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Im August, spätestens im September beginnt für viele Jugendliche ein ganz neuer Lebensabschnitt. Ab jetzt sind sie Azubis - Auszubildende. Sie merken schon in den ersten Tagen, dass sie in der Firmenhierarchie ganz unten stehen und von ihren Vorgesetzten gleich doppelt abhängig sind: Sie wollen einen Beruf lernen und nach ihrer Ausbildung übernommen werden. Das nützen viele "Lehrherren" schamlos aus.

Wie häufig und wie sehr Berufsanfänger während ihrer Ausbildung leiden, zeigt ein Blick auf die Internet-Seite www.doktor-azubi.de. Das ist ein tolles Beratungsangebot der DGB-Gewerkschaften, auf der sich eine Unmenge von Hilferufen sammeln. Von Ausbeutung und Mobbing schreiben dort die Auszubildenden, von Verzweiflung und Überanstrengung. Lesenswert auch die seit 2006 vom DGB jährlich veröffentlichten Ausbildungsreporte. Ein Blick in diese Quellen zeigt jedem schnell, wie oft, auch 60 Jahre nach der Verkündung des Jugendarbeitsgesetzes im Deutschen Bundestag (im August 1960), immer noch in viel zu viel Betrieben nach dem Motto: "Lehrjahre sind keine Herrenjahre" verfahren wird. Aufrüttelnd aber auch, mit welchen werktäglichen Verstößen, verteilt über alle Branchen hinweg, wir beim Lesen konfrontiert werden.
Zählt das zur Ausbildung?

Am 29. 7. 2010, 13.03 Uhr stellte zum Beispiel Mirko folgende Frage an Dr. Azubi: "Hallo, ich erlerne den Beruf des Industriemechanikers und ich und ein paar andere Lehrlinge müssen regelmäßig (monatlich) Lackierkabinen, sprich also die Absaugung reinigen, d. h. alte staubige Filtermatten wechseln, den Staub absaugen und alles auskehren, das klingt vielleicht ganz harmlos, ist es aber nicht, ohne Schutzbrille, Mundschutz und Overall geht da gar nichts. Man steht in den Zwischenkammern bei der Absaugung, es ist also eine reine Drecksarbeit.

Mein Chef sagt, das gehört zur Ausbildung des Industriemechanikers und ist eine Wartung und Instandhaltung mechanischer Anlagen. Es ist aber nur reines Putzen. Trotz Schutzbrille hat man den Lackierstaub in den Augen und eigentlich bräuchten wir auch eine richtige Schutzmaske, sagt auch unser Lackierer und nicht nur so einen normalen Mundschutz.

Man schnaubt nur reinsten grauen Dreck. Normalerweise kam immer eine spezielle Firma für die Reinigung, aber mein Chef meint, dadurch spart die Firma sehr viel Geld. Aber doch nicht zur Gefährdung meiner Gesundheit. Kann man das als Ausbildungsinhalt zählen?"
Sei es, dass Auszubildende in Schichtbetrieben, zum Ausgleich von Personalmangel, zu Nachtschichten in der Produktion herangezogen werden, Azubis im kaufmännischen Bereich Toiletten putzen sollen oder Lackierer-Azubis mit krebserregendem Quarzsand hantieren müssen. Häufig beanstandet wird von den Azubis, dass sie einfach nichts lernen, ein Ausbilder nur selten vor Ort ist, es keine Ausbildungsstruktur gibt und sie schlicht als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden. Neben ausbildungsfremden Arbeiten, ausufernden Überstunden, zu wenig Urlaub und gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten wird auch über Mobbing und sexuelle Belästigung berichtet. Besonders aber im Hotel- und Gaststättengewerbe, in Bäckereien und Fleischereien und im Friseurhandwerk klagten Lehrlinge häufig über ausbildungsfremde Tätigkeiten und viele Überstunden. Je kleiner der Betrieb ist und je weniger Gewerkschaftsmitglieder dort arbeiten, desto mehr Verstöße gegen das Jugendarbeitschutzgesetz sind festzustellen.

