Rebecca Donner dreist: »Nicht ganz. Vor etwa 20 Jahren erschien als ein wichtiger Anfang ein Buch von Shareen Blair Brysac. Sie konnte sich auch auf einige der Dokumente stützen und hat ebenfalls mit Don (Donald Heath jr., jW) gesprochen – allerdings nicht so ausführlich wie ich.«¹⁴ Brysacs Standardwerk als einen »Anfang« zu bezeichnen, gestützt »auf einige der (von Donner verwendeten) Dokumente«, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Wenn sich hier jemand auf etwas gestützt hat, dann Donner auf Brysacs Buch, in dem übrigens auch ein substantielles Interview mit Donald Heath jr. enthalten ist. Wie sich Donner darauf verlässt, dass nur wenige Leser ihr Buch mit dem (auf deutsch inzwischen vergriffenen) von Brysac vergleichen werden, ist schlicht unverschämt. Doch ihre Rechnung scheint tatsächlich aufzugehen.
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Dramatisches Ende
Nachdem die Gestapo im Juli 1942 durch einen entschlüsselten Funkspruch des sowjetischen Geheimdienstes auf die Widerstandsgruppe aufmerksam geworden war, begann der Verfolgungsapparat, zuzuschlagen. Als erster wurde am 31. August Harro Schulze-Boysen verhaftet. Arvid und Mildred Harnack wurden während eines Urlaubs auf der Kurischen Nehrung in Ostpreußen am 7. September 1942 festgenommen. Bereits am 19. Dezember verhängte das Reichskriegsgericht nach vier Verhandlungstagen Todesurteile über Schulze-Boysen und seine Frau Libertas, Arvid Harnack, Adam Kuckhoff, Kurt und Elisabeth Schumacher, John Graudenz, Hans Coppi und andere, die drei Tage später vollstreckt wurden. Mildred Harnack war nur zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden, Adolf Hitler kassierte jedoch die Urteile gegen sie und die »Mitverschworene« Erika von Brockdorff und ordnete eine neue Hauptverhandlung an. Sie endete am 16. Januar 1943 mit zwei Todesurteilen.
Am 16. Februar 1943 wurde Mildred Harnack im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee mit der Guillotine enthauptet. Der Gefängnispfarrer Harald Poelchau, der zuvor noch eine Stunde mit ihr verbringen konnte, übermittelte der Familie ihre Worte: »Und ich habe Deutschland so geliebt.«
Mildred Harnack gilt als die einzige US-amerikanische Zivilistin, die wegen Widerstands gegen Hitler hingerichtet wurde. Bereits am 15. Mai 1943 veröffentlichte die New York Times einen Artikel über sie, in dem es heißt, dass sie möglicherweise »in eine spektakuläre Verschwörung verwickelt« gewesen sei, die »weiterer Aufklärung« bedürfe. Ihr Mann sei »einer von einem Dutzend oder mehr Deutschen, die Anfang dieses Jahres wegen Hoch- oder Landesverrats (im Original »treason«) gehängt wurden«.⁸
Kontroverse Reaktionen
Wie Rebecca Donner feststellt, fehlt ihre Heldin jedoch als Repräsentantin der USA auf einer Informationstafel in der Berliner Gedenkstätte Plötzensee, die die Hinrichtungsopfer nach Herkunftsländern auflistet. Von seiten der Gedenkstätte ist man hingegen davon überzeugt, dass die Tafel korrekt sei, da Mildred Harnack durch ihre Heirat automatisch deutsche Staatsangehörige geworden war. Was aber hindert die Gedenkstätte daran, einen Hinweis anzubringen, der darüber aufklärt, dass manche Frauen ihre ursprüngliche Nationalität zwangsweise durch Heirat verloren, und dass sich durch diese patriarchalische Regelung Verschiebungen in der Statistik ergeben? Mildred Harnack ist das prominenteste Beispiel dafür.
Rebecca Donner gebe sich in ihrem Buch »nicht mit einer zeitgeschichtlichen Darstellung zufrieden«, lobt Denis Scheck, sondern setze »ganz auf literarische Mittel, zum Beispiel auf die Mittel der Collage«. Sie lasse dadurch Geschichte neu erleben, und das gelinge ihr »wirklich perfekt«. Scheck prophezeit der Biographie, die im vergangenen Jahr auf der Bestsellerliste der New York Times stand, großen Erfolg. Überaus kritisch fällt dagegen die Besprechung im Spiegel aus. Unter dem Titel »Reine Fantasie« heißt es, der Autorin sei die »Story« offenbar wichtiger als Faktentreue gewesen. Auf Befragen der Journalisten erklärte der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW), Johannes Tuchel, Donner verbinde »vielfach Fehlerhaftes mit Falschem, Spekulation und frei Erfundenem«⁹.
So nennt Donner im Anhang die Zahl von fast 900 Widerständigen der »Roten Kapelle«, die Schätzung der Historiker beläuft sich dagegen auf etwa 150. Donner schreibt Mildred Harnack zudem eine weit größere Rolle zu, als sie der Forschung zufolge hatte; es gibt zum Beispiel keine Belege dafür, dass sie Flugblätter mitverfasst und Geheimnachrichten verschlüsselt hat. Der Pulitzer-Preisträger Kai Bird hat in seiner Lobeshymne auf Donners Biographie Mildred Harnack sogar als »the American leader of one of the largest underground resistance groups in Germany during World War II« überhöht.¹⁰
Gegenüber dem Spiegel hat Rebecca Donner insistiert: »Die Kraft der Geschichte liegt darin, dass sie wahr ist.« Mit Unterstützung einer Assistentin habe sie mehr als zehn Jahre lang recherchiert, auf ihrem Rechner seien 18.000 Seiten Material zum Thema gespeichert.
Der Kanon-Verlag konterte in seiner Stellungnahme, es sei nicht der Anspruch der Biographie, »einen neuen Forschungsstand abzuliefern oder gar das ultimative Buch über den deutschen Widerstand zu schreiben«, sondern es gehe »um eine dezidiert weibliche und mitfühlende Sicht auf Ereignisse, die allzuoft wenig anschaulich und nachvollziehbar referiert oder von männlichen Darstellungen dominiert werden.«¹¹ Mildred Harnacks Rolle im Widerstand werde nun von seiten der Gedenkstätte Deutscher Widerstand wieder kleingeredet.
Dabei übersieht Kanon-Verleger Gunnar Cynybulk, dass in den bisherigen Publikationen eher Arvid Harnack im Schatten seiner Frau gestanden hat als umgekehrt. Auch Rebecca Donner greift zu fragwürdigen Deutungen, wenn sie etwa eingangs über ihre Protagonistin schreibt: »Sie bevorzugte die Anonymität, weshalb ich ihren Namen flüstern werde: Mildred Harnack.« Das klingt zwar »literarisch«, aber dass die eloquente Dozentin und Übersetzerin »die Anonymität bevorzugte«, ist schlicht Unsinn. Donald Heath jr. erinnerte sich an sie: »Sie zog die Blicke der Leute auf sich. Sie entging einem selbst in einem überfüllten Raum nicht. Sie wirkte auf Männer. Sehr auffallend. Eine totale Präsenz, ihre Stimme, ihr Anblick, ihr Denken.«¹²
Familienbande
Eindringlich weist Donner immer wieder auf ihre Verwandtschaft mit der Ermordeten hin. (»Ihre Familie ist meine Familie. Uns trennen drei Generationen.«) Sie behauptet, ihre Großmutter habe ihr den Auftrag erteilt, Mildred Harnacks Geschichte zu schreiben – obwohl Jane Donner bis zu ihrem Unfalltod 1994 eifrig die Biographin Shareen Blair Brysac unterstützt hat.¹³ Dabei verwundert es, dass Donner nicht mehr über ihre Familie und deren unterschiedliche Positionen zu der Ermordeten berichtet. Ihr Vater ist ein Sohn von Mildred Harnacks Nichte Jane, die der bewunderten Tante nach Deutschland gefolgt war und sich dort, zum Entsetzen ihrer Mutter, mit dem Ökonomen Otto Donner verheiratet hatte. Rebecca Donners Vater wurde zwei Wochen vor der Verhaftung von Harro Schulze-Boysen in Deutschland geboren, seine Eltern gaben ihm den Namen Neal Arvid. Das kann man unkompliziert im Internet nachlesen. Nur die Biographin, sonst so unbedenklich in ihrem Schreiben, macht ein Geheimnis daraus.
An anderer Stelle offenbart sie, dass ein Teil der Briefe Mildreds bzw. sie betreffende Dokumente von deren ältester Schwester Harriette, Donners Urgroßmutter, verbrannt worden seien. »Meine eigene Familie hat zu ihrer Auslöschung beigetragen«, so die Autorin gegenüber dem Spiegel. Doch Genaueres erfährt man nicht. Das ist um so bedauerlicher, als man auch sonst bei ihr kaum Neues über Mildred Harnack findet.
Denn nach wie vor ist die im Jahr 2000 von Brysac vorgelegte, knapp 600 Seiten umfassende Biographie als die maßgebliche anzusehen, an der niemand vorbeikommt, der oder die sich für die Widerstandskämpferin interessiert. Brysac hatte alle wichtigen Archivquellen in den USA, Deutschland und – soweit zugänglich – auch in Moskau ausgewertet. Sie konnte Ende der 1980er und in den 1990er Jahren mehr als ein Dutzend Zeitzeugen befragen, von denen zehn Jahre später kaum noch jemand lebte. Wohltuend ist vor allem ihre sachliche, zurückhaltende und reflektierte Darstellung, die auf Spekulationen verzichtet und dem Leser Raum gibt, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Auf die Frage der Berliner Zeitung vom 5. Oktober, ob das Schicksal ihrer Urgroßtante in den USA bisher unbekannt gewesen sei, antwortet Rebecca Donner dreist: »Nicht ganz. Vor etwa 20 Jahren erschien als ein wichtiger Anfang ein Buch von Shareen Blair Brysac. Sie konnte sich auch auf einige der Dokumente stützen und hat ebenfalls mit Don (Donald Heath jr., jW) gesprochen – allerdings nicht so ausführlich wie ich.«¹⁴ Brysacs Standardwerk als einen »Anfang« zu bezeichnen, gestützt »auf einige der (von Donner verwendeten) Dokumente«, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Wenn sich hier jemand auf etwas gestützt hat, dann Donner auf Brysacs Buch, in dem übrigens auch ein substantielles Interview mit Donald Heath jr. enthalten ist. Wie sich Donner darauf verlässt, dass nur wenige Leser ihr Buch mit dem (auf deutsch inzwischen vergriffenen) von Brysac vergleichen werden, ist schlicht unverschämt. Doch ihre Rechnung scheint tatsächlich aufzugehen.
