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Von Ivan

Kunst und Kultur

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Zirkus in Tjumen
Die Stadt Tjumen hat einen großen Kinosaal, eine Philharmonie, mehrere Museen, eine muntere Straßenkultur, mit schönen, ich nenne sie Eisspielplätzen und mit einem feststehenden Zirkus, einer sehr modernen Einrichtung. Vor fünf Jahren wurde das kreisrunde Gebäude im Zentrum der Stadt errichtet. In der Mitte der Manege liegt kein Stroh, kein stinkender Mist, sondern ein roter Teppich, auf dem Athleten, Dompteure und schöne Tänzerinnen ihre Künste darbieten. Wie primitiv ist doch bei uns in Deutschland die Zirkuskultur! Zirkus - das klingt nach "Zigeunern", nach Außenseitern. Die alten, rissigen, kalten Zelte mit den Bierbänken als Sitzgelegenheit sind keine guten Voraussetzungen für einen kulturellen Hochgenuss. Ganz anders in Russland. Es ist wohl üblich, dass jede Stadt ihren feststehenden Zirkus mit internationalen Darbietungen hat. Die Künstler leben nicht in Wohnwagen am Rande der Stadt, sondern sind Menschen, die sich durch nichts von der übrigen Bevölkerung unterscheiden. Welch ein Fortschritt gegenüber dem mittelalterlichen Zirkuswesen bei uns!

Die Philharmonie war weniger erbaulich. Eine biedere Romanze ohne Handlung und mit peinlichen Komödienelementen bei einer Spielzeit von fünfzig Minuten zeichnete enttäuschte Gesichter bei den Zuschauern im ausverkauften und gemütlichen Konzertsaal. Wie weit liegt diese Inszenierung hinter einem Puschkin und einem Tschaikowsky zurück? Hier wurde die Stadt wie eine Provinz behandelt, in Moskau hätte man es sich wohl (hoffentlich) nicht getraut. Aber, die oberen Herren der Stadt sehen und grüßen sich. Eine schwülstige Laudatio lässt die Veranstaltung auf eine Stunde anschwellen.

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© by © by Ivan [01.01.1970]

Alle Kulturveranstaltungen, die ich sehen durfte, waren ausverkauft. Auch die winterlichen und schönen Straßen locken die Menschen bei Minustemperaturen aus den Häusern. Hier fällt besonders die Kunst aus Eisskulpturen und buntem Licht auf, die dem Stadtzentrum eine einzigartig charakteristische Romantik verleiht. Ich vergesse bald die Hektik, das Gehupe auf den Straßen bei uns. Wie in den Bussen gibt es auch dort und in den Cafes stets nur leise Unterhaltungen.
Die Straßen werden nicht gesalzen, ein Segen für die Schuhe. Die Menschen haken sich gern zu zweit ein, um einander Halt zu geben. Dieser Winterurlaub in der Stadt, auch und gerade im Zentrum, ist pure Erholung für den gestressten Großstadtwessi.

Überlegungen zur ökonomischen Situation Russlands

Zunächst viel es mir schwer, nach der Konterrevolution in das Mutterland des Sozialismus zu reisen. Doch mich quälte immer wieder die Frage: Was ist aus dem Giganten Russland mit einer 40-fachen Fläche und einer doppelten Einwohnerzahl -gemessen an Deutschland- geworden?
Von allen Staaten der Sowjetunion war Russland stets der kräftigste Staat, seine Arbeiterbewegung hatte vor allem im damaligen Moskau und Petersburg unter Lenins Führung den Sozialismus erkämpft. Russland galt von den imperialistischen Staaten vor der Revolution jedoch als der rückständigste. Erst der Sozialismus hatte die Sowjetunion in technologischen Fragen an die Spitze der Entwicklung geworfen. In vielen Bereichen war sie weltführend, z.B. in der Atomenergie, Weltraumtechnologie, im Grunde in fast allen Wissenschaften. Nun ist es Russland im Rahmen seiner Kräfte und neuen Klassenverhältnisse beschieden, den Hauptteil dieses großen Erbes der Sowjetunion zu verwalten.

