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Von Bachramow

Das ganze Land bewegte sich in den letzten Tagen um den Selbstmord von Robert Enke. Nun könnte man dies ohne Frage so an sich vorübergehen lassen, weil es dem geschätzten Robert Enke ja nun auch nicht mehr hilft und man aus politischer Sicht obendrein ziemlich ratlos dasteht, wenn spontan 35.000 Menschen in Hannover öffentlich ihre Trauer demonstrieren, wo doch jeder Aktivist weiß, wie schwierig es derzeit ist, auch nur 3.500 dazu zu bewegen, sich für ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen auf die Straße zu begeben.

Das wichtigste zu diesem Ereignis schrieb die Gewerkschaft der Lokführer (GdL):

„Lokomotivführer werden die Bilder des Unfalls oft nicht mehr los.

Wir als Gewerkschaft Deutscher Lokomotivfhrer schließen uns dieser Trauer an und sprechen der Familie Enke unser tiefes Mitgefühl aus, so der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), Claus Weselsky, und weiter: Allerdings sind unsere Gedanken gleichermaßen bei dem Lokomotivführer, der unser Mitglied ist. Er muss ebenfalls ein Leben lang diesen schrecklichen Unfall verarbeiten.
Die GDL ist mit Stellungnahmen zu Suiziden sehr zurückhaltend. Sie will in jedem Fall den 'Werther-Effekt' vermeiden. Besonders bei prominenten Selbstmördern häufen sich die Nachahmer, wie in Goethes Roman Werther.

Weit mehr als 1 000 Eisenbahnunfälle ereignen sich durch Suizidenten jährlich auf deutschen Schienen. Im Durchschnitt muss jeder Lokomotivführer zweimal in seinem Leben mit einem Suizid fertig werden. Dass es manche ganz häufig trifft, sollte hier nicht unerwähnt bleiben. Oft werden die Lokomotivführer die Bilder vom Unfall dann jahrelang nicht mehr los, manche überhaupt nicht mehr, so Weselsky. Viele leiden unter enormen posttraumatischen Belastungen. Dies ist schon schlimm genug. Darüber hinaus müssen die Lokomotivführer auch noch erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen. Etliche können ihre berufliche Tätigkeit gar nicht mehr fortsetzen. Dann müssen sie im Zweifel mit einer Erwerbsminderungsrente oder einer Mindestversorgung auskommen.
“

Eine Anregung wäre also zum Beispiel eine Stiftung, die sich um aus diesen Gründen arbeitsunfähig gewordene Lokomotivführer kümmert, auch ein Projekt für Hannover 96 oder den Deutschen Fußball Bund, sozusagen als Brücke in die Arbeitswelt. Davon ab ergibt sich in der Sache folgendes Bild: Die Fußball-Weltmeisterschaft im nächsten Jahr rückt näher und aus der Erfahrung von 2006 wissen wir, welch nationale Kräfte der deutschen Nationalmannschaft zugeschrieben werden und in Verbindung damit auch aktiviert werden dürften. Das steht ja wieder einmal bevor.
In diesem Zusammenhang kann der Deutsche Fußballbund natürlich eine Diskussion ganz schlecht gebrauchen: Gibt es beim nationalen, sportlichen Aushängeschild keinen Platz für einen (depressiven) "Schwächling"? und: hat das Verhalten des DFB und seiner Trainer - zumindest in der eingetrübten, von Krankheit bestimmten und somit natürlich völlig unrealistisch-subjektiven Sicht von Robert Enke - zu seinem Entschluss, sein Leben zu beenden, relevant beigetragen?

Damit nichts falsch verstanden wird: Man kann keinesfalls beispielsweise behaupten, der Bundestrainer habe Enke auf dem Gewissen. Das würde die Realitäten ziemlich verkennen, die in jeder Betrachtung unglücklichsten Umständen ausblenden. Egal was war, die Chance hätte nur darin gelegen, dass sich Robert Enke helfen lassen will, dass er hätte weiterkämpfen wollen gegen seine Krankheit, dass er dazu vielleicht mit dem Sport hätte aufhören müssen... Also Fragen, die alle Menschen mit Krankheiten dieser Art beschäftigen. Aber dazu muss es auch Angebote und Unterstützung geben, so hat eben immer alles verschiedene Elemente.