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•NEUER BEITRAG22.12.2022, 02:31 Uhr
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Befragung einer Akte
Immer wieder betont Donner, dass alle ihre Angaben belegt seien. Um ihren laxen Umgang mit Dokumenten zu illustrieren, hier nur ein Beispiel: Mehreren Kapiteln ihres Buches hat sie archivalische »Fragmente« vorangestellt. Als Quelle nennt sie im Anhang den »Fragebogen: Strafanstalt Berlin-Plötzensee, 16. Februar 1943« und verweist auf eine Akte im Bundesarchiv. Dort wird freilich nur eine Kopie des Dokuments aufbewahrt, und zwar eine Negativfotografie, bei der die Schrift weiß auf schwarzem Grund erscheint. Das kostbare Original befindet sich im Berliner Landesarchiv, abgeheftet zwischen zwei A4-Pappdeckeln, so dass die Ränder des alten Formulars bereits stark zerknickt und eingerissen sind. Zu sehen sind darauf kaum noch lesbare Bleistiftnotizen Mildred Harnacks.¹⁵
Ihre Auswertung dieses Dokuments erläutert Donner wie folgt: »Fragen und Antworten wurden zur Verdeutlichung und für die Prägnanz aufbereitet.« »Aufbereitet« bedeutet unter anderem, dass sie die Widerstandskämpferin auf die Frage nach ihrem Urteil mit »Beihilfe zum Hochverrat« antworten lässt, während diese selbst »Beihilfe zum Landesverrat« angegeben hat, und dass sogar noch ein zweites Mal: »Ich gestehe Beihilfe zum Landesverrat ein.« Das Todesurteil ihres Mannes erging wegen »Vorbereitung zum Hochverrat und Spionage«.
»Aufbereitet« heißt außerdem, dass Harnacks Antwort auf die Frage nach den »Umständen der Tat« verschwiegen wird. Donner zitiert nur die Frage: »Unter welchen Umständen und aus welcher Veranlassung haben Sie die Tat begangen?« Entgegnet hat die feministische Intellektuelle erstaunlicherweise: »Weil ich meinem Mann Gehorsam leisten musste.« Doch das passte wohl nicht in Donners Bild.
Dabei ergeben sich hieraus eine Reihe von Fragen. Wollte sich die US-Amerikanerin scheinbar devot in die Vorgaben der nationalsozialistischen Propaganda fügen, die Frauen eigenständiges politisches Handeln absprach? Oder folgte sie der Prozessstrategie ihres Verteidigers und ihres Mannes, die versucht hatten, sie vor dem Todesurteil zu retten, indem ausschließlich Arvid als autonom Handelnder dargestellt wurde? Diese Strategie hatte am Ende versagt.
Wenn nun der Verlag in seiner Stellungnahme zur Spiegel-Rezension beklagt, die historische Forschung habe die Rolle Mildred Harnacks im Widerstand herabgesetzt, bis sie wie eine Ehefrau gewirkt habe, die lediglich ihrem Mann geholfen hat, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass diese Art Deutung mit der Ermordeten selbst begonnen hat. Deren reale Rolle und das Ausmaß ihrer Eigeninitiative lässt sich heute leider kaum noch rekonstruieren, da die wichtigsten Zeugen hingerichtet wurden und die Unterlagen der Gestapo und des Reichskriegsgerichts unauffindbar sind.
Leichte Lektüre
Der manipulative Umgang mit dem erwähnten Fragebogen ist nur ein Beispiel von vielen für die bedenkenlose, leichtfertige und verfälschende Art der Verarbeitung des historischen Stoffes durch Rebecca Donner. Das erstaunt allerdings wenig, denn es handelt sich hier in erster Linie um ein Buch, das von möglichst vielen gelesen bzw. gekauft werden soll – was voraussetzt, dass möglichst geringe Anforderungen an die Lektüre gestellt und »Spannung« und »Unterhaltung« geboten werden.
Wer leichte Lektüre zu historischen Sachverhalten bevorzugt, ist damit gut bedient. Womöglich wird der Name Mildred Harnacks so wirklich einem größeren Kreis bekannt. Wer sich tiefgründig und sachlich korrekt informieren will, muss indes Shareen Blair Brysacs Biographie lesen. Und wer nicht die Zeit hat, Bücher von 600 Seiten Umfang zu studieren, der sollte sich an das schmale Bändchen aus dem Aufbau-Verlag halten, das die Schriften der Literaturwissenschaftlerin enthält. Das Nachwort des Herausgebers, des Leipziger Amerikanisten Eberhard Brüning, informiert eingehend über ihren Lebensweg. Brüning hat viele Originalquellen verwendet und sogar Kontakt zu Zeitzeugen in den USA aufgenommen. Man muss dieses Buch nur aufschlagen, und Mildred Harnack steht lebendig vor einem.
Da erinnert sie sich an ihre »zarte, fast zerbrechliche Mutter, die in der Pionierzeit aufgewachsen war«, wie sie »in einem Herbstwald saß und mit einer Stimme, die in der Ruhe driftete, folgenden Satz zitierte: ›And the sound of dropping nuts was heard / While all the air was still.‹« Und wie ihr Tränen in die Augen traten, »als im Hyde Park eine Musikkapelle zerlumpter Arbeitsloser vorbeimarschierte und ›Star Spangled Banner‹ spielte«.¹⁶
Anmerkungen
1 Link ...jetzt anmelden!
2 Shareen Blair Brysac: Resisting Hitler. Mildred Harnack and the Red Orchestra, Oxford/New York 2000, auf deutsch erschienen unter dem Titel: Mildred Harnack und die »Rote Kapelle«. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau und einer Widerstandsbewegung, München 2003
3 Mildred Harnack-Fish: Variationen über das Thema Amerika. Studien zur Literatur der USA, hg. v. Eberhard Brüning, Berlin 1988
4 … zur kleinsten Schar / … with a chosen few. In memoriam Mildred Harnack-Fish, hg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Katalog zur Ausstellung, Berlin 2007
5 Ingo Juchler (Hg.): Mildred Harnack und die Rote Kapelle in Berlin, Potsdam 2017 (2. Auflage 2021)
6 Brysac: Mildred Harnack und die »Rote Kapelle«, a. a. O., S. 380
7 Rebecca Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler, Berlin 2022, S. 560, Anmerkung
8 Ebd., S. 499 sowie Harnack-Fish: Variationen über das Thema Amerika, a. a. O., S. 155 u. 192
9 Der Spiegel 38/2022, S. 128
10 Mit diesem Zitat wurde zunächst die amerikanische Ausgabe der Biographie bei Amazon beworben, inzwischen wurde der Text wie folgt geändert: »… Mildred Harnack, an unsung American hero who led part of the German resistance to the Nazi regime (…)« Das Originalzitat ist immer noch auf einigen amerikanischen Webseiten zu finden.
11 Zit. n. Der Spiegel, a. a. O., S. 129
12 Zit. n. Brysac, a. a. O., S. 339
13 In Brysacs Danksagung heißt es, sie »stellte Kopien von Mildreds Briefen zur Verfügung und kommentierte die frühen Versionen des Manuskripts. Mit Hilfe und Ermutigung geizte sie nicht (…). Ihr Sohn Neal Donner übernahm das Interesse der Familie an Onkel und Tante.« (S. 562) Er scheint heute im Besitz der Briefe Mildred Harnacks zu sein (laut R. Donner »im Familienbesitz«).
14 Berliner Zeitung, 5.10.2022, S. 17
15 Landesarchiv Berlin, A Rep 369 Nr. 591
16 Mildred Harnack: Vorwort zu einer Studie über amerikanische Literatur der Gegenwart. In: Brüning (Hg.): Variationen über das Thema Amerika, a. a. O., S. 5. Bei dem anzitierten Gedicht handelt es sich um William Cullen Bryants Herbstgedicht »The Death of the Flowers«. Darin heißt es wörtlich: »Where the sound of dropping nuts is heard, though all the leaves are still«.
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Befragung einer Akte
Immer wieder betont Donner, dass alle ihre Angaben belegt seien. Um ihren laxen Umgang mit Dokumenten zu illustrieren, hier nur ein Beispiel: Mehreren Kapiteln ihres Buches hat sie archivalische »Fragmente« vorangestellt. Als Quelle nennt sie im Anhang den »Fragebogen: Strafanstalt Berlin-Plötzensee, 16. Februar 1943« und verweist auf eine Akte im Bundesarchiv. Dort wird freilich nur eine Kopie des Dokuments aufbewahrt, und zwar eine Negativfotografie, bei der die Schrift weiß auf schwarzem Grund erscheint. Das kostbare Original befindet sich im Berliner Landesarchiv, abgeheftet zwischen zwei A4-Pappdeckeln, so dass die Ränder des alten Formulars bereits stark zerknickt und eingerissen sind. Zu sehen sind darauf kaum noch lesbare Bleistiftnotizen Mildred Harnacks.¹⁵
Ihre Auswertung dieses Dokuments erläutert Donner wie folgt: »Fragen und Antworten wurden zur Verdeutlichung und für die Prägnanz aufbereitet.« »Aufbereitet« bedeutet unter anderem, dass sie die Widerstandskämpferin auf die Frage nach ihrem Urteil mit »Beihilfe zum Hochverrat« antworten lässt, während diese selbst »Beihilfe zum Landesverrat« angegeben hat, und dass sogar noch ein zweites Mal: »Ich gestehe Beihilfe zum Landesverrat ein.« Das Todesurteil ihres Mannes erging wegen »Vorbereitung zum Hochverrat und Spionage«.
