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Das Hausblatt des deutschen Großkapitals will den Armuts-und Reichtumsbericht der Bundes­regierung gleich zu den Akten legen: „Der Bericht führt aus, dass bis 2005 die Bruttolöhne gesunken und die Einkommensverteilung un­gleicher geworden ist. Das ist alles und längst bekannt ... Populisten und mediale Helfer sind verantwortungslos, wenn sie als Zerrbild ein verarmtes Land mit kinderfeindlichen Bewohnern zeichnen." (FAZ 20.5.08). Die FAZ setzt auf „weiter so", wie auch Ludwig Georg Braun, Präsident des DIHT (Deutscher Industrie- und Handelstag), der vor „mehr Sozialtransfer" warnt. Und die CDU/CSU behauptet, die Lage hätte sich seit 2005 entscheidend verbessert, der „Aufschwung" sei bei den Leuten angekommen.

Als Ursachen der millionenfachen Armut wird v. a. fehlende Bildung festgemacht. Die Erklärung der Partei „Die Linke" (PDL), die neoliberale Politik der Regierung sei schuld, ist zwar schon treffender, bleibt aber an der Oberfläche kleben. Der Staat hat die Situation natürlich verschärft. Aber die Hauptursache, die Kapitalakkumulation, der Zwang des kapitalistischen Systems zur Steigerung des Profits – das bleibt ungesagt.

Marx hat die Ursache im „Kapital" in knappen Worten dargestellt: „Je höher die Produktivität der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer al­so ihre Existenzbedingungen." Dadurch wachse die „Lazarusschicht" in der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee. „Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation."1

Was heißt das? Die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander zwingt sie zur Erhöhung der Produktivität. Das geschieht vor allem durch die Einführung neuer Maschinen und Verfahren. Damit können sie billiger produzieren und hoffen, ihre Konkurrenten zu verdrängen. Die Folge ist aber auch, dass weniger Arbeitskraft benötigt wird, um das gleiche Produkt herzustellen. So sinkt der Anteil an bezahlter Arbeit – zur Erinnerung: Der Arbeitstag teilt sich in einen bezahlten und einen unbezahlter Teil, letzterer ist die Quelle des Mehrwerts – und die Konkurrenz der Arbeiter untereinander steigt. Ein Teil wird erwerbslos, bildet die arbeitslosen Armen – was Marx die industrielle Reservearmee nennt. Bei einem anderen Teil sinkt der Lohn – diesen Teil bezeichnet Marx als Lazarusschicht, diejenigen, die wir heute als die arbeitenden Armen, die Hunger- und Niedriglöhner bezeichnen (deren Existenz hat natürlich auch noch andere Ursachen).

Die Verelendung der Arbeiterklasse ist eine notwendige Folge des Zwangs zur Mehr­wertanhäufung. Insofern gehört die angeblich neue „Prekarität" oder „Proletarität" zum Wesen des Kapitalismus. Neu ist allerdings das skan­dalöse Ausmaß, das sie jetzt auch (wieder) in den Zentren des Imperialismus annimmt.

„In kapitalistischen Gesellschaften hat es nie so etwas wie Garantie für Arbeit und Existenzsicherung gegeben. Die Existenz- und Reproduktionsbedingungen von Menschen, Familien und Haushalten, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, waren und sind prinzipiell entgarantiert."2. Auch in den Zeiten des sog. Wirtschaftswunders gab es die Witwen mit Hungerrenten, die Näherin im bayerischen Wald mit einem Niedriglohn, der unterhalb des Existenzminimums lag, gab es die „Leichtlohngruppen" usw. Betroffen waren vor allem Frauen, sogenannte „Gastarbeiter", Jugend­liche, „Kriegsversehrte" usw. Die Behauptung von der Vollbeschäftigung war immer ein Märchen. Für die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft existiert eine Arbeitslosigkeit von zwei bis vier Prozent nicht. Doch es gab die Tendenz steigender Löhne und Renten, die die Illusion nährte, die Armut sei auch und gerade im Kapitalismus zu besiegen.

Der wieder einsetzende Krisenzyklus Ende der 60er Jahre, nach der Rekonstruktionsphase, die dem Krieg folgte, führte zum ersten Knick in dieser Kurve. Regierung und Kapital begannen mit Gegenstrategien, die die sog. „neoliberale" Politik hervorbrachten. Die Niederlage des Sozialismus führte dann zur bis heute anhal­tenden Offensive des Kapitals, die auch des­halb so verheerend wirken kann, weil die Arbeiterbewegung desorientiert war und ist. Statt dem verstärkten Angriff des Kapitals verstärkten Widerstand entgegenzusetzen, orientieren SPD und leider auch die Gewerkschaften auf verstärkte Klassenzusammenarbeit. Mit der Akzeptierung der Standortlogik arbeiten sie direkt dem Kapital in die Hände, wie es sich z. B. in Lohnverzicht, Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten, Ver­längerung der Arbeitszeit usw. ausdrückt.

Außerdem nahm die Internationalisierung des Kapitals sprunghaft zu, als die Märkte der ehemals sozialistischen Länder und der VR China geöffnet wurden, was den Druck auf die Arbeiterklasse erhöhte.

Proletariat insgesamt betroffen

[file-periodicals#55]Dabei wird in der Öffentlichkeit absichtlich nur vom „abgehängten Prekariat" oder von der „Unterschicht" der Gesellschaft geredet. Es soll der Eindruck entstehen, dass es sich bloß um einen geringen Teil der Bevölkerung handelt – bei mehr als 20 Millionen Menschen! Die Arbeiterklasse ist insgesamt von sinkendem Lebensstandard und Existenzunsicherheit bedroht. Abzulesen ist das

z. B. an der Lohnquote (Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen), die seit dem Jahr 2000 von 72 % auf 64 % gefallen ist. Neu ist, dass selbst im Konjunkturaufschwung die Löhne um 3,5 % gesunken sind – ungebremst ist der Druck des Kapitals, stärker als im übrigen Europa (in den EU-Ländern stiegen die Löhne seit 2000 um 7,5 % im Durchschnitt, in der BRD um 1,4 %).

