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Die erste spontane Reaktion nach der Lektüre dieser rundum gelungenen Biographie Erich Mühsams: Wie erbärmlich und falsch muten doch die geschichtsrevisionistischen Versuche der herrschenden Medienkultur der letzten Jahre an, die Hitler-Attentäter um Stauffenberg als die wahren antifaschistischen Widerstandskämpfer hinzustellen, waren es doch die Stauffenbergs und Co. Anfang 1933, die die Kommunisten und Anarchisten zu Tausenden jagten, folterten und umbrachten. Hans Beimlers "Im Mörderlager Dachau", Willi Bredels "Prüfung" und viele andere Zeugnisse sprechen eine klare Sprache. Auch deshalb ist diesem Buch reges Interesse zu wünschen.

Der profunde Mühsam-Kenner Chris Hirte hatte schon 1985 im damaligen DDR-Verlag Neues Leben eine Mühsam-Biographie vorgelegt, dem Ahriman-Verlag ist nun für die durchgesehene Neuauflage zu danken. Warum aber müssen Herausgeber in eitlen, pseudo-intellektuellen Worten noch ihren Senf dazugeben? Von den ärgerlichen, kaum lesbaren beiden Vorworten ist lediglich der Teil von Belang, der das tragische Schicksal der Ehefrau "Zenzl" Mühsam von 1936 bis 1954 in der UdSSR umreißt. 1955 konnte sie in die DDR ausreisen, wo sie 1962 starb.

Weihnachten

Nun ist das Fest der Weihenacht,
das Fest, das alle glücklich macht,
wo sich mit reichen Festgeschenken
Mann, Weib und Greis und Kind bedenken,
wo aller Hader wird vergessen
beim Christbaum und beim Karpfenessen;
und groß und klein und arm und reich an diesem Tag ist alles gleich.

So steht´s in vielerlei Varianten
in deutschen Blättern. Alten Tanten
und Wickelkindern rollt die Zähre
ins Taschentuch ob dieser Märe.
Papa liest´s der Familie vor,
und alle lauschen und sind Ohr...
Ich sah, wie so ein Zeitungsblatt
ein armer Kerl gelesen hat.
Er hob es auf aus einer Pfütze,
dass es ihm hinterm Zaune nütze.

Erich Mühsam
Uns Nachgeborenen ist Mühsam meistens nur noch als der Verfasser des "Revoluzzer" (S. 116) in Erinnerung, tatsächlich hat er aber sein ganzes Leben unangepasst im Widerstand gegen die Herrschen gelebt und gearbeitet. Sich selbst bezeichnet er später als kommunistischen Anarchisten, ein Graus sowohl für die Anarchisten wie für die Kommunisten. Es gibt eigentlich keinen, mit dem er sich nicht anlegt, und er wird trotzdem von vielen geachtet und um Rat gefragt. Er muss sein Leben lang nur Niederlagen einstecken, aber er bewahrt sich seine Wärme und Mitmenschlichkeit: "Erhalten haben sich ... Anekdoten von einem großherzig-gutmütigen, kauzigen, naiven, närrisch tierlieben, hartnäckig streitenden, witzigen, boshaften und immer aufs neue verliebten Mühsam - Erinnerungen an einen alternden Mann mit Kinderseele." (S. 298) 1878 als viertes Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren, wächst er ab 1879 in Lübeck auf, von seinem autoritären Apothekervater misshandelt und vorzeitig wegen "sozialistischer Umtriebe" von der Schule geworfen. Unter der Knute seines Vaters arbeitet er zwar einige Jahre als Apothekergehilfe, aber schon früh, mit 23, entscheidet er sich für ein Leben als freier Künstler in Berlin, er schreibt, veröffentlicht, gibt Zeitschriften heraus und tritt als Kabarettist auf. Durch die Freundschaft mit dem antikommunistischen Gustav Landauer gerät er in anarchistische Kreise, wird als Agitator bekannt und zugleich unter ständige Polizeiaufsicht gestellt. Er ist viel unterwegs, Schweiz, Italien, Wien, Paris sind nur einige Stationen, bevor er 1909 in München bleibt. Mit 30 ist er sowohl mit prominenten Größen seiner Zeit wie Heinrich Mann, Paul Scheerbart, Frank Wedekind, Karl Kraus in Kontakt oder befreundet, als auch bei Obdachlosen, Prostituierten, Kriminellen, schrägen Vögeln aus der Bohème-Szene als einer von ihnen geschätzt. Selber ständig von Geldnöten geplagt, teilt er sein letztes Hemd mit jedem, der ihn darum bittet, er lebt stets auf Messers Schneide und zecht, liebt, arbeitet viel - der Bürgerschreck schlechthin. So tobt er durch die Jahre - 1. Weltkrieg, Münchner Räterepublik, fünf Jahre Festungshaft, Weimarer Republik bis zu seiner grausamen Ermordung durch die Faschisten im KZ Oranienburg 1934 - immer mitten im Geschehen, unbestechlich, wahrhaftig.

Mit schonungsloser Kritik und großem Einfühlungsvermögen, wie es einem Mühsam gebührt, zeichnet Hirte den Weg "vom verträumten Apotheker zum Bohemien und Kabarettisten mit einem fertigen und markanten Profil" (S. 63) bis zum "Vorreiter der Revolution" (S. 149) nach:

"Die Ursachen für seinen Hass sind real: er leidet unter dem Unrecht, das anderen zugefügt wird, er verschließt nicht die Augen vor Elend und staatlicher Gewalt, er unterdrückt die menschliche Regung des Mitleids nicht und fordert Gerechtigkeit für alle. Der anarchistische Impuls entsteht aus Mitmenschlichkeit." (S. 93)

Obwohl diese Biographie gespickt ist mit Gedichten, Tagebuchnotizen, Dokumenten und kurzen Exkursen u.a. über die Bohème oder den Anarchismus, will und kann sie ein Geschichtsbuch nicht ersetzen. Dabei liest sich gerade der Teil über die Revolution in München, für Mühsam "das hektischste, verworrenste und anstrengendste, aber auch das glücklichste halbe Jahr in seinem Leben" (S. 178), wie ein spannendes Lehrstück über das Verhältnis Sozialdemokraten-Kommunisten-Anarchisten, das als Veranschaulichung von Lenins Schrift über den "linken Radikalismus" sehr zu empfehlen ist. Immerhin, am Ende gibt Mühsam der KPD recht und tritt, ungewöhnlich für einen Anarchisten, am 11. 9. 1919 in die Partei ein, nach sechs Wochen ist er allerdings wieder draußen, weil er mit einem Beschluss nicht einverstanden ist. Sein Dilemma ist das des Intellektuellen: Er will fürs Proletariat schreiben und kämpfen, er denkt und fühlt aber nicht wie einer.

Trotz alledem, nach F. C. Weiskopf nannte Erich Mühsam die Kommunisten zwar seine "freundlichen Feinde" und "missratenen Kinder", seine Gedichte waren oft nur "harte Krümel im Faulbett bürgerlicher Selbstgerechtigkeit" (S. 121), aber auch wie "Handgranaten, hineingefeuert in die Symposien der herrschenden Klasse ... Dein revolutionärer Name wird leben, unvergesslicher Freund." (Erich Weinert in seinem Nachruf)

 
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