»Aufbereitet« heißt außerdem, dass Harnacks Antwort auf die Frage nach den »Umständen der Tat« verschwiegen wird. Donner zitiert nur die Frage: »Unter welchen Umständen und aus welcher Veranlassung haben Sie die Tat begangen?« Entgegnet hat die feministische Intellektuelle erstaunlicherweise: »Weil ich meinem Mann Gehorsam leisten musste.« Doch das passte wohl nicht in Donners Bild.
Dabei ergeben sich hieraus eine Reihe von Fragen. Wollte sich die US-Amerikanerin scheinbar devot in die Vorgaben der nationalsozialistischen Propaganda fügen, die Frauen eigenständiges politisches Handeln absprach? Oder folgte sie der Prozessstrategie ihres Verteidigers und ihres Mannes, die versucht hatten, sie vor dem Todesurteil zu retten, indem ausschließlich Arvid als autonom Handelnder dargestellt wurde? Diese Strategie hatte am Ende versagt.
Wenn nun der Verlag in seiner Stellungnahme zur Spiegel-Rezension beklagt, die historische Forschung habe die Rolle Mildred Harnacks im Widerstand herabgesetzt, bis sie wie eine Ehefrau gewirkt habe, die lediglich ihrem Mann geholfen hat, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass diese Art Deutung mit der Ermordeten selbst begonnen hat. Deren reale Rolle und das Ausmaß ihrer Eigeninitiative lässt sich heute leider kaum noch rekonstruieren, da die wichtigsten Zeugen hingerichtet wurden und die Unterlagen der Gestapo und des Reichskriegsgerichts unauffindbar sind.
Leichte Lektüre
Der manipulative Umgang mit dem erwähnten Fragebogen ist nur ein Beispiel von vielen für die bedenkenlose, leichtfertige und verfälschende Art der Verarbeitung des historischen Stoffes durch Rebecca Donner. Das erstaunt allerdings wenig, denn es handelt sich hier in erster Linie um ein Buch, das von möglichst vielen gelesen bzw. gekauft werden soll – was voraussetzt, dass möglichst geringe Anforderungen an die Lektüre gestellt und »Spannung« und »Unterhaltung« geboten werden.
Wer leichte Lektüre zu historischen Sachverhalten bevorzugt, ist damit gut bedient. Womöglich wird der Name Mildred Harnacks so wirklich einem größeren Kreis bekannt. Wer sich tiefgründig und sachlich korrekt informieren will, muss indes Shareen Blair Brysacs Biographie lesen. Und wer nicht die Zeit hat, Bücher von 600 Seiten Umfang zu studieren, der sollte sich an das schmale Bändchen aus dem Aufbau-Verlag halten, das die Schriften der Literaturwissenschaftlerin enthält. Das Nachwort des Herausgebers, des Leipziger Amerikanisten Eberhard Brüning, informiert eingehend über ihren Lebensweg. Brüning hat viele Originalquellen verwendet und sogar Kontakt zu Zeitzeugen in den USA aufgenommen. Man muss dieses Buch nur aufschlagen, und Mildred Harnack steht lebendig vor einem.
Da erinnert sie sich an ihre »zarte, fast zerbrechliche Mutter, die in der Pionierzeit aufgewachsen war«, wie sie »in einem Herbstwald saß und mit einer Stimme, die in der Ruhe driftete, folgenden Satz zitierte: ›And the sound of dropping nuts was heard / While all the air was still.‹« Und wie ihr Tränen in die Augen traten, »als im Hyde Park eine Musikkapelle zerlumpter Arbeitsloser vorbeimarschierte und ›Star Spangled Banner‹ spielte«.¹⁶
Anmerkungen
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2 Shareen Blair Brysac: Resisting Hitler. Mildred Harnack and the Red Orchestra, Oxford/New York 2000, auf deutsch erschienen unter dem Titel: Mildred Harnack und die »Rote Kapelle«. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau und einer Widerstandsbewegung, München 2003
3 Mildred Harnack-Fish: Variationen über das Thema Amerika. Studien zur Literatur der USA, hg. v. Eberhard Brüning, Berlin 1988
4 … zur kleinsten Schar / … with a chosen few. In memoriam Mildred Harnack-Fish, hg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Katalog zur Ausstellung, Berlin 2007
5 Ingo Juchler (Hg.): Mildred Harnack und die Rote Kapelle in Berlin, Potsdam 2017 (2. Auflage 2021)
6 Brysac: Mildred Harnack und die »Rote Kapelle«, a. a. O., S. 380
7 Rebecca Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler, Berlin 2022, S. 560, Anmerkung
8 Ebd., S. 499 sowie Harnack-Fish: Variationen über das Thema Amerika, a. a. O., S. 155 u. 192
9 Der Spiegel 38/2022, S. 128
10 Mit diesem Zitat wurde zunächst die amerikanische Ausgabe der Biographie bei Amazon beworben, inzwischen wurde der Text wie folgt geändert: »… Mildred Harnack, an unsung American hero who led part of the German resistance to the Nazi regime (…)« Das Originalzitat ist immer noch auf einigen amerikanischen Webseiten zu finden.
11 Zit. n. Der Spiegel, a. a. O., S. 129
12 Zit. n. Brysac, a. a. O., S. 339
13 In Brysacs Danksagung heißt es, sie »stellte Kopien von Mildreds Briefen zur Verfügung und kommentierte die frühen Versionen des Manuskripts. Mit Hilfe und Ermutigung geizte sie nicht (…). Ihr Sohn Neal Donner übernahm das Interesse der Familie an Onkel und Tante.« (S. 562) Er scheint heute im Besitz der Briefe Mildred Harnacks zu sein (laut R. Donner »im Familienbesitz«).
14 Berliner Zeitung, 5.10.2022, S. 17
15 Landesarchiv Berlin, A Rep 369 Nr. 591
16 Mildred Harnack: Vorwort zu einer Studie über amerikanische Literatur der Gegenwart. In: Brüning (Hg.): Variationen über das Thema Amerika, a. a. O., S. 5. Bei dem anzitierten Gedicht handelt es sich um William Cullen Bryants Herbstgedicht »The Death of the Flowers«. Darin heißt es wörtlich: »Where the sound of dropping nuts is heard, though all the leaves are still«.
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•NEUER BEITRAG22.12.2022, 02:43 Uhr
EDIT: FPeregrin
22.12.2022, 02:44 Uhr
22.12.2022, 02:44 Uhr
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FPeregrin | |
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Zur Geschichte der 'Roten Kapelle'
Und jW am 19. Dez.:
Ein guter Sohn
Vor 80 Jahren wurde das NSDAP-Mitglied Herbert Gollnow als Widerstandskämpfer in Berlin von den Nazis zum Tode verurteilt. Eine Spurensuche
Von Cristina Fischer
Die von der Gestapo als »Rote Kapelle« bezeichneten Widerstandsgruppen sind recht gut erforscht. Es gibt mehrere Publikationen auch zu ihren Führungspersönlichkeiten, zu Harro und Libertas Schulze-Boysen sowie zu den Harnacks, insbesondere zu Mildred Harnack. Fast überall in der Literatur aber kommt Herbert Gollnow als Randfigur vor, die Informationen über ihn sind spärlich. In der prominenten Gruppe der im Dezember 1942 verurteilten »Rote-Kapelle«-Kämpfer, die in der DDR als Helden des Widerstands gefeiert und in der Bundesrepublik als »Agenten Moskaus« abgestempelt wurden, ist er so etwas wie der große Unbekannte.
»In den Akten von Gestapo und CIA und in Büchern, die nach dem Krieg verfasst wurden«, resümiert die Harnack-Biographin Shareen Blair Brysac, »taucht er als angeblicher Liebhaber von Mildred Harnack auf, dabei wird er entweder als naiver Jüngling oder als verblendeter Tölpel geschildert«.¹ Rebecca Donner hat ein Kapitel ihrer in diesem Jahr erschienenen Biographie Mildred Harnacks schlicht »Gollnow« überschrieben. »Sein Haar ist dunkel, auch seine Augen«, heißt es da. »Er ist nicht verheiratet.« Und weiter: »Er ist eher durchschnittlich begabt und macht gern große Worte, aber Mildred kann diese beiden Eigenschaften für ihre Zwecke nutzen.«² Das ist mehr Dichtung als Wahrheit, angefangen bei dem Detail, dass seine Augen nicht dunkel, sondern hell waren. Über seine Persönlichkeit und seine Beziehung zu den Harnacks ist nur wenig bekannt. Hier wird erstmals ausführlicher und anhand von neu erschlossenen Quellen über ihn berichtet.
Überzeugter Faschist
Herbert Emil Reinhold Gollnow wurde am 13. Juli 1911 als einziges Kind protestantischer Eltern in bescheidenen Verhältnissen in Berlin-Moabit geboren. Sein Vater Reinhold war damals Militärmusiker (Sergeant-Trompeter), seine Mutter, Tochter eines Schneidermeisters aus der Provinz Posen, vermutlich Hausfrau.
1912 war der Vater beim 1. Garde-Feldartillerie-Regiment in der Kruppstraße in Moabit kaserniert. Zwei Jahre darauf begann der Erste Weltkrieg, Reinhold Gollnow musste seine junge Frau mit dem Kleinkind zurücklassen. Nach Kriegsende bekleidete er den Rang eines Vizewachtmeisters, den niedrigsten Unteroffiziersrang mit Portepee bei den berittenen Truppen. 1920 ist er im Adressbuch als Bankbeamter noch immer in der Kruppstraße, 1921 als »Zähleranwärter« (er arbeitete später als Geldzähler bei einer Bank) und seit 1922 als Musiker erfasst. Er ist also aus der Offizierslaufbahn ausgeschieden und vermutlich, wie viele ehemalige Soldaten damals, in eine Sinnkrise, vielleicht auch in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Die einsetzende Inflation vernichtete in den Folgejahren alle Ersparnisse des Kleinbürgertums. Reinhold Gollnow musste froh sein, wenn er Frau und Kind ernähren konnte. Inzwischen wohnte die kleine Familie in einem Haus, das von der Kaserne nur ein paar hundert Meter entfernt lag, auf der Feldzeugmeisterstraße 5.
