Im ersten Halbjahr des Jahres 2000 wurde es große Mode. Arbeiter, kleine und sich größer fühlende Angestellte trugen ihr Erspartes an die Börse, Tipps über Wachstumsmärkte, Geheimfavoriten, Spezialanwender und die angeblich neue Ökonomie machten die Runde. Telekom und Infineon elektrisieren die Massen, die Übernahme von Mannesmann wird zum nationalen Ereignis: Legt Vodafone noch drauf? Die Telekom bei 200 Euro, wie viel hast du heute verdient? Ein Depp, wer sich die Chance entgehen ließ, mit Aktien ein bischen Geld zu drucken. Spielverderber, wer anmerkte, ein ewiger Anstieg der Kurse sei wohl kaum denkbar. Und die Regierung behauptet, sie habe nun endlich die umfassende Lösung für die angeblich unbezahlbare Rente: Zwangssparen in Aktien verschafft Reichtum und Glückseligkeit im Alter!
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Ein Jahr später haben nicht wenige dieser Möchtegern-Glücksritter ordentlich Federn gelassen, reicher sind erstmal wieder nur die Banken... Anlässe genug, sich mit den Ereignissen näher zu befassen und zwar vor allem mit der Frage: Was hat das alles mit uns zu tun?
Ob sich das Ab des Börsenkurses zu einem Crash entwickeln wird oder das Auf zu einer veritablen Hausse verdichtet, ob sich eine solche Entwicklung auf die USA beschränken lässt oder auf andere Länder übergreift, ob ein Crash das Platzen einer „Spekulationsblase” mit Folgen in der Art eines Weltuntergangs oder eher einem kollektiven jämmerlich-grässlichen Aufstöhnen im Spielcasino gleicht – über all das lässt sich trefflich streiten. Irgendwie hängen ja – jedenfalls in einem anständigen imperialistischen Land – fast alle mit drin.
Der „echte” Volksfreund hält natürlich keine Aktie oder höchstens solche, die von sog. Ethik- oder Öko-Fonds empfohlen sind und dank Glaube, Hoffnung und Liebe für eine ethisch einwandfreie, ökologisch saubere Verwertung des Kapitals „garantieren”. Der Stammtisch-Kleinbürger dagegen streitet handfest über Halten oder Abstoßen, prahlt mit dem richtigen „Riecher” und „Händchen”, wenn „seine” Aktien steigen und ruft empört nach Verbraucherschutz, Gerichten, nach Zucht und Ordnung und dem starken Mann, wenn statt Hoffnung auf „Sofortrente”, Porsche, Edelpuff und Weltreise, wenn stattdessen im Angesicht der eigenen Ohnmacht das Geerbte, das Ersparte, das vor der Steuer Versteckte auf Nimmerwiedersehen „verDAXt” ist oder man es schwitzend vor der eigenen Ohnmacht im Dow Jones versickern sieht.
Für den Arbeiteraristokraten ist seine Belegschaftsaktie mehr als nur vorenthaltener Lohn; sie ist im Gegenteil die papiergewordene Bestätigung seiner Mit-Eigentümerschaft, seiner Mit-Bestimmung, seines Mit-Fühlens und Mit-Denkens. Seine Stimmung schwankt mit dem Börsenkurs. Zu wahrer Größe findet er dann, wenn er zur Sanierung des Kurses für Entlassungen eintreten muss – solange es nicht die eigene ist.
