BERLIN/WARSCHAU/PRAG/LONDON (01.09.2009) - Der 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen erfährt in der Bundesrepublik mindere Beachtung und wird von den kommenden Vereinigungs-Feierlichkeiten überschattet. Für Festivitäten, die dem Zusammenschluss von BRD und DDR gelten (Oktober 2009), gibt Berlin in diesem Jahr sechs Mal mehr Geld aus als für das Gedenken an die sechs Millionen polnischen Opfer. Bereits unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf Danzig (Gdańsk) am 1. September 1939 und dem Einmarsch von Wehrmachtstruppen begannen groß angelegte Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung. Dabei betätigten sich Angehörige der deutschsprachigen Minderheit ("Volksdeutsche") als Hilfskräfte der Besatzer und ermordeten ihre polnischen Mitbürger. Zu den ersten Gefangenen im Konzentrationslager Auschwitz gehörten polnische Patrioten, die nicht aus rassistischen Motiven, sondern wegen ihres politischen Widerstandes inhaftiert und später umgebracht wurden. Der in Polen unvergessenen Besatzungszeit wird auf deutscher Seite mit Gottesdiensten und Kulturveranstaltungen gedacht, ohne die zentralen Bruchpunkte des zwischenstaatlichen Verhältnisses zu berühren. Dazu gehören polnische Bedenken gegen ein deutsch-russisches Kontinentalbündnis zu Lasten Warschaus und noch immer ausstehende Kompensationen für die überlebenden Opfer der NS-Aggression.
Etwa eine Million Polen wurden mit der "Deutschen Reichsbahn" sowohl innerhalb des Landes als auch über die Grenzen verschleppt, ohne von den Nachfolgeunternehmen ("Deutsche Bundesbahn", "Deutsche Bahn AG") je entschädigt worden zu sein. In Rechtsnachfolge des früheren "Reichsverkehrsministeriums" hat es das heutige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bis dato nicht für nötig gehalten, die materielle Verantwortung für das Deportationsgeschehen zu übernehmen. Der zuständige Minister (Wolfgang Tiefensee, SPD) begnügt sich am 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen mit Symbolhandlungen und will deswegen am morgigen Mittwoch auf dem Kölner Hauptbahnhof einen vielversprechenden Öffentlichkeitstermin absolvieren.
Skandalöse EinrichtungAnlass ist die Ankunft des aus Prag eintreffenden "Winton Train". Der unter Dampf stehende Zug verkehrt auf der Strecke einer 70 Jahre zurückliegenden Rettungsfahrt. Sie führte im September 1939 über die Grenze bei Furth im Wald, ging weiter nach Nürnberg, Köln und Emmerich, um 669 meist jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei nach London zu bringen - in Sicherheit vor deutscher Verfolgung. Initiatior war Nicholas Winton, ein britischer Staatsbürger, der auf eigene Faust für die Exilierung der bedrohten Jugendlichen gesorgt hatte. Unter den Reisenden, die erneut durch Deutschland fahren und heute in Nürnberg Station machen, befinden sich Überlebende der früheren Rettungsaktion. Sie dürften nicht wissen, dass sie in Sichtweite des Nürnberger Hauptbahnhofs das Museum der "Deutschen Bahn AG" passieren, in dem Devotionalien des NS-Eisenbahnwesens ausgestellt werden.
1 Die ungeheure Dimension der NS-Verbrechen, die sowohl in der Tschechoslowakei wie in Polen ohne die logistische Hilfe der "Deutschen Reichsbahn" unmöglich gewesen wäre, wird in diesem Museum nicht erfahrbar. Für die skandalöse Einrichtung politisch verantwortlich ist Verkehrsminister Tiefensee, der die NS-Opfer morgen in Köln begrüßen wird.
AmbivalentDen ambivalenten Charakter des deutschen Gedenkens an den Kriegsbeginn reflektieren zahlreiche Kulturveranstaltungen. Bei Gottesdiensten, die am Wochenende in Berlin stattfanden, wurde zum Frieden aufgerufen, ohne die Führung der aktuellen Kriege zu erwähnen. An ihnen sind sowohl deutsche wie polnische Militärs auf der Seite des Aggressors beteiligt. Von besonderer Delikatesse ist die Beschäftigung mit den Weltkriegstätern der Wehrmacht, von denen hohe Repräsentanten in der späteren Bundeswehr untertauchten, ohne je belangt zu werden. So widmet sich ein Berliner Symposium zum 70. Jahrestag in zahlreichen Vorträgen zwar den "Propagandabildern des Zweiten Weltkriegs" und den NS-Propagandakompanien
2, aber lässt die Karrieren des Propagandapersonals unbeachtet. Ihr Weg führte in das deutsche Nachkriegsmilitär, wo sie beim Aufbau der Abteilungen für "Psychologische Kriegführung" (später "Psychologische Verteidigung") tätig waren und das slawophobe Rassebild der Nazis in Propagandaaktionen gegen "Bolschewismus" und "Moskau" fortschrieben. Referenten für eine aktuelle Erweiterung der unverbindlichen Berliner Vortragsreihe stünden in Hauptstadtnähe gleich mehrfach zur Verfügung: bei der "Akadmie der Bundeswehr für Information und Kommunikation" (AIK) in Berlin-Strausberg, dem Nachfolgeunternehmen für deutsche Militärpropaganda.
Fortschreitendes TempoZu den Bruchpunkten des deutsch-polnischen Verhältnisses gehören Befürchtungen, die einstige Waffenbrüderschaft zwischen Berlin und Moskau, die nicht erst unter Hitler begann
3, könnte sich wiederholen und von Bundeswehr und Russischer Armee gegen Warschau gerichtet werden. Tatsächlich entwickeln sich die deutsch-russischen Militärbeziehungen in fortschreitendem Tempo. Sichtbare Ergebnisse sind die luftfahrttechnische Zusammenarbeit, die der weltweiten Kriegsführung gilt
4, und Abkommen, die das russische Territorium für die Durchleitung von Waffen und Material der Bundeswehr öffnen
5.
Anmerkungen:
1 Schließung der NS-Abteilung im DB Museum gefordert; Zug der Erinnerung e.V., Pressemitteilung Nr. 06-09
2 Symposium der Deutschen Kinemathek, Museum für Film und Fernsehen: Propagandabilder des Zweiten Weltkriegs, 24.9.-26.9.2009
3 s. dazu Großmachtpläne, Kooperation und Konfrontation und NATO im Osten? "Das gibt Krieg"
4 s. dazu Unheilvoller Schatten, Militärkooperation und Mehr Einfluss denn je
5 s. dazu Kriegsabstimmung und Strategische Konzepte (II)