»Wir wandten alles was in unserer Kraft stand an dem Sohn an«, erinnerte sich Else Gollnow 1945 in etwas ungelenkem Deutsch. »Er war unser ganzes Glück.« Sie hielt ihn für »sehr gut eingeschlagen«, also wohlgeraten und begabt.³ Die Eltern ermöglichten dem Sohn eine solide Ausbildung; er wurde noch gegen Kriegsende eingeschult und besuchte zunächst vier Jahre die Volksschule, dann das Staatliche Luisengymnasium in der Moabiter Turmstraße und die Fichte-Realschule (heute Moses-Mendelssohn-Oberschule) in Tiergarten. 1931 legte Herbert Gollnow das Abitur auf der 6. Oberrealschule für Jungen in Wedding ab. Anschließend besuchte er jedoch keine Universität, sondern begann vermutlich auf Wunsch des um finanzielle Sicherheit besorgten Vaters eine Ausbildung bei der Reichsbahn. Als »Märzgefallener« wurde er 1933 in die NSDAP aufgenommen und trat 1934 für kurze Zeit auch der SS bei. Er war also wohl ein überzeugter Nationalsozialist, vielleicht einer von denen, die nach den Wirren der Weimarer Republik an die »Volksgemeinschaft« im Sinne überwundener Klassenschranken glaubten.
Im Mai 1936 meldete sich Gollnow freiwillig zur Luftwaffe und diente in einem Fliegerausbildungskommando. Beruflich stieg er in den Rang eines Reichsbahn-Inspektors auf, doch damit war der ehrgeizige Mittzwanziger nicht zufrieden. Im August 1937 bewarb er sich beim Auswärtigen Amt und wurde dort »aufgrund einer Sprachprüfung«, wie seine Mutter berichtete, Ende 1938 eingestellt. 1939 wurde er Konsulatssekretär.⁴
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Ein guter Sohn
Vor 80 Jahren wurde das NSDAP-Mitglied Herbert Gollnow als Widerstandskämpfer in Berlin von den Nazis zum Tode verurteilt. Eine Spurensuche
Von Cristina Fischer
Die von der Gestapo als »Rote Kapelle« bezeichneten Widerstandsgruppen sind recht gut erforscht. Es gibt mehrere Publikationen auch zu ihren Führungspersönlichkeiten, zu Harro und Libertas Schulze-Boysen sowie zu den Harnacks, insbesondere zu Mildred Harnack. Fast überall in der Literatur aber kommt Herbert Gollnow als Randfigur vor, die Informationen über ihn sind spärlich. In der prominenten Gruppe der im Dezember 1942 verurteilten »Rote-Kapelle«-Kämpfer, die in der DDR als Helden des Widerstands gefeiert und in der Bundesrepublik als »Agenten Moskaus« abgestempelt wurden, ist er so etwas wie der große Unbekannte.
»In den Akten von Gestapo und CIA und in Büchern, die nach dem Krieg verfasst wurden«, resümiert die Harnack-Biographin Shareen Blair Brysac, »taucht er als angeblicher Liebhaber von Mildred Harnack auf, dabei wird er entweder als naiver Jüngling oder als verblendeter Tölpel geschildert«.¹ Rebecca Donner hat ein Kapitel ihrer in diesem Jahr erschienenen Biographie Mildred Harnacks schlicht »Gollnow« überschrieben. »Sein Haar ist dunkel, auch seine Augen«, heißt es da. »Er ist nicht verheiratet.« Und weiter: »Er ist eher durchschnittlich begabt und macht gern große Worte, aber Mildred kann diese beiden Eigenschaften für ihre Zwecke nutzen.«² Das ist mehr Dichtung als Wahrheit, angefangen bei dem Detail, dass seine Augen nicht dunkel, sondern hell waren. Über seine Persönlichkeit und seine Beziehung zu den Harnacks ist nur wenig bekannt. Hier wird erstmals ausführlicher und anhand von neu erschlossenen Quellen über ihn berichtet.
Überzeugter Faschist
Herbert Emil Reinhold Gollnow wurde am 13. Juli 1911 als einziges Kind protestantischer Eltern in bescheidenen Verhältnissen in Berlin-Moabit geboren. Sein Vater Reinhold war damals Militärmusiker (Sergeant-Trompeter), seine Mutter, Tochter eines Schneidermeisters aus der Provinz Posen, vermutlich Hausfrau.
1912 war der Vater beim 1. Garde-Feldartillerie-Regiment in der Kruppstraße in Moabit kaserniert. Zwei Jahre darauf begann der Erste Weltkrieg, Reinhold Gollnow musste seine junge Frau mit dem Kleinkind zurücklassen. Nach Kriegsende bekleidete er den Rang eines Vizewachtmeisters, den niedrigsten Unteroffiziersrang mit Portepee bei den berittenen Truppen. 1920 ist er im Adressbuch als Bankbeamter noch immer in der Kruppstraße, 1921 als »Zähleranwärter« (er arbeitete später als Geldzähler bei einer Bank) und seit 1922 als Musiker erfasst. Er ist also aus der Offizierslaufbahn ausgeschieden und vermutlich, wie viele ehemalige Soldaten damals, in eine Sinnkrise, vielleicht auch in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Die einsetzende Inflation vernichtete in den Folgejahren alle Ersparnisse des Kleinbürgertums. Reinhold Gollnow musste froh sein, wenn er Frau und Kind ernähren konnte. Inzwischen wohnte die kleine Familie in einem Haus, das von der Kaserne nur ein paar hundert Meter entfernt lag, auf der Feldzeugmeisterstraße 5.
»Wir wandten alles was in unserer Kraft stand an dem Sohn an«, erinnerte sich Else Gollnow 1945 in etwas ungelenkem Deutsch. »Er war unser ganzes Glück.« Sie hielt ihn für »sehr gut eingeschlagen«, also wohlgeraten und begabt.³ Die Eltern ermöglichten dem Sohn eine solide Ausbildung; er wurde noch gegen Kriegsende eingeschult und besuchte zunächst vier Jahre die Volksschule, dann das Staatliche Luisengymnasium in der Moabiter Turmstraße und die Fichte-Realschule (heute Moses-Mendelssohn-Oberschule) in Tiergarten. 1931 legte Herbert Gollnow das Abitur auf der 6. Oberrealschule für Jungen in Wedding ab. Anschließend besuchte er jedoch keine Universität, sondern begann vermutlich auf Wunsch des um finanzielle Sicherheit besorgten Vaters eine Ausbildung bei der Reichsbahn. Als »Märzgefallener« wurde er 1933 in die NSDAP aufgenommen und trat 1934 für kurze Zeit auch der SS bei. Er war also wohl ein überzeugter Nationalsozialist, vielleicht einer von denen, die nach den Wirren der Weimarer Republik an die »Volksgemeinschaft« im Sinne überwundener Klassenschranken glaubten.
Im Mai 1936 meldete sich Gollnow freiwillig zur Luftwaffe und diente in einem Fliegerausbildungskommando. Beruflich stieg er in den Rang eines Reichsbahn-Inspektors auf, doch damit war der ehrgeizige Mittzwanziger nicht zufrieden. Im August 1937 bewarb er sich beim Auswärtigen Amt und wurde dort »aufgrund einer Sprachprüfung«, wie seine Mutter berichtete, Ende 1938 eingestellt. 1939 wurde er Konsulatssekretär.⁴
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Zur Geschichte der 'Roten Kapelle'
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Kontakt zu Harnacks
Da Gollnow eine höhere diplomatische oder Beamtenlaufbahn anstrebte, bemühte er sich, seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Er hatte in der Schule bereits Englisch und Französisch gelernt; nun meldete er sich auf die Zeitungsannonce einer Nichte Mildred Harnacks, der 1937 aus den USA eingereisten Jane Esch (verheiratete Donner), die in Berlin Englisch unterrichtete. So kam Gollnow in Kontakt mit dem Ehepaar Mildred und Arvid Harnack, das im Widerstand gegen das »Dritte Reich« aktiv war und mit dem sowjetischen Geheimdienst zusammenarbeitete. Wie seine Mutter später berichtete, bestand die freundschaftliche Verbindung zu Mildred Harnack schon im Sommer 1938.⁵ Herbert nahm nun bei ihr Englischstunden.
Im Juni 1940 wurde er, inzwischen Leutnant der Luftwaffe, einberufen und an die Große Kampffliegerschule im mecklenburgischen Tutow überstellt, wo er als Lehrer für Flugzeugtypenkunde eingesetzt wurde, was ihn jedoch langweilte. Er absolvierte deshalb einen Fallschirmjägerlehrgang und meldete sich mehrmals zur Front. 1941 wurde er zum Oberleutnant befördert und im Oktober durch Vermittlung Harro Schulze-Boysens zum Oberkommando der Wehrmacht (OKW) nach Berlin versetzt, wo er schließlich im Amt Ausland/Abwehr II am Tirpitzufer (heute Reichpietschufer) in einem Referat des Sonderdienstes unter Oberst Erwin Lahousen arbeitete. Der Sonderdienst war unter anderem mit der Durchführung von Sabotageakten in der Sowjetunion und in anderen Kriegsgebieten befasst.⁶
Im OKW sei Gollnow eigentlich erst zum Antifaschisten geworden, glaubte seine Mutter; zuvor sei er »aktiver Verfechter des Militarismus« gewesen. Wie sie sich erinnerte, habe ihr Sohn russischen Kriegsgefangenen geholfen. Ihm hätten die Lager der sowjetischen Kriegsgefangenen unterstanden, er habe einige, die zu verhungern drohten, in »bessere« Lager verlegt und die anderen zumindest moralisch unterstützt, indem er ihnen die Möglichkeit zu lesen, zu zeichnen und zu musizieren verschafft habe. Außerdem habe er in der gemeinsamen Wohnung ausländische Sender abgehört.