Wie auch immer, der zeitlich beachtliche Ablauf bis zum Tod Enkes um 18.17 Uhr am Dienstagabend ist nach öffentlich zugänglichen Quellen wie folgt gewesen:

Teresa Enke sagte auf der Pressekonferenz am 11.11.2009:
"Die Zeit während der Depression, die war nicht einfach, aber wir haben sie zusammen durchgestanden, weil wir schon mal eine Zeit nach Istanbul und Barcelona durchgestanden haben."

Natürlich kann das ein Versprecher sein, aber es könnte auch sein, dass hier eine erst vor Kurzem beendete Depression gemeint ist:

Anfang September während des Aufenthalts bei der Nationalmannschaft sprach der DFB-Sportpsychologe Hermann mit Robert Enke.

Angeblich konnte der Verdacht auf eine Depressionsneigung in einem einstündigen Gespräch zerstreut werden. Aber: im Anschluss an das Gespräch reist Enke direkt von der Nationalmannschaft wg. einer "rätselhaften Viruserkrankung" ab.

Zunächst geht man von zwei Wochen Trainingspause aus, daraus werden insgesamt 9 Wochen. Es wird zeitweilig still um Enke, viele fragen sich: Was ist mit ihm? Dann kehrt er zurück ins Tor von Hannover 96.

Hier heißt es nach der Gesundung zum Thema Nationalmannschaft:
"Es gibt noch keine Abmachungen. Ich denke, dass es in den nächsten Tagen ein Gespräch mit Joachim Löw oder Andreas Köpke gibt." Wie es im November weitergeht, ist teilweise klar: Gegen Chile und die Elfenbeinküste sollen Tim Wiese und Manuel Neuer spielen. "Ob Enke rund um diese Tests zum DFB-Tross stößt, "wird man sehen, das werden wir besprechen"

Es ist total unüblich, dass ein nicht nominierter Spieler irgendwie mal dazukommt... Die Trauerfeier wurde von DFB und Hannover96 ausgerichtet. Es soll ein Abschiedsspiel geben. Warum drängt sich hier der DFB so stark in den Vordergrund, obwohl Enke nur 8 Länderspiele machte? Fühlt man sich, als hätte man Schuld abzutragen?

Der Abschiedsbrief ist unveröffentlicht, außer der Teil hinsichtlich der offensichtlich exakten Vorbereitung des Selbstmordes.

Vor den zunächst geplanten Länderspielen hieß es aber, dass Löw sagt, er solle an seiner Fitness arbeiten und nimmt ihn nicht mit. Welche Forderungen hat der DFB evtl. gestellt?

insbesondere heißt es hier: "Hannovers Trainer Andreas Bergmann hatte zuvor die Nichtnominierung von Enke kritisiert. 'Ich bin damit nicht einverstanden', sagte Bergmann, 'eine Berufung wäre ein wichtiges Zeichen für Robert gewesen. Robert war bis zu seiner blöden Erkrankung auf einem sehr guten Weg zur Nummer eins. Einem Spieler mit so großen Fähigkeiten und einer solchen Substanz sollte man die Möglichkeit geben, sich wieder zu zeigen.'"

Robert Enke hat sich dann exakt zeitgleich zum Zeitpunkt des Treffens der Nationalmannschaft, zu der er trotz Absage der letzten Nr.1, Adler, nicht eingeladen wurde, umgebracht. Nach allem, was erkennbar ist, geschah dies geplant. Für ihn war vermutlich klar, dass er nicht mehr zur Nationalmannschaft zurückehren wird, weil er es nicht mehr schaffen kann oder auch weil die Trainer ihn aufgrund seiner Krankheit voraussichtlich nicht mehr berücksichtigen werden. Damit war zumindest für ihn wohl klar, dass es für ihn nicht mehr zur Teilnahme an einer Weltmeisterschaft kommen wird - und möglicherweise hat er so seinem Leben ein symbolisches Ende gesetzt. In dem oben genannten Artikel des kicker-online vor einer Woche heißt es:

"Doch Enke statt Adler? - Tasci verletzt

Durch die Aussage Adlers bei 'Sky' ergibt sich für Joachim Löw nun aber eine neue Situation. 'Aus medizinischer Sicht macht es keinen Sinn, zur Nationalmannschaft zu reisen', äußerte sich Adler am Freitagabend gegenüber dem TV-Sender. Sein Fehlen sei mit Löw und dem Bundes-Torwarttrainer Andreas Köpke am Freitag besprochen worden.

Der 24-Jährige musste wegen der Hornhautentzündung auch beim 4:0 (3:0) der Leverkusener gegen Eintracht Frankfurt passen, mit dem die Werkself die Bundesliga-Tabellenführung verteidigte.