Dort und vor allem in kleineren Dienstleistungsbetrieben sind Auszubildende besonders häufig auf sich allein gestellt und werden als reguläre Arbeitskräfte eingesetzt. Es verwundert daher nicht, wenn im aktuellen DGB-Ausbildungsreport festgestellt wird, dass jeder zehnte Lehrling schon einmal eine Ausbildung abgebrochen hat. Dabei sollte das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) junge Menschen doch gerade vor zu früher Ausbeutung, vor gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen, Gefahren am Arbeitsplatz und Überlastung schützen. Schon die erste Fassung des JArbSchG wurde nicht wirklich eingehalten und in der betrieblichen Praxis, gerade in Kleinbetrieben, immer weiter untergraben. Es kam nach Gewerkschaftsangaben zu bis zu einer Million Verstößen pro Jahr. Erst nach langem massivem Druck, besonders der Gewerkschaftsjugend, wurde im April 1976 das alte Gesetz schließlich vom novellierten JArbSchG mit den Stimmen aller Parteien abgelöst. Während der Ausbildungsplatzknappheit in der BRD der 80er Jahre machte das Un-Wort vom "Ausbildungsverhinderungsgesetz" die Runde. Die gesetzlichen Schutzregelungen wurden als "bürokratische Hemmnisse" diffamiert und zum Schuldigen für die Ausbildungsmisere ernannt. Auf extremen Druck von Arbeitgeberverbänden und Kammern verabschiedete daher 1984 die CDU/FDP-Koalition, gegen die Stimmen von Rot-Grün, eine erneute Novelle des JArbSchG. Damit wurde die Samstagsarbeit in einigen Ausbildungsberufen eingeführt, die Pausenräume für Jugendliche in Betrieben abgeschafft und ermöglicht, dass Azubis verpflichtet werden konnten, nach der Berufsschule noch in die Betriebe zu kommen. Ganz unangefochten blieb auch dieses Gesetz nicht.

Nun aber kommen neue, massive Angriffe seitens der schwarz/gelben Bundesregierung. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung heißt es unter dem Passus "Tourismus": "Ausbildungshemmnisse im Gastgewerbe werden durch ein flexibleres Jugendarbeitsschutzgesetz abgebaut". Ins gleiche Horn bläst der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) mit seinen jüngst veröffentlichten "Vorschlägen zum Bürokratieabbau". Darin findet sich auch eine Forderung zum JArbSchG. Jugendliche sollen demnach künftig länger arbeiten dürfen - zwischen 5 bis 23 Uhr statt wie bisher mit Ausnahmen zwischen 6 bis 20 Uhr. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Franz-Josef Möllenberg reagierte noch am gleichen Tag: "Es ist menschenverachtend, wenn der Gesundheitsschutz von Jugendlichen unter 18 Jahren als bürokratisches Hemmnis für den Arbeitsmarkt dargestellt wird. Wer fordert, dass 16-jährige Auszubildende bis 23 Uhr arbeiten oder ab fünf Uhr in der Backstube stehen sollen, der will dem Gastgewerbe oder dem Bäckerhandwerk nur weiter billige Arbeitskräfte länger zur Verfügung stellen. Es ist wirklichkeitsfremd zu meinen, dass zwischen 22 und 23 Uhr oder aber zwischen fünf und sechs Uhr morgens wichtige Ausbildungsinhalte vermittelt werden, ohne die sonst ein Ausbildungshemmnis entsteht". Und die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock sagte dazu: "Schutzvorschriften als ´Ausbildungshemmnisse´ zu erklären, ist eine nicht hinnehmbare Diffamierung des Jugendarbeitsschutzes, die wir scharf zurückweisen". Daher lasst uns zusammen mit der SDAJ und allen anderen fortschrittlichen Jugendorganisationen kommenden heißen Herbst auch um den Erhalt und die weitere soziale Ausgestaltung des Jugendarbeitsschutzgesetzes kämpfen!

 
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