Im Juni 1941 starb Reinhard Gollnow, bis zuletzt als Musiker im Berliner Adressbuch verzeichnet, mit nur 57 Jahren in der Charité an Kehlkopfkrebs.⁷ Das war ein schwerer Schlag für seine Frau, die nun ganz auf ihren Sohn angewiesen war. Übrigens war sie nur elf Jahre älter als Mildred Harnack.
Man habe ihr (wohl bei der Gestapo) bedeutet, dass ihr Sohn »ganz unter dem Einfluss von Frau Harnack stand«, teilte Else Gollnow mit und fügte hinzu: »Das stimmt, denn es verging keine Woche, wo sie nicht etliche Mal bei uns war oder wir bei ihnen.« In ihrem Lebenslauf erklärte sie: »Mein Sohn und auch ich waren mit der Familie Harnack befreundet.«
Über die Art, wie Herbert Gollnow, zuletzt Oberleutnant beim OKW, von den Harnacks zur Preisgabe von Dienstgeheimnissen gebracht worden sein könnte, sinniert Rebecca Donner in ihrem Buch: »Wie leicht es ist, seine Tasse mit Pfefferminztee zu füllen und ihn unter dem Vorwand, ihm Englischunterricht zu geben, zu befragen.«⁸ Doch offenbar hat es sich nicht gar so simpel abgespielt. Mildred Harnack hatte bis kurz vor ihrer Verhaftung Kontakt zu dem jungen Offizier. Wie das Gericht später resümierte, kamen sich beide durch den Sprachunterricht »auch menschlich einander näher«: »Gollnow fasste zur Angeklagten Harnack, die ihm als das Idealbild einer Frau erschien, eine tiefe Zuneigung und Verehrung«,⁹ heißt es beinahe poetisch in der Urteilsbegründung.
Der zweifach promovierte Ökonom Arvid Harnack, damals bereits Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, war Herbert Gollnow dagegen zunächst unsympathisch; erst auf Zureden Mildreds habe er sich 1941 mit ihm angefreundet, um sich weiterzubilden. Harnack machte auch Harro Schulze-Boysen auf den gelehrigen Schüler aufmerksam. Beide »hielten eine politische Beeinflussung« Gollnows »im Sinne ihrer politischen Ideen für möglich und bemühten sich, ihn allmählich in ihre kommunistischen Gedanken einzuführen«, wie das Gericht feststellte.
Bei einer Party in der Wohnung Schulze-Boysens fühlte sich Gollnow allerdings wegen der freien Umgangsformen unwohl und soll sich deshalb aus diesem Kreis zurückgezogen haben. Falk Harnack hat den jungen Mann zweimal bei Besprechungen in der Wohnung seines Bruders Arvid in der Woyrschstraße in Tiergarten gesehen: »Mir ist bekannt, dass er in der genannten Widerstandsgruppe aktiv kämpfte, ich vermute, als Kurier«. Arvid Harnack habe Gollnow in das Auslandswissenschaftliche Institut einbauen wollen,¹⁰ wo dieser dann auch tatsächlich zu studieren begann.
Laut Urteil des Reichskriegsgerichts führte Harnack Gollnow in die Nationalökonomie und in die marxistische Literatur ein und arbeitete mit ihm das »Kapital« von Karl Marx durch. Der Jüngere habe dabei erkannt, dass sein Lehrer »eine ausgesprochen sozialistische, mehr sowjetfreundliche Gesinnung hatte«. Als gestandener »Nationalsozialist und Parteigenosse« habe er ihm zunächst widersprochen, sei aber »im Laufe der Zeit unter dem Eindrucke der Ausführungen Harnacks selbst unsicher« geworden.¹¹ Wie Karl Heinz Biernat in einer DDR-Publikation von 1972 plausibel vermutete, übten Harnack und Schulze-Boysen »als ausgeprägte Persönlichkeiten mit ihrem reichen Wissen einen starken Einfluss« auf ihn aus.¹²
Verführtes Opfer?
Vom Gericht wurde angenommen, dass Gollnow von der Tätigkeit der Schulze-Boysens und der Harnacks für den sowjetischen Geheimdienst und von ihren »hochverräterischen« Absichten nichts wusste. Entweder spielte der Offizier vor seinen Vernehmern überzeugend den Ahnungslosen, oder er war tatsächlich von Arvid Harnack (noch) nicht eingeweiht worden. Greta Kuckhoff hat den sehr vorsichtigen, geradezu umständlichen Umgang Harnacks mit Sympathisanten in ihren Memoiren beschrieben. Sie war der Meinung, dass es manchmal sinnvoller gewesen wäre, Freunden gegenüber offener und vertrauensvoller zu sein.
Gollnow behauptete, er habe Harnack nur deshalb detailliert über seine Arbeit im OKW berichtet, um ihn von seiner »pessimistischen« Sicht und seiner kritischen Haltung gegenüber dem »Dritten Reich« abzubringen. Wenn man sich die Einzelheiten seiner Informationen vor Augen hält, dann klingt das ziemlich unglaubwürdig – er soll nämlich mindestens zwölf überwiegend auf dem Gebiet der Sowjetunion geplante deutsche Sabotageeinsätze preisgegeben haben. Und er erzählte Mildred Harnack, dass er mit dem Flugzeug von Norwegen aus nach Großbritannien starten sollte, um dort irische Agenten abzusetzen. Alles nur Imponiergehabe?
Durch einen entschlüsselten Moskauer Funkspruch gelangte die deutsche Abwehr im Juli 1942 zur Kenntnis der Namen Schulze-Boysens, Kuckhoffs und »Arvids«. Als erster wurde am 31. August Harro Schulze-Boysen verhaftet; Arvid und Mildred Harnack waren eine Woche später, am 7. September, an der Reihe.
Die Festnahme Herbert Gollnows ließ noch über einen Monat auf sich warten. Am 19. Oktober 1942 wurde er zur Gestapo in die Prinz-Albrecht-Straße gebracht und zunächst von Kriminalkommissar Strübing vernommen. Seiner Mutter teilte man lapidar mit, dass er »ein schwarzes Schaf« sei, sie wurde zum Stillschweigen verpflichtet. Am 30. November 1942 wurde er in das Strafgefängnis Spandau überführt, wo sich schon mehr als dreißig Männer aus dem Kreis der »Roten Kapelle« befanden. Erst danach wurde er erkennungsdienstlich behandelt. Am 19. Dezember 1942 standen neun Männer und vier Frauen aus dem Berliner Widerstand, darunter auch die Harnacks und Herbert Gollnow, vier Tage lang vor dem Reichskriegsgericht. Die Verhandlung endete mit zehn Todesurteilen.
Gollnow wurde wegen »Ungehorsams im Felde und Preisgabe von Staatsgeheimnissen« zur Höchststrafe und zum »Verlust der Wehrwürdigkeit« verurteilt. Als einziger ist er nicht wegen »Hoch- oder Landesverrats« oder wegen Spionage belangt worden. Das Gericht sah ihn als »verführtes Opfer«, nicht als Widerständigen, und soll sogar seine Begnadigung durch den »Führer« empfohlen haben.
Kommissar Johannes Strübing hatte Else Gollnow versprochen, sie über das Urteil zu benachrichtigen. Doch sie erfuhr erst davon, als ihr der Rechtsanwalt ihres Sohnes riet, ein Gnadengesuch für ihn einreichen. Die fassungslose Frau schrieb zwei Gnadengesuche, erhielt aber nie eine Antwort. Immerhin, als einzigem der im Zusammenhang mit der »Roten Kapelle« zum Tode Verurteilten gestand Hitler Gollnow einen »ehrenhaften Soldatentod« zu. Und so wurde er am kalten Morgen des 12. Februar 1943 kurz nach Sonnenaufgang unter freiem Himmel auf einem Schießplatz in der Jungfernheide in der Nähe des späteren Flughafens Tegel erschossen.¹³
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Kontakt zu Harnacks
Da Gollnow eine höhere diplomatische oder Beamtenlaufbahn anstrebte, bemühte er sich, seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Er hatte in der Schule bereits Englisch und Französisch gelernt; nun meldete er sich auf die Zeitungsannonce einer Nichte Mildred Harnacks, der 1937 aus den USA eingereisten Jane Esch (verheiratete Donner), die in Berlin Englisch unterrichtete. So kam Gollnow in Kontakt mit dem Ehepaar Mildred und Arvid Harnack, das im Widerstand gegen das »Dritte Reich« aktiv war und mit dem sowjetischen Geheimdienst zusammenarbeitete. Wie seine Mutter später berichtete, bestand die freundschaftliche Verbindung zu Mildred Harnack schon im Sommer 1938.⁵ Herbert nahm nun bei ihr Englischstunden.
Im Juni 1940 wurde er, inzwischen Leutnant der Luftwaffe, einberufen und an die Große Kampffliegerschule im mecklenburgischen Tutow überstellt, wo er als Lehrer für Flugzeugtypenkunde eingesetzt wurde, was ihn jedoch langweilte. Er absolvierte deshalb einen Fallschirmjägerlehrgang und meldete sich mehrmals zur Front. 1941 wurde er zum Oberleutnant befördert und im Oktober durch Vermittlung Harro Schulze-Boysens zum Oberkommando der Wehrmacht (OKW) nach Berlin versetzt, wo er schließlich im Amt Ausland/Abwehr II am Tirpitzufer (heute Reichpietschufer) in einem Referat des Sonderdienstes unter Oberst Erwin Lahousen arbeitete. Der Sonderdienst war unter anderem mit der Durchführung von Sabotageakten in der Sowjetunion und in anderen Kriegsgebieten befasst.⁶
Im OKW sei Gollnow eigentlich erst zum Antifaschisten geworden, glaubte seine Mutter; zuvor sei er »aktiver Verfechter des Militarismus« gewesen. Wie sie sich erinnerte, habe ihr Sohn russischen Kriegsgefangenen geholfen. Ihm hätten die Lager der sowjetischen Kriegsgefangenen unterstanden, er habe einige, die zu verhungern drohten, in »bessere« Lager verlegt und die anderen zumindest moralisch unterstützt, indem er ihnen die Möglichkeit zu lesen, zu zeichnen und zu musizieren verschafft habe. Außerdem habe er in der gemeinsamen Wohnung ausländische Sender abgehört.