[file-periodicals#49]Die Großbourgeoisie hängt mit drin, z.B. bei den Banken: Nicht einmal so sehr, weil die ihren Kunden als Anlageberater im Genick sitzen, sondern weil sie – die Großbanken jedenfalls – die größten Aktienbesitzer der größten Aktiengesellschaften sind. Bei den Versicherungen: Die haben die schwere Bürde, die vielen kleinen Prämien, die sich zu Billionen zusammengeleppert haben, anzulegen, damit wiederum die Aktionäre der Versicherung strahlen. Und auch bei den Großkonzernen: Nicht nur dass sie gelegentlich den Belegschaften Aktien zu Vorzugskursen anbieten und den Kollegen so den Ritterschlag zum Selbst- und Mitausbeuter erteilen möchten. Da sammeln sich auch als sog. „liquide Mittel” oft Zig-Milliarden: RWE (=Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk) z.B. meldet über 60 Milliarden Mark, die keine Verwendung finden für den Bau neuer Kraftwerke etwa – für die gewöhnliche Ausbeutung also –, sondern in Aktien und anderen Wertpapieren angelegt sind. Selbst bei einer Sparbuchverzinsung bliebe dann noch über eine Milliarde als Zubrot für unseren armen Stromerzeuger. Bei alledem ist es eigentlich schon wieder verwunderlich, dass nicht einmal 20% der Haushalte in der BRD als Besitzer von Aktien ermittelt wurden – trotz der täglichen, fast stündlichen Beglückung mit Nachrichten über die Entwicklung der Börse, über Dow Jones und DAX, was ja immerhin ein öffentliches, fast amtliches Interesse suggeriert.
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Für die Kommunisten gibt es ein anderes Interesse, die Börse und ihre Bewegungen zu untersuchen. Da ist natürlich zuallererst die Notwendigkeit selbst zu studieren und zu begreifen, ob wir nach 1989 und alledem noch richtig liegen damit, dass die soziale Revolution des Proletariats, der Sozialismus, die nächste und unvermeidliche Etappe in der Entwicklung der Menschheit ist oder ob die alte Vettel Kapitalismus/Imperialismus vielleicht statt prämortaler Frischzellenkur doch den Weg zum ewigen Jungbrunnen gefunden hat. Da ist zum Weiteren - in enger Beziehung zu dem ersten Anliegen, da Erkenntnis die Polemik braucht - die Auseinandersetzung mit Ansichten, die die Börse als das Böse mystifizieren und dazu tendieren, die Spekulation unter Polizeikontrolle zu stellen oder mit Moral, Gebeten und - als „linke” Variante - mit echten Steuern bändigen zu wollen. Es sind die Ansichten von einem Kapitalismus mit einer über den Klassen stehenden Vernunft, an die sich die Handelnden gefälligst zu halten hätten, damit doch, bitte schön, den offensichtlichen Verwüstungen durch den Kapitalismus Einhalt geboten werde. Es wird die Hoffnung genährt, dass es einen anderen als den revolutionären Weg gäbe, dass man sich einrichten könne, wenn nur alle sich am „Gemeinwohl” orientieren. Zu diesen Ansichten für den „besseren” Kapitalismus – ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne, ein bisschen Ausbeutung, a bisserl Hausse – gesellen sich die „linken” Varianten. Sie stellen die Börse neben den Kapitalismus als Spielcasino, als Seifenblase. Die ökonomistische Kritik am mühe- und arbeitslosen Geldeinsacken der Kapitalisten und die moralische Kritik an der Verabsolutierung des Mammon stehen hier im Vordergrund. Wir dagegen streiten um die tatsächlichen ökonomischen Zusammenhänge und ihre politischen Folgen, um „Politik als konzentrierten Ausdruck der Ökonomik” verstehen zu können.
Um uns unserem Anliegen anzunähern, wollen wir uns zunächst einiger theoretischer Grundlagen versichern über fiktives Kapital und Börse. Um nicht über die „Spekulation zu spekulieren” und zu schwadronieren werden wir uns dann mit historischen und in diesem Sinn vergangenen und abgeschlossenen Vorgängen befassen. Nicht weil sich irgendetwas aus der Geschichte simpel und platt wiederholen würde, sondern weil man genauer hinsieht auf die Gegenwart, den Blick auf die bewegenden Kräfte schärft und Neues von Altem, Wesentliches von Vorübergehendem, von Sein und Schein besser unterscheiden lernt.
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Der komplette Artikel "Fiktives Kapital" aus der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ) #298 vom Mai 2001 erscheint mit freundlicher Genehmigung der Gruppe KAZ in vier Teilen auf www.secarts.org. Die nächsten 3 Teile erscheinen am 09.07.2008, am 13.07.2008 und am 19.07.2008. |
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