In der Statistik zählt nur der zu den Armen, der als Alleinlebender 60 % vom Durchschnittslohn monatlich zur Verfügung hat, das sind z. Z. weniger als 781 Euro netto. Ab 70 % wird mensch schon zur Mittelschicht gezählt, da ist der Facharbeiter wie der kaufmännische Angestellte dabei. Auch das ist ein Versuch zur Spaltung der Arbeiterklasse, zur Verhinderung von Klassenbewusstsein. Zwei Drittel der Bevölkerung leben von der Hand in den Mund, immer weniger können sich etwas zurücklegen.

Im Kapitalismus gilt: Der Wert der Ware Arbeitskraft ist nur durch ständigen Kampf zu sichern. Damit er auf dem erreichten kulturellen und sozialen Niveau erhalten bleibt, muss er ständig verteidigt werden. Seit den 80er Jahren sinkt der Reallohn, d. h. die Lohnerhöhungen gleichen die Inflation nicht aus. Die erhöhten Gewinne aus Produktionssteigerungen kassiert allein das Kapital.Die Umverteilungskomponente, die die Gewerkschaften in besseren Zeiten ge­fordert hatten, ist vergessen. Aber selbst direkte Lohnsenkungen durch Kürzung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds, durch Abbau übertariflicher Bezahlung usw. sind an der Tagesordnung, und das auch in den Großbetrieben. Tarifflucht und Steigerung der Leiharbeit (ein Zeitarbeiter verdient durchschnittlich 29 % weniger) tun das ihre. Durch Outsourcing müssen Lohneinbußen von bis zu 30 % hingenommen werden. Dazu kommt massenhaft eine unentgeltliche Verlänge­rung der Arbeitszeit, die die Profite steigen lässt.

Zu den Angriffen von Seiten des Kapitals kommt die staatliche Politik der Armutsförde­rung und der „systematischen Reichtumspflege" (Lieberam), z. B. durch Steuergesetze. Der pre­käre Beschäftigungssektor wurde vor allem durch die Hartz-Gesetze, Ausweitung der befristeten Arbeitsverhältnisse und Abbau des Kündigungs­schutzes durchgesetzt.

Nicht der Pfennig, die Mark

Die Armen in diesem Land werden verhöhnt als faul oder „bildungsfern". Bessere Bildungschancen fordern jetzt alle bürgerlichen Politiker, und gleichzeitig beschließen dieselben Abgeordneten, dass Kinder Anspruch auf 1,79 Euro im Monat für Schulmaterialien haben sollen. Aber auch Hochqualifizierte sind arbeitslos – Lohndrückerei und Erwerbslosigkeit sind mit Bildung allein nicht zu bekämpfen. Bürgerliche Demokraten sehen besorgt das „Auseinanderdriften der Gesell­schaft". Heribert Prantl, Leiter der Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, warnt zu Recht, dass eine „Demokratie, in der immer mehr Menschen am gesellschaftlichen Rand leben, nicht gut funk­tionieren kann." Er weiß auch, was sich ändern müsste: „Eine gute Sozialpolitik erschöpft sich nicht in der Fürsorge für die Armen, sondern zielt auf den Abbau der strukturellen Ursachen für deren Armut." (SZ 21.5.08). Und er fügt ein hilfloses „Eigentum verpflichtet" an.

Wir wissen, dass uns in der Eigentumsfrage kein Grundgesetz helfen kann. Auch wenn Grundgesetz-Artikel unterstützend im Kampf hinzugezogen werden können, kann die Be­seitigung der „strukturellen Ursachen" nur durch die Vergesellschaftung des großen Kapitals ge­schehen – letztlich eine Machtfrage. Wir wissen, dass wir uns nur selber aus dem Elend erlösen können, dass wir nicht den „Pfennig", sondern die ganze „Mark" brauchen: Nicht das Almosen, sondern das Eigentum an Produktionsmitteln. Auch wenn wir zurzeit nur Abwehrkämpfe füh­ren und um Mindestverbesserungen ringen, ist es unverzichtbar zur Entwicklung von Klassen­bewusstsein, die Klassen- und Eigentumsverhält­nisse dabei aufzuzeigen.

Ein Anzeichen für die wachsende Ausbeutung ist auch die wachsende Zahl der Millionäre:

826.000 Dollar-Millionäre leben in Deutschland; 3,5 % mehr als vor einem Jahr. Und 300 Familien besitzen ein Vermögen von 400 Mrd. Euro. Das ist die Kehrseite der Armut – sie leben auf unsre Kosten – um diesen Zusammenhang geht es. Die Handlanger des Kapitals denken derweil schon viel weiter: Sie nehmen uns Stück für Stück unsere demokratischen Rechte, bauen den Überwachungs- und Repressionsstaat aus, planen den Bundeswehreinsatz im Innern. Sie rechnen mit unserem Widerstand, bevor die Arbeiterklasse überhaupt sich ihrer Lage bewusst wird.


Anmerkung:
1 Das Kapital, Band I, Kapitel 23, S. 674, Berlin 1969
2 Dirk Hauer, zitiert nach E. Lieberam, S. 19, dessen Artikel insgesamt zum Thema empfohlen werden kann: Ekkehard Lieberam, Die Unterschichtdebatte, in Mehr Profite – mehr Armut, Prekarisierung und Klassenwiderspruch, Wuppertal 2007, S. 7–70



 
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