Im Juni 1941 starb Reinhard Gollnow, bis zuletzt als Musiker im Berliner Adressbuch verzeichnet, mit nur 57 Jahren in der Charité an Kehlkopfkrebs.⁷ Das war ein schwerer Schlag für seine Frau, die nun ganz auf ihren Sohn angewiesen war. Übrigens war sie nur elf Jahre älter als Mildred Harnack.
Man habe ihr (wohl bei der Gestapo) bedeutet, dass ihr Sohn »ganz unter dem Einfluss von Frau Harnack stand«, teilte Else Gollnow mit und fügte hinzu: »Das stimmt, denn es verging keine Woche, wo sie nicht etliche Mal bei uns war oder wir bei ihnen.« In ihrem Lebenslauf erklärte sie: »Mein Sohn und auch ich waren mit der Familie Harnack befreundet.«
Über die Art, wie Herbert Gollnow, zuletzt Oberleutnant beim OKW, von den Harnacks zur Preisgabe von Dienstgeheimnissen gebracht worden sein könnte, sinniert Rebecca Donner in ihrem Buch: »Wie leicht es ist, seine Tasse mit Pfefferminztee zu füllen und ihn unter dem Vorwand, ihm Englischunterricht zu geben, zu befragen.«⁸ Doch offenbar hat es sich nicht gar so simpel abgespielt. Mildred Harnack hatte bis kurz vor ihrer Verhaftung Kontakt zu dem jungen Offizier. Wie das Gericht später resümierte, kamen sich beide durch den Sprachunterricht »auch menschlich einander näher«: »Gollnow fasste zur Angeklagten Harnack, die ihm als das Idealbild einer Frau erschien, eine tiefe Zuneigung und Verehrung«,⁹ heißt es beinahe poetisch in der Urteilsbegründung.
Der zweifach promovierte Ökonom Arvid Harnack, damals bereits Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, war Herbert Gollnow dagegen zunächst unsympathisch; erst auf Zureden Mildreds habe er sich 1941 mit ihm angefreundet, um sich weiterzubilden. Harnack machte auch Harro Schulze-Boysen auf den gelehrigen Schüler aufmerksam. Beide »hielten eine politische Beeinflussung« Gollnows »im Sinne ihrer politischen Ideen für möglich und bemühten sich, ihn allmählich in ihre kommunistischen Gedanken einzuführen«, wie das Gericht feststellte.
Bei einer Party in der Wohnung Schulze-Boysens fühlte sich Gollnow allerdings wegen der freien Umgangsformen unwohl und soll sich deshalb aus diesem Kreis zurückgezogen haben. Falk Harnack hat den jungen Mann zweimal bei Besprechungen in der Wohnung seines Bruders Arvid in der Woyrschstraße in Tiergarten gesehen: »Mir ist bekannt, dass er in der genannten Widerstandsgruppe aktiv kämpfte, ich vermute, als Kurier«. Arvid Harnack habe Gollnow in das Auslandswissenschaftliche Institut einbauen wollen,¹⁰ wo dieser dann auch tatsächlich zu studieren begann.
Laut Urteil des Reichskriegsgerichts führte Harnack Gollnow in die Nationalökonomie und in die marxistische Literatur ein und arbeitete mit ihm das »Kapital« von Karl Marx durch. Der Jüngere habe dabei erkannt, dass sein Lehrer »eine ausgesprochen sozialistische, mehr sowjetfreundliche Gesinnung hatte«. Als gestandener »Nationalsozialist und Parteigenosse« habe er ihm zunächst widersprochen, sei aber »im Laufe der Zeit unter dem Eindrucke der Ausführungen Harnacks selbst unsicher« geworden.¹¹ Wie Karl Heinz Biernat in einer DDR-Publikation von 1972 plausibel vermutete, übten Harnack und Schulze-Boysen »als ausgeprägte Persönlichkeiten mit ihrem reichen Wissen einen starken Einfluss« auf ihn aus.¹²
Verführtes Opfer?
Vom Gericht wurde angenommen, dass Gollnow von der Tätigkeit der Schulze-Boysens und der Harnacks für den sowjetischen Geheimdienst und von ihren »hochverräterischen« Absichten nichts wusste. Entweder spielte der Offizier vor seinen Vernehmern überzeugend den Ahnungslosen, oder er war tatsächlich von Arvid Harnack (noch) nicht eingeweiht worden. Greta Kuckhoff hat den sehr vorsichtigen, geradezu umständlichen Umgang Harnacks mit Sympathisanten in ihren Memoiren beschrieben. Sie war der Meinung, dass es manchmal sinnvoller gewesen wäre, Freunden gegenüber offener und vertrauensvoller zu sein.
Gollnow behauptete, er habe Harnack nur deshalb detailliert über seine Arbeit im OKW berichtet, um ihn von seiner »pessimistischen« Sicht und seiner kritischen Haltung gegenüber dem »Dritten Reich« abzubringen. Wenn man sich die Einzelheiten seiner Informationen vor Augen hält, dann klingt das ziemlich unglaubwürdig – er soll nämlich mindestens zwölf überwiegend auf dem Gebiet der Sowjetunion geplante deutsche Sabotageeinsätze preisgegeben haben. Und er erzählte Mildred Harnack, dass er mit dem Flugzeug von Norwegen aus nach Großbritannien starten sollte, um dort irische Agenten abzusetzen. Alles nur Imponiergehabe?
Durch einen entschlüsselten Moskauer Funkspruch gelangte die deutsche Abwehr im Juli 1942 zur Kenntnis der Namen Schulze-Boysens, Kuckhoffs und »Arvids«. Als erster wurde am 31. August Harro Schulze-Boysen verhaftet; Arvid und Mildred Harnack waren eine Woche später, am 7. September, an der Reihe.
Die Festnahme Herbert Gollnows ließ noch über einen Monat auf sich warten. Am 19. Oktober 1942 wurde er zur Gestapo in die Prinz-Albrecht-Straße gebracht und zunächst von Kriminalkommissar Strübing vernommen. Seiner Mutter teilte man lapidar mit, dass er »ein schwarzes Schaf« sei, sie wurde zum Stillschweigen verpflichtet. Am 30. November 1942 wurde er in das Strafgefängnis Spandau überführt, wo sich schon mehr als dreißig Männer aus dem Kreis der »Roten Kapelle« befanden. Erst danach wurde er erkennungsdienstlich behandelt. Am 19. Dezember 1942 standen neun Männer und vier Frauen aus dem Berliner Widerstand, darunter auch die Harnacks und Herbert Gollnow, vier Tage lang vor dem Reichskriegsgericht. Die Verhandlung endete mit zehn Todesurteilen.
Gollnow wurde wegen »Ungehorsams im Felde und Preisgabe von Staatsgeheimnissen« zur Höchststrafe und zum »Verlust der Wehrwürdigkeit« verurteilt. Als einziger ist er nicht wegen »Hoch- oder Landesverrats« oder wegen Spionage belangt worden. Das Gericht sah ihn als »verführtes Opfer«, nicht als Widerständigen, und soll sogar seine Begnadigung durch den »Führer« empfohlen haben.
Kommissar Johannes Strübing hatte Else Gollnow versprochen, sie über das Urteil zu benachrichtigen. Doch sie erfuhr erst davon, als ihr der Rechtsanwalt ihres Sohnes riet, ein Gnadengesuch für ihn einreichen. Die fassungslose Frau schrieb zwei Gnadengesuche, erhielt aber nie eine Antwort. Immerhin, als einzigem der im Zusammenhang mit der »Roten Kapelle« zum Tode Verurteilten gestand Hitler Gollnow einen »ehrenhaften Soldatentod« zu. Und so wurde er am kalten Morgen des 12. Februar 1943 kurz nach Sonnenaufgang unter freiem Himmel auf einem Schießplatz in der Jungfernheide in der Nähe des späteren Flughafens Tegel erschossen.¹³
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Im Zwiespalt
Mildred Harnack, die nach Ansicht des Gerichts als gutgläubige Ehefrau ihrem Gatten lediglich »Beihilfe« zum Hochverrat und zur Spionage geleistet hatte, war zunächst zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Hitler verlangte daraufhin einen zweiten Prozess, der Anfang Januar 1943 stattfand und bei dem man die gesundheitlich stark Angeschlagene mit neuen Aussagen des Belastungszeugen Gollnow konfrontierte, der noch auf seine Begnadigung hoffte.
Und so wurde für die Urteilsbegründung eine Erklärung konstruiert – zumindest hat es Johannes Strübing nach dem Krieg so wiedergegeben –, wonach sich Gollnow in einem »Verhältnis sexueller Hörigkeit« zu Mildred Harnack befunden und ihr deshalb auf ihr Drängen hin »im Bett« streng geheime militärische Informationen anvertraut habe. Sie sei dazu von ihrem Mann angestiftet worden.¹⁴
Dabei muss offenbleiben, ob sich der 31jährige unverheiratete Gollnow, der noch bei seinen Eltern wohnte, erotisch überhaupt für Frauen interessierte. Die Schulze-Boysens und die Harnacks repräsentierten sicherlich die gesellschaftlichen Kreise, denen er gern angehört hätte, wobei ihn die »niedere Herkunft« mit Mildred Harnack verband. Wie immer seine Aussage tatsächlich gelautet haben mag – seine Freundin wurde zum Tode verurteilt und vier Tage nach ihm, am 16. Februar 1943, im Strafgefängnis Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet. Anders als den bereits Ende Dezember 1942 ermordeten Ehepaaren Schulze-Boysen und Schumacher war den Harnacks also kein gemeinsamer Tod vergönnt.
