Wenn man nicht dem gesunden Menschenverstand und der Geschichte hohnsprechen will, so ist klar, daß man nicht von »reiner Demokratie« sprechen kann, solange es verschiedene Klassen gibt, daß man da nur von Klassendemokratie sprechen kann. (Nebenbei bemerkt: »Reine Demokratie« ist nicht nur eine von Unwissenheit zeugende Phrase, die Verständnislosigkeit sowohl für den Klassenkampf als auch für das Wesen des Staates offenbart, das ist auch eine durch und durch hohle Phrase, denn in der kommunistischen Gesellschaft wird die Demokratie, sich umbildend und zur Gewohnheit werdend, absterben, nie aber wird es eine »reine« Demokratie geben.)
»Reine Demokratie«, das ist die verlogene Phrase eines Liberalen, der die Arbeiter zum Narren hält. Die Geschichte kennt die bürgerliche Demokratie, die den Feudalismus ablöst, und die proletarische Demokratie, die die bürgerliche ablöst. (...)
Die bürgerliche Demokratie, die im Vergleich zum Mittelalter ein gewaltiger historischer Fortschritt ist, bleibt stets – und im Kapitalismus kann es gar nicht anders sein – eng, beschränkt, falsch und verlogen, ein Paradies für die Reichen, eine Falle und Betrug für die Ausgebeuteten, die Armem. Eben diese Wahrheit, die einen höchst wesentlichen Bestandteil der marxistischen Lehre bildet, hat der »Marxist« Kautsky nicht begriffen. In dieser Frage, der Grundfrage, wartet Kautsky der Bourgeoisie mit »Annehmlichkeiten« auf, statt eine wissenschaftliche Kritik der Bedingungen zu liefern, die jede bürgerliche Demokratie zu einer Demokratie für die Reichen machen.
Erinnern wir zunächst den hochgelehrten Herrn Kautsky an jene theoretischen Ausführungen von Marx und Engels, die unser Buchstabenreiter zu seiner Schande (und der Bourgeoisie zuliebe) »vergessen« hat, und dann werden wir die Sache möglichst populär erklären.
Nicht nur der antike und der Feudalstaat, auch »der moderne Repräsentativstaat ist Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital« (Engels in seinem Werk über den Staat). »Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, von freiem Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen« (Engels in einem Brief an Bebel vom 28. März 1875). »In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie« (Engels in der Einleitung zum »Bürgerkrieg in Frankreich« von Marx). Das allgemeine Stimmrecht ist »der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kann und wird es nie sein im heutigen Staat« (Engels in seinem Werk über den Staat. Herr Kautsky zerkaut höchst langweilig den für die Bourgeoisie annehmbaren ersten Teil dieses Satzes. Dagegen wird der zweite, für die Bourgeoisie unannehmbare Teil, den wir hervorgehoben haben, vom Renegaten Kautsky verschwiegen!). »Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit... Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient. Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen.« (Marx in seinem Werk über die Pariser Kommune, »Der Bürgerkrieg in Frankreich«.)
Wladimir I. Lenin: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Moskau 1918. In: W. I. Lenin: Werke Band 28, Seite 240–242