Beim Treffpunkt am kommenden Dienstagabend in Bonn sollte ...
"

Selbsttötung und Depression

Im Jahr 2005 starben in Deutschland 10.260 Menschen durch Suizid (7.523 Männer und 2.737 Frauen). Dies sind zumindest die aktuellsten Daten des Statistischen Bundesamtes. Die wirkliche Zahl dürfte weitaus höher liegen; vielfach wird ein Suizid durch Ärzte oder die Familie kaschiert, um sich Gerede vom Halse zu halten. Und bei so manchen "Unglücken" oder Autounfällen, die auch als solche in die Statistik eingehen, dürfte es sich in Wahrheit um Selbsttötungen handeln. Über vielleicht 30 von diesen Fällen berichten die Medien. Insbesondere dann, wenn der oder die Bedauernswerte Politiker war, Sänger, Schauspieler oder eben Sportler.

Über die anderen 10.230 Fälle spricht niemand. Meistens sind es keine mehr oder weniger Prominenten, sondern psychiatrische Dauerpatienten, Langzeitarbeitslose, aus der Gesellschaft Ausgestoßene oder sonstwie sozial Deklassierte, die in der Selbsttötung den letzten Ausweg sehen. Und meistens versuchen sie es nicht zum ersten Mal, sondern haben eine Karriere gescheiterter Suizidversuche hinter sich und sind von Klinik zu Klinik gereicht worden. Die tatsächliche Ursache läßt sich im Nachhinein meistens nicht mehr ermitteln; "psychische Krankheit" steht dann meistens da. Schief wird die Statistik noch aus einem weiteren Grund: als Selbsttötung (rep. "Selbstmord") wird nur ein finales Ereignis gewertet, dass den sofortigen Tod nach sich zieht. Der "Selbstmord auf Raten", also die Opfer von langjährigem Drogen- und Medikamentenmißbrauch, lebensgefährlichem Verhalten bei Extremsportarten und riskanten "Selbstbeweisen" wird nicht erfasst. So bleibt es in der medialen Wahrnehmung bei unverständlichen, dem "normalen Menschen" nicht einleuchtenden Entschlüssen von an und für sich "vom Leben gesegneten" Prominenten, die - meist ohne materielle Not - ihrem Leben ein Ende setzen. Wen interessiert auch das Schicksal eines seit 10 Jahren arbeitslosen Malochers, der beim besten Willen die Ratenzahlungen nicht mehr aufbringen kann?

Selbsttötungen passen ebensowenig wie depressive Erkrankungen in das Selbstverständnis unserer Gesellschaft, die als Ideal nur das erbarmungslose Streben nach Spitzenpositionen und materieller Erfüllung gelten lässt und dabei zwangsläufig die große Mehrheit der Menschen abhängt. Die Sicht auf den Menschen als Rädchen, als kleines Teil einer großen Maschine reduziert das gesellschaftliche Ideal auf das reine "Funktionieren". Und wer nicht funktioniert, wird disqualifiziert.

Möglicherweise hat Robert Enke nicht mehr genügend "funktioniert", um an der Spitze mitspielen zu können. Dies öffentlich, und gerade bei einem Sympathieträger, einzugestehen würde gesellschaftliche Tabus sonder Gleichen freilegen. Die Reduktion des Falles auf eine depressive Erkrankung mit bedauernswertem Ausgang wäre somit selbst nur eine Mystifikation - eine schwer greifbare Krankheit trieb einen befähigten und talentierten Spitzensportler am Gipfelpunkt seiner Karriere in einen ganz sinnlosen Tod. Sicherlich war Robert Enke depressiv; nicht weniger, als es der nach 30 Jahren Berufsleben gefeuerte Facharbeiter werden kann oder die arbeitslose alleinerziehende Mutter häufig ist. Depression ist die Manifestation, die individuelle, autoaggressive Variante der Kapitulation vor kranken Leistungsanforderungen mit der Option des extremsten Ausweges, der Selbsttötung - nicht aber deren Ursache.

Wir denken zuallererst an den Lokführer und wünschen ihm, dass er das Erlebnis möglichst gut und bald verarbeiten und - soweit möglich - vergessen möge. Alles Gute, Kollege!

 
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  Kommentar zum Artikel von Ivan:
Dienstag, 17.11.2009 - 22:46

Respekt, toll geschrieben...begreiflich und nachvollziehbar. Hebt sich doch so erfrischend von der Nationalen Trauer(volks)gemeinschaft ab....
Werde es einem poteniellen zukünftigen Profispieler weiterreichen...