Herbert Gollnow hat sich nach seiner Verhaftung wohl in einem tiefen Zwiespalt befunden. Wer hatte der Gestapo seinen Namen genannt? Fühlte er sich nach den Vorhaltungen der Kommissare tatsächlich von den Harnacks ausgenutzt, in seiner Freundschaft oder gar Liebe verraten? Wie konsequent hatte er sich vom Faschismus abgewandt, hatte er eine neue weltanschaulich-ethische Orientierung für sich gefunden? Mit einem Todesurteil hatte er sicherlich nicht gerechnet und war darauf seelisch weniger vorbereitet als die Hauptakteure der »Roten Kapelle«. In der Familie oder im Freundeskreis hatte er ideologisch wenig Rückhalt. Er muss sich deprimierend allein gefühlt haben. Ob er im Gefängnis moralische Unterstützung fand, ob seine Mutter ihm wenigstens schreiben oder Päckchen bringen durfte, ist ungewiss. Sein Abschiedsbrief, in dem er seine Mutter über seine vom »Führer« angeordnete Erschießung informierte, ist nicht überliefert. Seine letzten drei Wochen verbrachte er im Wehrmachtsgefängnis Lehrter Straße in Moabit, nur wenige Minuten Fußweg von seinem Elternhaus entfernt.
Sein Vermögen wurde nicht wie das der Hauptangeklagten vom Gericht oder von der Gestapo eingezogen, sein Konto jedoch gesperrt. Seine Mutter gelangte erst 1951 in den Besitz des Guthabens, das nach der Währungsreform immerhin noch mehr als 4.000 DM betrug. In ihrem Antrag auf Anerkennung als »Opfer des Faschismus« hat Else Gollnow auf ihren schweren Verlust hingewiesen: »Da mein Mann 1941 verstorben ist, war mein Sohn meine einzigste Stütze, die mir durch das Hitlerregime genommen ist.« Und sie gestand: »Nachdem ich die Gewissheit hatte, dass mein Sohn tot war, befand ich mich in einer starken seelischen Depression. Ich war dem Wahnsinn nahe. Es würde zu weit führen zu schildern, zu welchen Handlungen ich damals fähig war.« In ihrer Verzweiflung hatte sie einen Brief »mit glühenden Vorwürfen« an Clara Harnack, die Mutter Arvids, geschrieben. Darin soll sie Arvid Harnack beschuldigt haben, ihren Sohn zur illegalen Arbeit »verführt« zu haben, wie es ja auch das Reichskriegsgericht behauptet hatte.¹⁵
Sie selbst war völlig unpolitisch und hat offenbar nach dem Krieg keinen Kontakt zu den Überlebenden der »Roten Kapelle« oder zur Familie Harnack gesucht. Daher sind, wie es scheint, alle Unterlagen, Briefe und Fotos, die über ihren Sohn Auskunft geben könnten, verlorengegangen. Auf dieser Grundlage lässt sich kaum ein realistisches Bild von ihm zeichnen. »Ich darf erwähnen«, so Else Gollnow in rührender Naivität, »dass mein Sohn ein sehr guter Mensch gewesen ist und seinen Eltern nur Gutes tat.«
Posthume Ehrung
Zur Zeit ihres Antrags auf Anerkennung als Opfer des Faschismus befand sich die 55jährige Witwe »im Straßeneinsatz« (wohl als »Trümmerfrau«). 1945 wurde sie in der Gruppe I (»Kämpfer« bzw. Hinterbliebene von Widerstandskämpfern) anerkannt, im November 1946 wurde ihr jedoch »aufgrund unvollständiger Angaben« der Status als Opfer des Faschismus entzogen, da ihr Sohn Mitglied der NSDAP und Mitarbeiter des Auswärtigen Amts gewesen war. Else Gollnow legte recht energisch Widerspruch gegen diese Entscheidung ein. Ihr Fall wurde im Sommer 1947 der Prüfungskommission vorgelegt, die ihn wegen mangelhafter Bearbeitung zurückverwies. Der zuständige Bezirksausschuss Tiergarten sprach sich zweimal, zuletzt Anfang 1948, für die Aberkennung aus, doch im April des Jahres konnte das Problem durch Fürsprachen von Falk Harnack und Inge Havemann geb. Harnack zugunsten der Antragstellerin geklärt werden.
Else Gollnow war noch 1970 im Adressbuch von Westberlin verzeichnet, sie wohnte an der Rheinstraße in Friedenau. Das in Ost und West wachsende Interesse an der »Roten Kapelle« hat sie noch miterlebt. Befragt hat sie offenbar niemand.
Die Bewertung der Rolle ihres Sohnes im Widerstand erwies und erweist sich als durchaus schwierig. Sein Verhalten im Prozess vor dem Reichskriegsgericht bleibt ungeklärt; er wäre nicht der einzige aus den Reihen der »Roten Kapelle« gewesen, der in den Verhören belastende Angaben über Freunde und Bekannte gemacht hat. In dieser Beziehung hatte sich vor allem Libertas Schulze-Boysen hervorgetan, was ihrem Ansehen als Widerstandskämpferin aber kaum geschadet hat.
Die erste öffentliche Ehrung Herbert Gollnows ist einem sonderbaren Missverständnis zu verdanken: 1961 wurde er auf einer Gedenktafel des Auswärtigen Amts für die Verschwörer des 20. Juli 1944 und in der dazugehörigen Publikation aufgeführt. In dem umfangreichen Band »Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik« von 2010 wird er dagegen nicht erwähnt. Immerhin sind darin die »Sowjetspione« Rudolf von Scheliha und Ilse Stöbe gewürdigt worden, die von der Gestapo ebenfalls der »Roten Kapelle« zugerechnet wurden und im Westen lange als »Verräter« galten.
Heute gehört Herbert Gollnow zu den dreizehn Widerstandskämpfern im Auswärtigen Amt, derer gedacht wird, weil sie »sich ihrem Gewissen verpflichtet sahen und ihre konsequente Haltung während der nationalsozialistischen Herrschaft mit ihrem Leben bezahlten«, wie es in einer Publikation des Amts heißt. Sie »verkörpern die Ideale von Verantwortungsbewusstsein und Courage. Sie setzen damit bis heute und auch für die Zukunft Maßstäbe.« Das sind große Worte, zumal für einen Mann, über dessen Motive und Ideale wir wenig, fast nichts wissen.
Stolperstein verlegt
Ob der Leichnam des »in Ehren« erschossenen Herbert Gollnow seiner Mutter zur Beerdigung überlassen, ob er also auf einem Berliner Friedhof beerdigt wurde, ist nicht bekannt. 2011 wurde auf Veranlassung der Eisenbahnergewerkschaft EVG ein Stolperstein für ihn an der Feldzeugmeisterstraße 5 in Moabit verlegt, wo er bis zuletzt mit seiner Mutter – und diese noch lange nach dem Krieg – gewohnt hat.¹⁶ Wie durch ein Wunder hat das fünfstöckige bürgerliche Gründerzeithaus die Bombardements des Zweiten Weltkrieges überstanden. Heute hat dort die Moabiter Handwerksgesellschaft ihren Sitz. Sonst erinnert kaum noch etwas an den Ermordeten. Das im Archiv des Auswärtigen Amts aufbewahrte Foto ist das einzige zivile Porträt, das von ihm überliefert ist.
Anmerkungen
1 S. Blair Brysac: Mildred Harnack und »Die rote Kapelle«, Augsburg 2003, S. 377
2 R. Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack, Berlin 2022, S. 403
3 Landesarchiv Berlin (LAB), C Rep 118-01 Nr. 19514. Auch die folgenden Zitate von Else Gollnow sowie Angaben über ihre Anerkennung als Opfer des Faschismus entstammen dieser Akte.
4 Auskunft von Gerhard Keiper, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts. Konsulatssekretär: Amtsbezeichnung im Eingangsamt für den gehobenen Dienst beim AA
5 R. Donner behauptet, dass Gollnow bei ihrer Großmutter Jane von 1939 bis 1941 Englischstunden genommen habe und erst danach als Schüler zu Mildred Harnack gekommen sei. (R. Donner, a. a. O.)
6 Aus dem Urteil des RKG, zit. n. Norbert Haase: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, Berlin 1993, S. 110
7 LAB Sterbeurkunde, Standesamt Mitte Nr. 2584 von Karl Albert Reinhold Gollnow
8 R. Donner, a. a. O., S. 405
9 Zit. n. Haase, a. a. O.
10 Brief Falk Harnack in der Akte Else Gollnow, vgl. Anm. 3.
11 Zit. n. Haase, a. a. O., S. 111
12 Karl Heinz Biernat, Luise Kraushaar: Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation im antifaschistischen Kampf, Berlin 1972, S. 89
13 LAB, Sterbeurkunde Standesamt Tegel Nr. 435 (1943) von Herbert Gollnow
14 S. Blair Brysac, a. a. O., S. 378. Brysac schätzt ein, dass es nicht Mildred Harnacks Charakter entsprach, Gollnow »ins Bett zu locken«, um ihn auszuhorchen.
15 Brief Falk Harnack, vgl. Anm. 10.
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Im Zwiespalt
Mildred Harnack, die nach Ansicht des Gerichts als gutgläubige Ehefrau ihrem Gatten lediglich »Beihilfe« zum Hochverrat und zur Spionage geleistet hatte, war zunächst zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Hitler verlangte daraufhin einen zweiten Prozess, der Anfang Januar 1943 stattfand und bei dem man die gesundheitlich stark Angeschlagene mit neuen Aussagen des Belastungszeugen Gollnow konfrontierte, der noch auf seine Begnadigung hoffte.