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der Oblast Tjumen mit den beiden Reisestationen Stadt Tjumen und Tobolsk
Lenins Sozialismustheorie stellt fest, dass der Monopolkapitalismus die Menschheit nah an den Sozialismus heranführt. Erst das Proletariat kann die Monopole zerschlagen und die sozialistische Planwirtschaft an die Stelle des Prinzips Profitmaximierung stellen. Doch in Russland, resp. Sowjetunion, hat der Sozialismus umgekehrt die Gesellschaft durch die Entwicklung der Produktivkräfte dicht an den Monopolkapitalismus herangeführt. So setzt sich die neue (Monopol)- bourgeoisie des Landes zu einem Teil aus Führungsleuten der ehemaligen Betriebsverwaltungen, des Staatsapparates und aus ökonomischen Nebensektoren zusammen1. So konnten sie eine in der Qualität vollständige Privatisierung der Produktionsmitte durchsetzen. Diese Form der Konterrevolution ist eben bei einer geschwächten Führung und einer geschwächten revolutionären Wachsamkeit der Bevölkerung durchaus möglich, zumal, und das scheint mir höchst wichtig, der weltrevolutionäre Gesamtprozess, v.a. in den imperialistischen Staaten, ins Stocken gerät. Um welche Monopole handelt es sich nun in Russland? Jeder wird es wissen, hauptsächlich sind es die Energiemonopole, die Russland auf dem internationalen Parkett eine gewisse ökonomische Stärke verleihen.

Und in diesen Tagen tat die russische Bourgeoisie das, was für einen kapitalistischen Staat nur natürlich ist; es verlangt für seine Dienstleistungen Weltmarktpreise. Ein Schrei geht um im Westen. Man zeigt sich empört. Ist dieses Vorgehen nicht ein Zeichen dafür, dass die russische Bourgeoisie seinen festen Platz im Gefüge neben den imperialistischen Staaten erst noch etablieren w i l l? Dieser Schritt ist noch längst nicht vollbracht, denn viele ökonomische Bereiche aus der Sowjetunion sind zusammengebrochen, da sie wohl nicht der Durchschnittsprofitrate entsprachen. Hier ist v.a. zu erwähnen, die Lebensmittelindustrie, die KFZ-Industrie, der gesamte Einzelhandel. Es wird für die russische Bourgeoisie schwierig, sich allein über den Energie- und Transportsektor sowie dem Maschinenbau zu behaupten. Zu tief sind alle imperialistischen Staaten in die Infrastruktur Russlands eingedrungen, v.a. die deutschen Monopole, mehr als alle anderen, das ist schon mit dem bloßen Auge sichtbar. Sollte Russland es nicht schaffen, seine Eigenständigkeit auszubauen und zu behaupten, wäre auch dieser Erfolg der Oktoberrevolution aufgehoben.

Die inneren Klassenverhältnisse sind geprägt durch eine desorientierte Arbeiterklasse, deren Bourgeoisie sich hauptsächlich aus ehemaligen Funktionsträgern zusammensetzt. Gewerkschaften existieren am Rande und sind wenig präsent. Die Liebe der Menschen zur Arbeit, ein Mentalitätszug aus dem Sozialismus, macht die Mitglieder der Arbeiterklasse zu leicht ausbeutbaren Objekten. Auch hier wird sich eine Gewerkschaftsbewegung erst noch finden müssen, als Grundlage für eine revolutionäre Bewegung.

Was mag der ein oder andere Arbeiter denken, wenn er an einem der mächtigen Lenindenkmäler vorbeispaziert?



Anmerkung:
1 Ich lehne den Namen Mafia ab, da er suggeriert, in Russland setze sich die Bourgeoisie - ganz anders als hier natürlich - nur aus kriminellen Elementen zusammen.


 
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