Und so wurde für die Urteilsbegründung eine Erklärung konstruiert – zumindest hat es Johannes Strübing nach dem Krieg so wiedergegeben –, wonach sich Gollnow in einem »Verhältnis sexueller Hörigkeit« zu Mildred Harnack befunden und ihr deshalb auf ihr Drängen hin »im Bett« streng geheime militärische Informationen anvertraut habe. Sie sei dazu von ihrem Mann angestiftet worden.¹⁴
Dabei muss offenbleiben, ob sich der 31jährige unverheiratete Gollnow, der noch bei seinen Eltern wohnte, erotisch überhaupt für Frauen interessierte. Die Schulze-Boysens und die Harnacks repräsentierten sicherlich die gesellschaftlichen Kreise, denen er gern angehört hätte, wobei ihn die »niedere Herkunft« mit Mildred Harnack verband. Wie immer seine Aussage tatsächlich gelautet haben mag – seine Freundin wurde zum Tode verurteilt und vier Tage nach ihm, am 16. Februar 1943, im Strafgefängnis Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet. Anders als den bereits Ende Dezember 1942 ermordeten Ehepaaren Schulze-Boysen und Schumacher war den Harnacks also kein gemeinsamer Tod vergönnt.
Herbert Gollnow hat sich nach seiner Verhaftung wohl in einem tiefen Zwiespalt befunden. Wer hatte der Gestapo seinen Namen genannt? Fühlte er sich nach den Vorhaltungen der Kommissare tatsächlich von den Harnacks ausgenutzt, in seiner Freundschaft oder gar Liebe verraten? Wie konsequent hatte er sich vom Faschismus abgewandt, hatte er eine neue weltanschaulich-ethische Orientierung für sich gefunden? Mit einem Todesurteil hatte er sicherlich nicht gerechnet und war darauf seelisch weniger vorbereitet als die Hauptakteure der »Roten Kapelle«. In der Familie oder im Freundeskreis hatte er ideologisch wenig Rückhalt. Er muss sich deprimierend allein gefühlt haben. Ob er im Gefängnis moralische Unterstützung fand, ob seine Mutter ihm wenigstens schreiben oder Päckchen bringen durfte, ist ungewiss. Sein Abschiedsbrief, in dem er seine Mutter über seine vom »Führer« angeordnete Erschießung informierte, ist nicht überliefert. Seine letzten drei Wochen verbrachte er im Wehrmachtsgefängnis Lehrter Straße in Moabit, nur wenige Minuten Fußweg von seinem Elternhaus entfernt.
Sein Vermögen wurde nicht wie das der Hauptangeklagten vom Gericht oder von der Gestapo eingezogen, sein Konto jedoch gesperrt. Seine Mutter gelangte erst 1951 in den Besitz des Guthabens, das nach der Währungsreform immerhin noch mehr als 4.000 DM betrug. In ihrem Antrag auf Anerkennung als »Opfer des Faschismus« hat Else Gollnow auf ihren schweren Verlust hingewiesen: »Da mein Mann 1941 verstorben ist, war mein Sohn meine einzigste Stütze, die mir durch das Hitlerregime genommen ist.« Und sie gestand: »Nachdem ich die Gewissheit hatte, dass mein Sohn tot war, befand ich mich in einer starken seelischen Depression. Ich war dem Wahnsinn nahe. Es würde zu weit führen zu schildern, zu welchen Handlungen ich damals fähig war.« In ihrer Verzweiflung hatte sie einen Brief »mit glühenden Vorwürfen« an Clara Harnack, die Mutter Arvids, geschrieben. Darin soll sie Arvid Harnack beschuldigt haben, ihren Sohn zur illegalen Arbeit »verführt« zu haben, wie es ja auch das Reichskriegsgericht behauptet hatte.¹⁵
Sie selbst war völlig unpolitisch und hat offenbar nach dem Krieg keinen Kontakt zu den Überlebenden der »Roten Kapelle« oder zur Familie Harnack gesucht. Daher sind, wie es scheint, alle Unterlagen, Briefe und Fotos, die über ihren Sohn Auskunft geben könnten, verlorengegangen. Auf dieser Grundlage lässt sich kaum ein realistisches Bild von ihm zeichnen. »Ich darf erwähnen«, so Else Gollnow in rührender Naivität, »dass mein Sohn ein sehr guter Mensch gewesen ist und seinen Eltern nur Gutes tat.«
Posthume Ehrung
Zur Zeit ihres Antrags auf Anerkennung als Opfer des Faschismus befand sich die 55jährige Witwe »im Straßeneinsatz« (wohl als »Trümmerfrau«). 1945 wurde sie in der Gruppe I (»Kämpfer« bzw. Hinterbliebene von Widerstandskämpfern) anerkannt, im November 1946 wurde ihr jedoch »aufgrund unvollständiger Angaben« der Status als Opfer des Faschismus entzogen, da ihr Sohn Mitglied der NSDAP und Mitarbeiter des Auswärtigen Amts gewesen war. Else Gollnow legte recht energisch Widerspruch gegen diese Entscheidung ein. Ihr Fall wurde im Sommer 1947 der Prüfungskommission vorgelegt, die ihn wegen mangelhafter Bearbeitung zurückverwies. Der zuständige Bezirksausschuss Tiergarten sprach sich zweimal, zuletzt Anfang 1948, für die Aberkennung aus, doch im April des Jahres konnte das Problem durch Fürsprachen von Falk Harnack und Inge Havemann geb. Harnack zugunsten der Antragstellerin geklärt werden.
Else Gollnow war noch 1970 im Adressbuch von Westberlin verzeichnet, sie wohnte an der Rheinstraße in Friedenau. Das in Ost und West wachsende Interesse an der »Roten Kapelle« hat sie noch miterlebt. Befragt hat sie offenbar niemand.
Die Bewertung der Rolle ihres Sohnes im Widerstand erwies und erweist sich als durchaus schwierig. Sein Verhalten im Prozess vor dem Reichskriegsgericht bleibt ungeklärt; er wäre nicht der einzige aus den Reihen der »Roten Kapelle« gewesen, der in den Verhören belastende Angaben über Freunde und Bekannte gemacht hat. In dieser Beziehung hatte sich vor allem Libertas Schulze-Boysen hervorgetan, was ihrem Ansehen als Widerstandskämpferin aber kaum geschadet hat.
Die erste öffentliche Ehrung Herbert Gollnows ist einem sonderbaren Missverständnis zu verdanken: 1961 wurde er auf einer Gedenktafel des Auswärtigen Amts für die Verschwörer des 20. Juli 1944 und in der dazugehörigen Publikation aufgeführt. In dem umfangreichen Band »Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik« von 2010 wird er dagegen nicht erwähnt. Immerhin sind darin die »Sowjetspione« Rudolf von Scheliha und Ilse Stöbe gewürdigt worden, die von der Gestapo ebenfalls der »Roten Kapelle« zugerechnet wurden und im Westen lange als »Verräter« galten.
Heute gehört Herbert Gollnow zu den dreizehn Widerstandskämpfern im Auswärtigen Amt, derer gedacht wird, weil sie »sich ihrem Gewissen verpflichtet sahen und ihre konsequente Haltung während der nationalsozialistischen Herrschaft mit ihrem Leben bezahlten«, wie es in einer Publikation des Amts heißt. Sie »verkörpern die Ideale von Verantwortungsbewusstsein und Courage. Sie setzen damit bis heute und auch für die Zukunft Maßstäbe.« Das sind große Worte, zumal für einen Mann, über dessen Motive und Ideale wir wenig, fast nichts wissen.
Stolperstein verlegt
Ob der Leichnam des »in Ehren« erschossenen Herbert Gollnow seiner Mutter zur Beerdigung überlassen, ob er also auf einem Berliner Friedhof beerdigt wurde, ist nicht bekannt. 2011 wurde auf Veranlassung der Eisenbahnergewerkschaft EVG ein Stolperstein für ihn an der Feldzeugmeisterstraße 5 in Moabit verlegt, wo er bis zuletzt mit seiner Mutter – und diese noch lange nach dem Krieg – gewohnt hat.¹⁶ Wie durch ein Wunder hat das fünfstöckige bürgerliche Gründerzeithaus die Bombardements des Zweiten Weltkrieges überstanden. Heute hat dort die Moabiter Handwerksgesellschaft ihren Sitz. Sonst erinnert kaum noch etwas an den Ermordeten. Das im Archiv des Auswärtigen Amts aufbewahrte Foto ist das einzige zivile Porträt, das von ihm überliefert ist.
Anmerkungen
1 S. Blair Brysac: Mildred Harnack und »Die rote Kapelle«, Augsburg 2003, S. 377
2 R. Donner: Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack, Berlin 2022, S. 403
3 Landesarchiv Berlin (LAB), C Rep 118-01 Nr. 19514. Auch die folgenden Zitate von Else Gollnow sowie Angaben über ihre Anerkennung als Opfer des Faschismus entstammen dieser Akte.
4 Auskunft von Gerhard Keiper, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts. Konsulatssekretär: Amtsbezeichnung im Eingangsamt für den gehobenen Dienst beim AA
5 R. Donner behauptet, dass Gollnow bei ihrer Großmutter Jane von 1939 bis 1941 Englischstunden genommen habe und erst danach als Schüler zu Mildred Harnack gekommen sei. (R. Donner, a. a. O.)
6 Aus dem Urteil des RKG, zit. n. Norbert Haase: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, Berlin 1993, S. 110
7 LAB Sterbeurkunde, Standesamt Mitte Nr. 2584 von Karl Albert Reinhold Gollnow
8 R. Donner, a. a. O., S. 405
9 Zit. n. Haase, a. a. O.
10 Brief Falk Harnack in der Akte Else Gollnow, vgl. Anm. 3.
11 Zit. n. Haase, a. a. O., S. 111
12 Karl Heinz Biernat, Luise Kraushaar: Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation im antifaschistischen Kampf, Berlin 1972, S. 89
13 LAB, Sterbeurkunde Standesamt Tegel Nr. 435 (1943) von Herbert Gollnow
14 S. Blair Brysac, a. a. O., S. 378. Brysac schätzt ein, dass es nicht Mildred Harnacks Charakter entsprach, Gollnow »ins Bett zu locken«, um ihn auszuhorchen.
15 Brief Falk Harnack, vgl. Anm. 10.
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